Martin Fritz

Stichwort: Nihilismus

Zur geistigen Orientierung in der Welt gehört die Orientierung über die weltanschaulich-religiöse Lage der eigenen Gegenwart. Denn unser Denken, Fühlen und Handeln, auch unser Glauben oder Nicht-Glauben, unser Zweifeln und Hoffen vollziehen sich nicht im luftleeren Raum, sondern werden in irgendeiner Weise immer auch vom herrschenden „Zeitgeist“ geprägt, von den allgemeinen weltanschaulichen Tendenzen oder religiösen Optionen – und sei es auch durch entschiedene Abgrenzung von ihnen.

Dass die moderne Gegenwart zutiefst vom „Nihilismus“ bestimmt sei, war vor nicht allzu langer Zeit eine der geläufigsten Gesamtdiagnosen. Dabei fiel der Begriff oftmals in einem Atemzug mit „Atheismus“ und „Säkularismus“. Als Nihilismus – wörtlich in etwa: „Glaube an nichts“ oder auch „Verfallensein an das Nichts“ (von lat. nihil, nichts) – wird seit dem 19. Jahrhundert die Situation bezeichnet, in der alle Werte und Ideale ihre Gültigkeit eingebüßt haben, sodass dem Menschen zuletzt jeder Lebenssinn abhandenkommt. Was dem Menschsein über Jahrhunderte Bedeutung und Gewicht, was ihm Halt und Gehalt gegeben hat, scheint morsch, mehr noch: nichtig geworden zu sein.

Wann und wie kam es zu diesem bestürzenden Befund eines totalen Wert- und Sinnverlustes? Gilt er auch heute noch? Und was bedeutete dies für Theologie und Christentum?

Nihilismus: Chiffre für die große Geisteskrise

Ihre Hochphase hatte die Nihilismus-Diagnose Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1938 versteht Hermann Rauschning die nationalsozialistische Massendiktatur als Auswuchs jener umfassenden Wert- und Sinnerosion („Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich“, 1938). In den 1940er und 1950er Jahren wird der allgemein empfundene Glaubens- und Sinnverlust dann zum zentralen Motiv von Existenzialismus und Existenzphilosophie: bei Jean-Paul Sartre (z. B. „Das Sein und das Nichts“, 1943), Karl Jaspers („Der philosophische Glaube“, 1948), Albert Camus („Der Mensch in der Revolte“, 1951) und Martin Heidegger („Holzwege“, 1951).

Prominente Theologen beider Konfessionen begreifen daraufhin den Nihilismus als die große weltanschauliche „Gefahr unserer Zeit“1  und bemühen sich um dessen „Überwindung“2. Nach dem politischen, moralischen und geistigen Zusammenbruch wollen sie allen Zeitgenossen, die „im Strudel des Nihilismus“3  unterzugehen drohen, einen religiösen Rettungsring zuwerfen. Und mindestens noch für die 1960er Jahre trifft es wohl zu, dass sich die Philosophie und die Theologie in Deutschland insgesamt „im Schatten des Nihilismus“4  (bzw. der Nihilismus-Diagnose) bewegen.

Maßgebliche Denker jener Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg haben – bei allen Unterschieden in den Schlussfolgerungen – das mit besagtem Begriff angezeigte Krisenbewusstsein geteilt. Sie sahen ihre Zeit bzw. überhaupt die Epoche der Moderne und im Besonderen das „Dritte Reich“ dadurch bestimmt, dass sich in der Sphäre des Geistes ein Abgrund des Nichts aufgetan habe,nachdem alle tragenden Fundamente des Glaubens, Wertes und Sinnes zerbrochen seien. Trotz einer weit längeren, höchst vielstimmigen Vorgeschichte lässt sich diese einhellige Einschätzung auf einen epochalen Stichwortgeber zurückführen, der den Nihilismus-Befund erstmals klassisch formuliert und dem 20. Jahrhundert damit ein suggestives Deutungsmuster für die Tiefenproblematik der eigenen Gegenwart geliefert hat.5

Der Klassiker der Nihilismus-Diagnose

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) kreist in seinem Denken seit Mitte der 1880er Jahre um den „europäischen Nihilismus“, in dem er die „Gefahr der Gefahren“6  für das menschliche Leben erkennt. Er sieht diese Bedrohung als ein unausweichliches Resultat der Geistesgeschichte Europas an. Namentlich unter dem Einfluss des Christentums habe sich in der europäischen Kultur ein unbestechlicher Sinn für Wahrheit und Wahrhaftigkeit herausgebildet, um sich am Ende fatalerweise gegen die Grundlagen dieser Kultur selbst zu wenden. Denn der kritischen Wahrheitssuche enthüllen sich die vermeintlich objektiven moralischen Werte als scheinhafte Projektionen, die eigentlich subjektiven Interessen dienen. Das christliche Mitleidsideal etwa, so stellt es sich der schonungslosen Moralkritik Nietzsches dar, ist eigentlich nur ein Mittel, womit die Schwachen die Starken einzuhegen versuchen, um selbst über sie herrschen zu können. Wo wahrhaftige (Selbst-)Prüfung nach solchen hintergründigen Motiven fragt, erwacht überall der Verdacht, die hochgehaltenen Werte und Ideen könnten sich nur als Scheingebilde zur moralischen Verbrämung eigennütziger Motive entpuppen. Ihre unhinterfragte Gültigkeit und Orientierungskraft sind damit dahin. Die Kultivierung (selbst-)kritischer Wahrhaftigkeit sät überall den Keim des (Selbst-)Zweifels, und so führt sie nach Nietzsche zwangsläufig zur Entwertung aller Werte und zur Zersetzung aller Ideale, damit aber zur Drohung vollkommener Sinnlosigkeit.

Dieser Auflösungsvorgang in der Moral gleicht analogen Entwicklungen auf dem Feld der Religion. Dort hat die kritische Vernunft die Befürchtung aufgebracht, es könne sich bei „Gott“ lediglich um eine menschliche Illusion zwecks metaphysischer Lebensbewältigung handeln. Dieser Illusionsverdacht aber unterhöhlt den Glauben. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Nihilismus ist daher mit seiner berühmten Botschaft vom „Tode Gottes“ eng verknüpft: Ist Gott einmal von der Vernunft „getötet“, der Glaube an ihn fragwürdig geworden, so fehlt dieser Gott nicht nur als unbedingter Ursprung und letztes Ziel von Welt und Leben, sondern zugleich als Inbegriff und Garant eines objektiven Reiches von Werten und Idealen. Atheismus und Nihilismus gehen Hand in Hand.

Nietzsche hat aus der Konfrontation mit dem „unendlichen Nichts“ der entgötterten Welt eigenwillige Schlüsse gezogen, die hier außer Betracht bleiben können. Wichtig ist, dass er seine Nihilismus-Diagnose selbst nicht „aus der Luft gegriffen“, sondern damit philosophische Debatten des frühen 19. Jahrhunderts aufgegriffen und verdichtet hat.

Kants „Kopernikanische Wende“ der Philosophie

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wird der Begriff „Nihilismus“ als Indikator einer tiefgreifenden philosophischen Krise gebraucht, und zwar mit Bezugauf den kritischen Idealismus Immanuel Kants (1724 – 1804). Der revolutionäre Grundansatz von Kants Erkenntnistheorie lässt sich zusammenfassen wie folgt: Menschliche Erkenntnis entsteht, indem ein vorgegebenes „Material“, ein Chaos mannigfaltiger Sinneseindrücke, durch den menschlichen Erkenntnisapparat mit seinen spezifischen „Formen“ (Anschauungsformen und Kategorien) geordnet und in die Form eines Gegenstandes gebracht, als Gegenstand „konstruiert“ wird. Die Einsicht in die grundsätzliche Konstruktivität unserer Erkenntnis beinhaltet wiederum die Einsicht, dass dem menschlichen Subjekt niemals eine Erkenntnis der „Dinge an sich“ möglich ist, sondern lediglich eine Erkenntnis der Dinge, wie sie ihm vermöge seines Erkenntnisapparates erscheinen. Ein Beispiel zur Illustration: Rote Dinge „sind“ nicht rot, sondern erscheinen dem menschlichen Auge als rot – anderen Wesen mit anderen Wahrnehmungsapparaten – Eintagsfliegen, Eulen, Elefanten, Elfen oder Engeln – werden sie sich mutmaßlich anders darstellen.

Weil sich damit die Wirklichkeit in ihrem eigentlichen Sein der menschlichen Erkenntnis grundsätzlich entzieht, haben zeitgenössische Denker in dieser „Kopernikanischen Wende“ der Philosophie einen „Sturz der Realität“ (Friedrich Gottlieb Fichte) erblickt und sie mit dem Ausdruck „Nihilismus“ belegt. Denn wenn wir es in der Wissenschaft, aber auch in der Moral und überhaupt in der Kultur, wie spätere Generationen geschlussfolgert haben, und wenn wir es erst recht in der Religion immer nur mit subjektiv geformter, vom Subjekt konstruierter Wirklichkeit zu tun haben, dann haftet solchem „Konstruktivismus“ ein relativierendes und destabilisierendes Moment an: Nichts kann mehr im strengen Sinne „objektiv“ gelten, sondern löst sich auf in subjektive Meinungen von dem, was ist oder gelten soll. Alle vermeintlich objektive Erkenntnis trägt folglich in sich den Verdacht, bloß subjektive Erfindung zu sein, aufgrund beschränkter Möglichkeiten und womöglich aufgrund niederer Interessen. Und so verblasst die Welt (samt der Kulturwelt mit ihren Werten und Ideen sowie der Überwelt mit höchstem Wesen und Jenseitsaussichten) hinter einem Schleier letzten Nichtwissens. Sie verliert das Gewicht des Objektiv-Realen und gewinnt die nichtige Leichtigkeit des bloß subjektiv Gemeinten, vielleicht beliebig Phantasierten. Es ist diese Vernichtung aller objektiven Geltung, die fürderhin mit dem Ausdruck „Nihilismus“ bezeichnet wird, weil mit ihr am Ende auch die Annahme eines letzten Wertes und Sinnes von Welt und Leben zunichte zu werden droht.

Die jüngste Erneuerung des Befundes

Der Nihilismus ist der bedrohliche Schatten des Konstruktivismus, der mit Kants kritischer Wende der Philosophie in die europäische Geistesgeschichte Einzug gehalten hat und der bis heute als Grundzug europäischen Geistes angesehen werden kann. Ist folglich auch die Nihilismus-Problematik nach wie vor aktuell? Oder ist sie, wie der Rückgang einschlägiger Buchtitel etwa seit den 1980er Jahren signalisieren könnte, eine überwundene Erscheinung einer vergangenen Phase geistig-politischer Großkrisen?

Im Jahre 2019 hat der Philosoph Werner Schneiders (1932 – 2021), in Fachkreisen vornehmlich als Historiker der Aufklärungsphilosophie bekannt, in seinem letzten Buch die These von der „Globalisierung des Nihilismus“ aufgestellt und damit die Aktualität des Themas mit großem Nachdruck herausgestrichen. Er betrachtet die Gegenwart als ein „Zeitalter grassierenden Sinnverlustes“7, und folglich gilt ihm der Nihilismus mehr denn je als das weltanschauliche Schlüsselproblem.

Schneiders nennt zwei geistesgeschichtliche Entwicklungen, die für die allgemeine Ausbreitung des Nihilismus ursächlich sind (und die als Folgen des Konstruktivismus verstanden werden können): die Historisierung und die Naturalisierung des Welt- und Menschenbildes. Das historische Bewusstsein, das sich im 19. Jahrhundert endgültig durchsetzt, dechiffriert alle Wert- und Sinnzuschreibungen in ihrer Abhängigkeit vom jeweiligen historisch-kulturellen Kontext – aus ihrer vermeintlich objektiv-absoluten wird eine historisch relative Geltung. Und die Konjunktur des Naturalismus im 19. Jahrhundert tilgt überhaupt jede ideale Geltung: Wer die Wirklichkeit insgesamt und wer sich selbst wesentlich als eine Komplexion von physikalischen und biochemischen Prozessen ansieht, der muss alle Annahmen geistigen Seins, einschließlich der Annahme von emphatischem Sinn, als Selbsttäuschungen des Menschen zur Steigerung seines Wohlbefindens und / oder seiner Überlebenschancen ansehen. Die Folge: „Der Mensch begreift sich heute immer öfter als ein gottverlassenes Wesen in einer eigentlich belanglosen Ecke eines im Grunde sinnlosen Universums: ein Nichts in einem nichtigen Geschehen“ (106).

Der Mensch als sinnbedürftiges Wesen

Schneiders Nihilismus-Diagnose erneuert die einschlägigen Beschreibungen aus dem Existenzialismus des 20. Jahrhunderts. Ebenso wenig wie andere Deutungen der geistigen Lage kann sie einen empirischen Beweis für ihre Richtigkeit erbringen. Allerdings bietet Schneiders eine gewichtige philosophische Begründung, die seiner Zeitansage einiges an Plausibilität verleiht. Er bewegt sich dabei in großer sachlicher Übereinstimmung mit der Sinnphilosophie des Theologen Paul Tillich (1886 – 1965), der sich bereits in den 1920er Jahren, unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der allgemeinen Nietzsche-Faszination, mit dem modernen Sinnschwund befasst hat.8

Der Mensch ist ein Wesen, das durchweg auf Sinnerfüllung aus ist. Jeder Mensch will in seinem Leben immer wieder und insgesamt Sinn erfahren. Diese unhintergehbare Anlage birgt aber nicht nur die Gefahr einzelner Enttäuschungen – manch angestrebter Sinn erfüllt sich nicht oder erweist sich als Unsinn –, sondern die Möglichkeit prinzipieller Enttäuschung und Verzweiflung. Der Grund dafür liegt darin, dass jede einzelne Sinnerfahrung notwendig einen letzten Sinn, dass sie „Sinn überhaupt“ voraussetzt. Sie hängt gleichsam in der Luft, wenn sie nicht auf der (heimlichen oder offenen) Prämisse aufruht, dass das Ganze der Wirklichkeit sinnhaft, von einem „unhinterfragbaren“ (14) Sinn „getragen“ ist. Anders gesagt: Jede menschlich-subjektive Sinnstiftung oder Sinnsetzungschöpft ihre Sinnhaftigkeit nicht aus sich selbst, sondern aus der Quelle eines umfassenden „metaphysischen Sinns“ (71), der allen endlichen Sinn zugleich transzendiert und fundiert.

Der „sinnlogische“ Überschritt vom bedingten Sinn zu dem darin notwendig in Anspruch genommenen „absoluten Sinn“ (65), der Quelle von Sinnhaftigkeit überhaupt, ist der entscheidende Schritt, um die daraus abgeleitete Gegenwartsdeutung nachzuvollziehen. Ihr zufolge ist jener „schweigende Glaube an den unbedingten Sinn“ (Tillich)9, den jede Sinnerfahrung voraussetzt, in der Moderne brüchig geworden. Dies aber muss unmittelbar auf das alltägliche Sinnerleben zurückschlagen: Es wird sich selbst fragwürdig und zweifelhaft. Das heißt aber nicht, dass überall ein totaler Sinnverlust stattgefunden habe. Normalerweise widmen sich die Leute trotzdem jeden Morgen neu ihrem „Sinnalltag“. Die radikal-nihilistische Infragestellung oder Leugnung eines jeden Sinnes hält auf die Dauer kein Mensch aus.

Der Sinnschwund äußert sich subtiler. Die Angewiesenheit der menschlichen Sinnvollzüge auf einen transzendenten Sinngrund ist eine Bedürftigkeit, die aufgrund besagter Transzendenz niemals endgültig erfüllt werden kann – der transzendente Sinn kann nur geglaubt, nicht gewusst werden. Aufgrund der unerlässlichen Fundierungsfunktion des unbedingten Sinnes für alle Sinnvollzüge kann das Bedürfnis aber auch nicht völlig unerfüllt bleiben. Irgendwie wird die Sinnhaftigkeit des Ganzen vom Menschen daher in einem stillschweigenden Glauben immer wieder vorausgesetzt.

Indes, dieser latente Sinnglaube ist in sich instabil. Sofern er nicht in einem offenen Transzendenzglauben ausdrücklich wird und sich damit religiös stabilisiert, enthält er eine latente Fragwürdigkeit und Unsicherheit. Er kann dem Menschen daher abhandenkommen. Vielen geht die Fragwürdigkeit des Sinnglaubens an der Erfahrung des Leidens auf: Kann in einer solchen Welt der ungezählten Schmerzen und Sinnabbrüche ein letzter Sinn herrschen?

Aber die Sinnkrise selbst kann ebenfalls latent bleiben und zunächst zur unbewussten oder halbbewussten „Flucht vor dem Leerlauf des eigenen Lebens“ (95) treiben, etwa in die oberflächlichen Erfüllungserlebnisse und Zerstreuungsangebote der Freizeitkultur oder die Bedeutungstiefe suggerierenden Angebote des Esoterik-Markts. So stürzt beim Erwachen des „Sinnlosigkeitsverdachts“ (91) das Sinnleben selten gänzlich in sich zusammen, um in nihilistische Totaldepression zu verfallen. Eher ist mit einer schleichenden Aushöhlung des Sinnerlebens zu rechnen, mit dem Platzgreifen einer „inneren Unerfülltheit“ (32).

Die Religion: Lösung oder Opfer des Nihilismus

Die empirische Unaufweisbarkeit bei gleichzeitiger Unverzichtbarkeit des letzten Sinnes zwingt den modernen Menschen in ein labiles Schweben zwischen latentem Sinnglauben und latentem Sinnzweifel, so lässt sich der Kerngedanke der Tillich-Schneiders’schen Nihilismus-Theorie zusammenfassen. Folglich lässt sich dieses Schweben in zwei Richtungen stillstellen: einerseits – bei wenigen – in Gestalt eines ausdrücklichen Nihilismus, anderseits – bei nicht ganz so wenigen – in Gestalt eines religiösen (Letztsinn-)Glaubens. Denn wer auf einen transzendenten Gott vertraut, baut damit auf den Garanten unbedingten Sinns.10  Und wem umgekehrt der Gottesglaube verlorengeht, der verliert damit auch den festen Glauben an den „Grundsinn des Seins“ (101). Darum führt die moderne Konjunktur des Atheismus das Zeitalter des Nihilismus herauf. Ist also die Religion, „die uralte Gegenbewegung zum Nihilismus“ (112), die Lösung des Problems? Sie ist es jedenfalls nicht im Sinne einer sicheren Garantie.Auch die religiöse „Sinnstabilisierung“ (68) ist nämlich nicht gegen die Anfechtung des Sinnzweifels gefeit:

„Auch die Religion ist keine feste Burg“ (112). Denn der Nihilismus „haust sogar im Herzen der Religion. Jede Religion hat bisher den Keim ihres Verderbens in sich getragen, der Zweifel nagt immer auch am eigenen Glauben. Kurz, der Nihilismus ist wahrscheinlich auch durch Religion nicht auszurotten, jedenfalls nicht durch irgendeinen salto mortale“ (113).

Die Religion neigt dazu, den Abgrund der Sinnlosigkeit mit dem Postulat eines transzendenten Sinngaranten überspringen zu wollen, meist in Form der Behauptung göttlicher Offenbarung.11  Die Behauptung einer Offenbarung letzten Sinnes soll gegen die skeptische Anfechtung immunisieren – aber als menschliche Behauptung muss sie früher oder später selbst dem Zweifel an der eigenen Legitimität und Wahrheit verfallen. Ist im Menschen einmal die kritische Vernunft erwacht, ist sie zu stark, um sie durch religiöse oder theologische Machtsprüche zum Schweigen bringen zu können. Kein Dogma, keine kirchliche oder theologische Autorität, auch keine innere Eingebung ist in der Lage, zu einer absoluten, unanfechtbaren Gottes- und Sinngewissheit zu führen.

Gerade die dezisionistische, d. h. willkürlich-entscheidungshafte Gewaltsamkeit konfessorischer Sinnfixierungsversuche verrät die große Macht des Zweifels, die damit überwunden werden soll. Dies gilt erst recht bei den „militanten Gläubigen“, die als „fanatische Antinihilisten“ auftreten, deren Fanatismus sich laut Schneiders aber leicht als „nur schlecht überdeckter Zweifel“ und „verzweifeltes Glaubenwollen“ dechiffrieren lässt – und damit als „Unglaube“ (102).12  Und auch alle fromme Polemik gegen den modernen „Zeitgeist“, der das radikale Wahrheitsgewissen und die große Skepsis aufgebracht hat und seitdem unüberhörbar mit sich führt, ist nur ein Symptom, keine Lösung. Sie wird den Zweifel nicht dauerhaft aus den Köpfen und Herzen vertreiben.

Fazit

Nachdem einige Schlaglichter auf die Geschichte des Nihilismus-Befundes geworfen und anhand zweier verwandter Konzeptionen die Grundzüge einer philosophischen Nihilismus-Theorie nachgezeichnet wurden, stellt sich zum Schluss noch einmal die Frage nach der aktuellen Triftigkeit sowie nach den theologischen Konsequenzen des Befundes. Dass die Frage nach dem letzten Sinn von Welt und Leben auch heute Menschen immer wieder bedrängt und dass sie manche gar zur Verzweiflung treibt, wird niemand leugnen. Ob diese nihilistische Bedrängnis als Schlüssel zum Verständnis der geistigen Signatur unserer Zeit gelten kann (und dies womöglich global), ist eine andere, schwierige Frage. Man kann sie kaum umstandslos bejahen, aber auch nicht einfachhin verneinen. Es mag hier daher genügen, jene Bedrängnis zu den geistigen Grundproblemen des modernen Menschen zu zählen, zumindest in Europa bzw. in der westlichen Welt.

Wie deutlich geworden ist, sind auch Christentum und Theologie vom Nihilismus betroffen. Aus den angesprochenen Gründen gewährt keine Religion dessen grundsätzliche Überwindung, weil sie selbst nicht über dem Zweifel am Sinn steht. In dem Maße, wie sie Anteil am kritischen Geist der Moderne hat, trägt jede Religion in sich den Illusionsverdacht gegen sich selbst. Glauben heißt heute: mit dem und gegen den Zweifel glauben.13 

Und doch ist die Frage nach dem letzten Sinn, die jeden Menschen im Innersten und Tiefsten angeht, zweifellos ein Kernthema der Religion. Die Religion, auch die christliche, kann den unbedingten Sinn nicht garantieren. Aber sie kann ihn in ihren Mythen, Riten und Symbolen zur Darstellung bringen, auf ihn hindeuten. Dass der solchermaßen vergegenwärtigte göttliche Sinn tatsächlich das tagtägliche Sinnleben erfüllt und bis zum Ende trägt, diese Gnade kann auch jeder und jede Sinngläubige für sich und andere nur erhoffen.

Literatur

Fritz, Martin (2017): Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie, Habil. Neuendettelsau 2017 (Publikation in Vorbereitung: Berlin / Boston 2023).

Fritz, Martin (2021): Christlicher Fundamentalismus, in: ZRW 84/4, 309 – 318.

Großheim, Michael (2003): Art. Nihilismus, in: RGG4 6, 320 – 322.

Müller-Lauter, Wolfgang (1984): Art. Nihilismus, in: HWPh 6, 846 – 853.

Riedel, Manfred (1978): Art. Nihilismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe 4, 371 – 411.

Schneiders, Werner (2019): Die Globalisierung des Nihilismus, Freiburg i. Br. / München.

Strube, Claudius (1994): Art. Nihilismus, in: TRE 24, 524 – 535.

Thielicke, Helmut (1950): Der Nihilismus. Entstehung, Wesen, Überwindung, Tübingen.

Tillich, Paul (1987): Religionsphilosophie (1925), in: ders.: Hauptwerke, Bd. 4: Religionsphilosophische Schriften, hg. von John Clayton, Berlin / New York, 117 – 170.

Tillich, Paul (1990): Kirche und Kultur (1924), in: ders.: Hauptwerke, Bd. 2: Kulturphilosophische Schriften, hg. von Michael Palmer, Berlin / New York, 101 – 114, 104.

Tillich, Paul (1992): Rechtfertigung und Zweifel (1924), in: ders.: Hauptwerke, Bd. 6: Theologische Schriften, hg. von Gert Hummel, Berlin / New York, 83
 

Anmerkungen

1  Vgl. Heinrich Fries: Nihilismus. Die Gefahr unserer Zeit, Stuttgart 1949; Wilhelm Stählin: Nihilismus: Gefahr und Verheißung, Düsseldorf 1946.

2  Vgl. Helmut Thielicke: Der Nihilismus. Entstehung, Wesen, Überwindung, Tübingen 1950.

 Vgl. Walter Bröcker: Im Strudel des Nihilismus, Kiel 1951.

 Vgl. Wilhelm Weischedel: Philosophische Theologie im Schatten des Nihilismus, in: EvTh 22 (1962), 233 – 249; ferner Jörg Salaquarda (Hg.): Philosophische Theologie im Schatten des Nihilismus, Berlin 1971; außerdem die Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag: Denken im Schatten des Nihilismus, Darmstadt 1975.

5  Vgl. zur Begriffsgeschichte im Einzelnen Großheim 2003, Strube 1994, Müller-Lauter 1984, Riedel 1978. Der Ausdruck „Nihilismus“ wird im Laufe seiner Geschichte nicht nur zur Bestimmung einer Zeitsignatur gebraucht, sondern auch zur kritischen Kennzeichnung philosophischer oder politischer Positionen, teils auch zur Selbstbezeichnung der eigenen revolutionären Weltanschauung. In diesem Artikel liegt das Augenmerk ganz auf der zeitdiagnostischen Begriffsverwendung.

6  Zit. nach Strube 1994, 526.

 Schneiders 2019, 69. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich im Folgenden auf dieses Buch.

8  Vgl. dazu Fritz 2017, 31 – 113 (dort auch weitere Literatur).

9  Tillich 1990, 104.

10  Paul Tillich hat diesen Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, indem er in seiner Religionsphilosophie (1925) die Vorstellung „Gott“ als zentrales Symbol für den unbedingten Sinn gefasst hat.

11  Paul Tillich hat Ähnliches in seiner Theorie der dämonisierten Religion beschrieben. Siehe dazu Fritz 2017, 96 – 109.

12  Vgl. dazu Fritz 2021.

13  Dazu klassisch Tillich 1992.