Laura Illig und Kathrin Kaufmann

„Sektenkinder“

Wenn das Leben in einer destruktiven Gruppierung beginnt

Im folgenden Aufsatz fassen die beiden Autorinnen Ergebnisse ihrer Masterarbeit zusammen (Illig / Kaufmann 2018). Neben den ausführlicher dargestellten Studienergebnissen werden darin Handlungsempfehlungen für helfende Professionen formuliert. Die Arbeit wurde 2019 mit dem Förderpreis des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit und des Fachbereichstags Soziale Arbeit für herausragende Abschlussarbeiten ausgezeichnet. Die ausgewerteten Interviews ergaben unter anderem, dass betroffene „Sektenkinder“ vor allem Literatur von anderen Ausgestiegenen als hilfreich empfanden. Diese Einsicht und der Wunsch, die Erkenntnisse möglichst vielen Betroffenen, Angehörigen, professionellen HelferInnen und anderen Interessierten zugänglich zu machen, führten schließlich zu einer Buchpublikation der Verfasserinnen zusammen mit Johannes Jungbauer. Sie erschien im Balance-Verlag Köln unter dem Titel „Sektenkinder. Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg“ (2021). Der religionswissenschaftlich ungebräuchliche Begriff „Sekte“ wird hier als Selbstbeschreibung der Betroffenen für die von ihnen verlassene Gruppe verwendet. Zur Terminologie vgl. das Stichwort „Sekte“ in diesem Heft, 59 – 65. Als weiterführende Lektüre empfehlenswert: Amanda van Eck Duymaer van Twist: Perfect Children. Growing Up on the Religious Fringe, Oxford 2015.

Von einer Forschungsidee zu einer Grundlagenstudie

Im Rahmen unseres Masterstudiums der klinisch-therapeutischen Sozialen Arbeit machten wir es uns zum Ziel, ein Forschungsprojekt durchzuführen, welches einen bisher wenig beleuchteten Bereich der Sozialen Arbeit fokussieren und neue Erkenntnisse für helfende Professionen generieren sollte. Im Rahmen diesbezüglicher Recherchen stießen wir auf das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit im weltanschaulichen Kontext. Bei einem weiteren Blick auf die Versorgungsstruktur wurde deutlich, dass es innerhalb Deutschlands sowohl verschiedene Beratungsstellen für Weltanschauungsfragen als auch für AussteigerInnen aus destruktiven Gruppierungen gibt. Jedoch existierte zu diesem Zeitpunkt keine Forschungsarbeit, die das Aufwachsen von Kindern in sogenannten Sekten näher in den Blick nahm. Wir stießen somit auf eine Art „Forschungsnische“.

Als angehende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen stellte sich für uns die Frage, ob und wie sich das Aufwachsen in einer destruktiven Gruppierung auf den weiteren Lebensweg von Betroffenen auswirkt und ob Hineingeborene möglicherweise einen besonderen Hilfebedarf aufweisen, der bis dato im deutschsprachigen Raum nicht wissenschaftlich beleuchtet worden war und für den es keine wissenschaftlich erarbeiteten Konzepte gab. Der Fokus unserer Studie lag somit auf der Extrahierung der Erfahrungen von Menschen, die in destruktive Gruppierungen hineingeboren und in diesen aufgewachsen waren. Davon ausgehend wollten wir Empfehlungen für die Soziale Arbeit, Psychotherapie und andere helfende Professionen aussprechen.

Mittels Kontaktaufnahme zu verschiedenen ExpertInnen im weltanschaulichen Kontext erhielten wir die Einladung, unser Forschungsvorhaben im Sommer 2017 auf einer internationalen Konferenz der International Cultic Studies Association (ICSA) in Bordeaux vor Fachpublikum zu präsentieren. Wir vernetzten uns im weiteren Verlauf mit PsychologInnen und Beratungsstellen, die mit „Sekten“aussteigerInnen zusammenarbeiten und akquirierten auf diese Weise TeilnehmerInnen für unsere qualitative Interviewstudie. Die Akquise gestalteten wir bewusst offen. So fokussierten wir vorab keine spezifischen Gruppierungen, die wir untersuchen wollten. Vielmehr war es das Ziel, Personen zu interviewen, die sich selbst als „Sektenkinder“ definierten und ihre Mitgliedschaft in der jeweiligen Gruppe beendet hatten.

Entgegen unseren Erwartungen erhielten wir mehr Angebote, sich interviewen zu lassen, als wir im Rahmen unseres studienintegrierten Forschungsprojekts bearbeiten konnten. Letztendlich interviewten wir insgesamt 19 ausgestiegene „Sektenkinder“ zwischen 21 und 59 Jahren, welche in ihrer Vergangenheit den folgenden neun Gruppierungen angehört hatten: Jehovas Zeugen, Moon-Bewegung, Organische Christus-Generation (OCG), Neuapostolische Kirche2 sowie einige esoterische und christliche Kleingruppen. Da wir auf keine früheren Forschungsergebnisse zurückgreifen konnten, führten wir eine Grundlagenstudie durch, die ein solides Fundament für weitere Studien legen sollte. Zur Anwendung kam dabei ein breit gefächerter und offen gestellter Fragebogen, welcher Erlebnisse und Beziehungsqualitäten in Kindheit, Jugend sowie im Erwachsenenalter und der Zeit während und nach dem Ausstieg fokussierte.

Im Rahmen dessen standen folgende Leitfragen im Mittelpunkt:

  • Wie gestalten sich Kindheiten in einer sogenannten Sekte?
  • Beeinflusst eine „Sekten“kindheit die persönliche Entwicklung und den weiteren Lebensweg der Betroffenen?
  • Wie erleben „Sektenkinder“ den Ausstieg oder Ausschluss?
  • Besteht ein spezifischer Hilfebedarf für „Sektenkinder“ nach dem Ausstieg oder Ausschluss?

Im Anschluss an die Interviews wurden 15 der aufgezeichneten Gespräche verschriftlicht und inhaltsanalytisch nach Mayring (2010) ausgewertet. Die Studie ist, wie die Mehrzahl qualitativer Studien, nicht repräsentativ. Vielmehr ermöglicht sie, tiefergehend in die individuelle Erfahrungswelt der Interviewten hineinzublicken. Die wichtigsten Ergebnisse werden im Folgenden kurz dargestellt.

Verschiedene Gruppierungen – ähnliche Erfahrungen

Obwohl die Interviewten ganz unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften angehört hatten, ergab sich aus ihren Antworten, dass sie ihre Erfahrungen in wichtigen Punkten wie beispielsweise Mitgliederwerbung, Bedeutung von Hauptglaubenssätzen, Gefühls- und Gedankenkontrolle von Mitgliedern sowie Umgang mit (ehemaligen) Mitgliedern sehr ähnlich beschrieben. So nannten alle durch uns befragten „Sektenkinder“ gruppenübergreifend ein vorherrschendes dichotomes Weltbild und ein „Schwarz-Weiß-Denken“. Statt einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Pluralität erlebten die Interviewten während ihrer Mitgliedschaft eine strikte Simplifizierung der Welt.

„Ich musste nie lernen abzuwägen, ob etwas richtig oder falsch war. Das war relativ klar definiert, ich musste es nur nachlesen oder abrufen. Oder mir von jemandem anhören, was richtig oder falsch ist. Es war eine Welt des Schwarz-Weiß-Denkens, es gab keine Graustufen. Wir wurden nicht zu eigenständig denkenden Menschen erzogen.“ (Mann, 38 Jahre; Illig / Kaufmann 2018, die weiteren Zitate der StudienteilnehmerInnen ebd.)

Darüber hinaus stellte sich der Glaube an die Endzeitlehre als eine Gemeinsamkeit vieler destruktiver Gemeinschaften heraus. Sie umfasst die Annahme, dass die jeweilige Gruppe als einzige zu den auserwählten Überlebenden zählt, während der restlichen Menschheit die vollständige Vernichtung in einem nahenden Weltuntergang droht. Infolgedessen wird „Sektenkindern“ häufig bereits ab dem Kleinkindalter die Verantwortung auferlegt, die Glaubenslehren ihrer Gruppierung zu verbreiten und anderen Menschen auf diese Weise das Leben zu retten. Ferner müssen sie dieser Aufgabe nachkommen, um z. B. keine „Blutschuld“ auf sich zu laden und im bevorstehenden Weltuntergang nicht den eigenen Tod fürchten zu müssen. Infolge dieser Gegebenheiten nahm sich der Großteil der Interviewten seit ihrer frühen Kindheit als akut belastet wahr.

„Wir waren ja kurz vor’m Weltuntergang und wir müssen uns ja so und so verhalten, damit wir die ganze Welt retten. Das war alles so schwer, der Stoff da. Da gehen so kleine Kinderschultern drunter ein. Dann trägt das Kind die Last der Welt.“ (Frau, 38 Jahre)

Darüber hinaus beschrieben sämtliche durch uns interviewte „Sektenkinder“ einen Eingriff in ihre Privat- und Intimsphäre. So schilderten sie, dass unter anderem infolge des strikten Regelwerks der sogenannten Sekte und der damit verbundenen strengen strukturellen Organisation des Alltags jegliche individuelle Entwicklungsmöglichkeit und das Ausleben von eigenen Interessen bereits im Keim erstickt worden seien. Verstärkt wurde dies in allen neun Gruppierungen zusätzlich durch den Umgang mit nicht regelkonformen Verhaltensweisen. Hier griff man auf Sanktionen wie öffentliche Demütigung, Androhung und Verwendung von physischer und psychischer Gewalt, soziale Ausgrenzung und Isolation zurück, um die Betroffenen einzuschüchtern. Ferner stellte sich der „soziale Tod“ (engl. shunning), der Ausschluss aus der Gruppierung und die anschließende soziale Ächtung durch die Gemeinschaft, Freunde und Familie, als extreme Strafe dar. Darüber hinaus beschrieben alle StudienteilnehmerInnen eine Implementierung von Schuld-, Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen durch die destruktiven Gruppierungen. Infolge dieser Gegebenheiten fühlten sie sich zu absolutem Gehorsam verpflichtet.

„Gefangenschaft. Unfreiheit, das war eigentlich ein permanentes Gefühl, weil ich, seit ich Jugendlicher war und meinen eigenen Weg gesucht habe, immer Schwierigkeiten mit der Gemeinschaft oder deren Maßstäben hatte. Immer wenn ich ein bisschen von der Linie abgewichen bin, habe ich entsprechend Ärger bekommen und es wurde mit mir gesprochen, dass das so nicht geht und dass ich an mir arbeiten muss, dass ich besser werden muss. Das hat mich dann noch mehr dieses Gefühl fühlen lassen nicht genug zu sein, anders zu sein, gefangen zu sein, nicht frei zu sein.“ (Mann, 37 Jahre)

Weitergehend bildete sich ab, dass in allen neun Gruppierungen ein erheblicher Einfluss auf die Familiendynamiken ausgeübt wurde. So werde Eltern innerhalb destruktiver Gruppierungen häufig vermittelt, dass es ihre Aufgabe sei, ihre Kinder ausschließlich auf ihrem Weg zu einem „höheren Ziel“ zu unterstützen, während anderweitige elterliche Zuwendung und Fürsorge als überflüssig oder sogar als schädlich angesehen werden (Meredith 2021).

Infolgedessen schilderte uns ein Großteil der Interviewten eine distanzierte Eltern-Kind-Beziehung, in welcher ausschließlich dem jeweiligen Glauben und den damit verbundenen Regeln höchste Priorität eingeräumt wurde und elterliche Zuneigung und Zärtlichkeit nachrangig bis nicht existent waren. 14 der 15 Befragten schrieben, einen Mangel an Liebe und Nähe von ihren primären Bezugspersonen erfahren zu haben, wodurch ihnen die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse nach Bindung, Beziehung, Anerkennung und Sicherheit weitestgehend verwehrt blieb und sich wichtige und wegweisende Attribute für eine gesunde kindliche Entwicklung wie Urvertrauen, Selbstwert und Selbstbewusstsein nicht oder nicht ausreichend entwickeln konnten.

„Das Verhältnis zu meinen Eltern war kühl und lieblos. Ich habe sie nie wirklich als meine Eltern angesehen, sondern einfach nur als diejenigen, die mich gefüttert und mir ein Dach über dem Kopf geboten haben. Denn das, was ich von meinen Eltern wollte, habe ich nie bekommen. Ich wollte immer, dass meine Mutter mich auf den Arm nimmt oder dass mein Vater mich mal auf den Arm nimmt oder auch, dass er irgendwie sagt, dass er mich lieb hat. Ich hatte immer das Gefühl, als wäre ich in einer Familie, in der ich einfach nur aufwachsen muss. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass meine Eltern mich wirklich lieben und für mich da sind.“ (Frau, 21 Jahre)

Ferner zeigte sich im Rahmen der Studie, dass die jeweilige Gruppe einen großen Einfluss auf die Erziehung der „Sektenkinder“ nahm. Einige Interviewte gaben an, keinen merklichen Unterschied zwischen ihren Eltern und anderen Mitgliedern wahrgenommen zu haben und durch die Gruppe erzogen worden zu sein. Innerhalb sogenannter Sekten werden Eltern häufig durch die zugrunde liegenden Glaubenslehren subtil dazu aufgefordert, die Elternrolle und die damit einhergehende Erziehung an die Gemeinschaft zu übertragen (Kaufmann et al. 2021). „Auf diese Weise werden die Grenzen zwischen den einzelnen Familien und der jeweiligen Gruppierung aufgehoben, sodass Sektenkindern kein innerfamiliärer Schutzraum zuteilwird. Stattdessen ist es sogenannten Sekten bereits von frühester Kindheit an möglich in die Entwicklung der Kinder einzugreifen und diese in sektenkonforme Bahnen zu lenken“ (Illig / Kaufmann 2020, 293).

Infolge der Erziehung durch die Gemeinschaft und der durch das Regelkorsett vorgegebenen Strukturierung des Alltags verbrachten die befragten „Sektenkinder“ von Beginn ihres Lebens an und teilweise über Jahrzehnte hinweg mehrere Tage pro Woche mit den anderen Gruppenmitgliedern. Verstärkt durch die strikte Abgrenzung zur Außenwelt wuchsen sie mit diesen zu einer vermeintlich haltgebenden „Glaubensfamilie“ zusammen. Gleichzeitig erwuchs bei vielen Befragten die Angst davor, von anderen Mitgliedern in Bezug auf die Einhaltung der vorgegebenen Regeln geprüft und bei einem diesbezüglichen Verstoß an die Gruppe verraten zu werden. Daraus resultierend berichteten einige Interviewte von einem unterschwelligen und anhaltenden Misstrauen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern.

Neben dem Misstrauen der einzelnen Gruppenmitglieder untereinander beschrieben die Interviewten, auch außerhalb der Gruppierungen keine oder lediglich sehr distanzierte und oberflächliche Freundschaften gepflegt zu haben, schließlich werden Freundschaften mit Außenstehenden in solchen Gruppierungen in der Regel als eine Gefahr für den eigenen Glauben und somit auch für das eigene ewige Leben oder Seelenheil dargestellt. Darüber hinaus wurde dem Großteil der Befragten vermittelt, dass Freundschaften zu Andersgläubigen nicht lohnend seien, da diesen in dem nahenden Weltuntergang die Vernichtung drohe.

„Meine Mutter hat mich gefragt, ob ich meinem Schulfreund schon gepredigt hätte. Das hatte ich natürlich nicht getan. Ich habe dann gesagt: Das könnte ich ja mal machen. Zwei, drei Wochen später habe ich das tatsächlich gemacht. Hab ihn dann angesprochen auf die Glaubenssätze und der hat sofort voll abgeblockt. Der war von seiner Mutter da scheinbar schon instruiert und hat da genau gewusst, was jetzt kommt. Meine Mutter hat mich dann nach zwei, drei Wochen wieder drauf angesprochen, ob ich ihm denn schon gepredigt hätte. ‚Ja hatte ich, aber war jetzt nicht so interessiert.‘ Darauf entgegnete sie: ‚Jetzt stell dir mal vor, wenn morgen der Weltuntergang [Originalausdruck verändert] kommen würde, dann würde doch der Matthias sterben. Dann wärst du doch traurig wegen dem. Such dir doch lieber Freunde, die das überleben‘.“ (Mann, 38 Jahre)

Neben der von vielen der Interviewten geschilderten Außenseiterposition in der Schule berichteten alle Befragten davon, eine Begrenzung und Beeinflussung ihres Bildungswegs durch die Vorgaben der jeweiligen Gruppe erlebt zu haben. So gab man ihnen beispielsweise die zu absolvierende Ausbildung vor oder untersagte ihnen den Besuch einer weiterführenden Schule. Diesbezüglich wurde laut Aussagen der StudienteilnehmerInnen suggeriert, dass jegliche Schulbildung in Anbetracht des Glaubens an die Endzeitlehre nachrangig sei und stattdessen die Gruppierung und die damit einhergehenden Verpflichtungen stets von höchster Priorität seien.

„Meine Eltern haben immer gesagt: ‚In die Schule kommst sowieso du nicht mehr, weil vorher ist der Weltuntergang [Originalausdruck verändert], also vorher ist es schon vorbei.‘ Und dann war ich in der Schule und da hat’s geheißen: ‚Also ins Gymnasium brauchst du nicht gehen und eine Ausbildung wirst du keine mehr machen, weil vorher kommt der Weltuntergang [Originalausdruck verändert].‘ Auf alle Fälle hat es geheißen: Es ist egal. Du brauchst nichts zu lernen, weil die Welt sowieso vernichtet wird und es ist besser, du dienst Gott. Geh in den Vollzeitdienst und Pionierdienst, setz dich die ganze Zeit für Gott ein. Das bringt dir Leben, das Andere bringt dir nichts …“ (Mann, 38 Jahre)

Mit dieser Einstellung bewegen sich sogenannte Sekten konträr zu unserer modernen Gesellschaft, in welcher Bildung als hohes Gut angesehen wird. Zu begründen ist dies womöglich u. a. damit, dass Bildungsangebote individuelle Interessen von Mitgliedern fördern und dadurch die Konzentration auf die zeitlich und geistig vereinnahmenden Glaubenslehren gefährden könnten.

Ferner bildete sich anhand der Studienergebnisse ab, dass innerhalb sogenannter Sekten laut Aussagen der Betroffenen neben der Begrenzung von Bildungswegen auch eine Unterdrückung individueller Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle stattfindet. Während Autonomie, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung keine Bestandteile der Erziehung in sogenannten Sekten darstellen, gelten Konformität und absoluter Gehorsam als Grundvoraussetzung (Hassan 1994).

„Es gab keine Aussage, die ein Ich getroffen hat. Es war immer nur ein Wir. Wir sollten ja kein Ich sein, sondern immer nur ein Wir.“ (Frau 38 Jahre)

Wenn sich sogar ein erwachsener Mensch unter bestimmten Voraussetzungen im Laufe seines Lebens einer sogenannten Sekte anschließt und sich deren Manipulation unterwirft, wie gering ist folgerichtig die Chance eines „Sektenkindes“, sich ohne jegliche Vergleichsmöglichkeit einer solchen Manipulation und Bewusstseinskontrolle entziehen zu können? (Illig / Kaufmann 2020) „Sektenkinder“ sind nicht nur Co-Abhängige ihrer Eltern (Pohl 2012). „Vielmehr werden sie gerade durch den frühen Einfluss der Gruppe zu einem aktiven, funktionstüchtigen Sektenmitglied erzogen. Das individuelle Ich unterwirft sich somit dem kollektiven Wir, wodurch Sektenkinder von Beginn an ihr Selbst unterdrücken und eine klonähnliche, gruppenkonforme Sektenidentität entwickeln. Infolgedessen beschrieben sämtliche Interviewte eine durch die Gruppe beeinflusste Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung“ (Illig / Kaufmann 2020, 296).

„Ich habe weder gewusst, wer ich bin, noch was ich bin, warum ich bin und wohin ich will. Und das Problem ist, dass man nicht verlernt oder völlig aufhört, sondern gar nicht erst lernt als Hineingeborene, sich selbst zu spüren oder eine Beziehung und eine Verbindung zu sich selbst aufzubauen. Man steht völlig neben sich und ist völlig von außen gesteuert. Und das im Erwachsenenalter zu erarbeiten und nicht von ganz klein auf einem normalen Weg, das ist das Schwierige finde ich.“ (Frau, 49 Jahre)

Diese Begrenzung und Beeinflussung der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung stellte sich als der elementarste Unterschied zwischen jenen AussteigerInnen, welche einer destruktiven Gruppierung im Laufe ihres Lebens beigetreten waren, und hineingeborenen AussteigerInnen heraus.

„Jeder, der da bewusst hineingeht, hat sich vorher schon eine Identität aufgebaut oder sich selbst schon kennengelernt. Das ist der gravierendste Unterschied, finde ich. Jemand, der hineingeboren wird, der kann das nicht.“ (Frau, 49 Jahre)

Das Verlassen der Gruppierung

Was bewegt „Sektenkinder“ trotz eines Aufwachsens in einer isolierten, destruktiven Gruppe und einer Bewusstseinskontrolle seit früher Kindheit dazu, sich im Laufe ihres Lebens von der Gruppe abzuwenden? Und wie gestaltet sich das Verlassen der Gruppe? Anhand der Aussagen der Befragten stellten wir fest, dass sich die Ausstiegsprozesse der Interviewten in drei Phasen gliedern lassen: 1. den inneren Ausstieg, 2. den vollzogenen Ausstieg, 3. die Zeit nach dem Ausstieg.

Dabei ist die Phase des „inneren Ausstiegs“ vor allem durch das Bewusstwerden von Unsicherheiten und Zweifeln geprägt. Er ereignet sich laut Aussagen der Interviewten häufig in der Adoleszenz, einer Lebensphase, in der in der Regel Themen der Persönlichkeit, Abgrenzung und Selbstbehauptung im Zentrum stehen (Erikson 1966).

Destruktive Gruppierungen bringen in dieser Lebensphase häufig vermehrt Manipulationsstrategien bei ihren Mitgliedern zum Einsatz, um potenziell aufkeimende Zweifel bereits von Beginn an eliminieren zu können und einen Ausstieg zu verhindern. Ferner berichteten die StudienteilnehmerInnen, dass innerhalb der Gruppierungen irrationale Ängste vor einem Ausstieg geschürt wurden, infolgedessen sie davon überzeugt waren, dass sie bei Verlassen der Gruppe von Gott oder der Gemeinschaft bestraft oder in dem drohenden Weltuntergang getötet werden. Zusätzlich wurde den Interviewten von Beginn ihres Lebens an vermittelt, dass die Zuwendung der Mitglieder sowie die ihrer eigenen Familie an die Bedingung ihrer Mitgliedschaft und Gruppenkonformität geknüpft sind. So lernten die meisten Interviewten, dass das Verlassen der Gruppierung den Verlust der bisherigen Lebenswelt und jeglicher familiärer Kontakte nach sich zieht. Angesichts dessen lässt sich feststellen, dass die durch unsere Studie berücksichtigten destruktiven Gruppierungen enorme Ausstiegsbarrieren errichteten, welche viele der Befragten teilweise über Jahre davon abhielten, der Gruppe den Rücken zuzukehren.

Verlässt ein Mitglied die Gruppe trotz der oben beschriebenen Barrieren, so bezeichnen wir dies als „Phase des vollzogenen Ausstiegs“ (Kaufmann et al. 2021). Das Durchschnittsalter der Betroffenen lag zum Zeitpunkt ihres vollzogenen Ausstiegs bei 21 Jahren. Zur besseren Veranschaulichung lassen sich die durch die StudienteilnehmerInnen formulierten Ausstiegsgründe in zwei Hauptkategorien zusammenfassen.

So begründete etwa die Hälfte der Interviewten ihren Ausstieg primär mit einer starken physischen und psychischen Erschöpfung infolge der hohen Anforderungen und des streng strukturierten Alltags. Die übrigen Befragten äußerten, dass sie den Ausstieg primär aufgrund von Zweifeln an den jeweiligen Glaubenslehren vollzogen. Neben den Ausgestiegenen erlebten zwei Befragte einen Ausschluss vonseiten der Gruppierung. Sie verließen die Gemeinschaft somit nicht auf Eigeninitiative, sondern wurden infolge von Verstößen gegen die Gruppenregeln in Bezug auf Sexualität ausgeschlossen.

Unabhängig von dem jeweiligen Grund und der Art des Verlassens der Gruppierungen erlitt ein Großteil der befragten „Sektenkinder“ den „sozialen Tod“. Sie wurden von der Gruppierung, einschließlich ihrer eigenen Familie, verstoßen und geächtet. „Diese Ächtung, auch als ‚shunning‘ bekannt, ist ein typisches Merkmal sogenannter Sekten und folgt der Annahme, dass ein Austritt oder Ausschluss die größtmögliche Sünde darstellt, die gegen Gott und die Gruppe begangen werden kann. Die weiterhin gläubigen Familienmitglieder und Freunde sind davon überzeigt, dass ausgestoßene Mitglieder sündhaft sind und dass ein Umgang mit diesen nicht von Gott gewollt und daher untersagt ist. Nicht zuletzt weil der Mensch … auf die Zuwendung anderer Menschen angewiesen ist, wird der mit dem Ausstieg oder Ausschluss einhergehende soziale Tod von den Betroffenen als eine existenzielle Krise erlebt“ (Illig / Kaufmann 2020, 298).

In der dritten Phase, der „Zeit nach dem Ausstieg“, standen die Befragten vor der Herausforderung, sich ohne ihnen vorgegebene strikte Einteilungen in Richtig und Falsch und Gut und Böse in jener komplexen Welt zurechtzufinden, die sie seit ihrer frühesten Kindheit als fremd und gefährlich verinnerlicht hatten. Folglich beschrieben die Betroffenen tiefgreifende Gefühle der Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und des Sinnverlusts.

„Die Zeit nach dem Ausstieg war einerseits super, man durfte auf einmal alles. Auf der anderen Seite war das die schlimmste Zeit meines Lebens. Man darf auf einmal alles, und das überfordert einen. Man steht da, hat keinen Gott mehr, hat keine Regeln mehr und muss irgendwie versuchen damit klarzukommen ...“ (Frau, 37 Jahre)

Die neugewonnenen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten wurden von den Befragten als ambivalent erlebt. So nahmen sie diese einerseits als Befreiung und andererseits als Überforderung wahr. Ferner fühlten sie sich durch die verinnerlichten und weiterhin oftmals wirkmächtigen Lehren der Gruppe auch nach ihrem Ausstieg oder Ausschluss als Gefangene ihres Glaubens. So beschrieben sie unter anderem ein anhaltendes Misstrauen gegenüber anderen Menschen, welches sich in zwischenmenschlichen Begegnungen durch eine tiefe Verunsicherung ausdrückte. Auch fiel es vielen Befragten schwer, Freundschaften oder Partnerschaften einzugehen. Zusätzlich dazu erlebten sie nach Verlassen der Gruppierung oftmals auch Schwierigkeiten in Bezug auf ihren weiteren Bildungsweg. Diese begründeten sich vordergründig damit, dass sie sich aufgrund der Unterdrückung und Begrenzung ihrer Bildungswege nach Verlassen der Gemeinschaft ohne eine entsprechende berufliche Qualifikation zurechtfinden mussten. Darüber hinaus wurde anhand der Aussagen unserer StudienteilnehmerInnen deutlich, dass sie infolge eines erheblichen Überforderungserlebens und einer tiefen Verunsicherung im Umgang mit den neuen Lebensumständen nach dem Ausstieg Gefahr liefen, erneut in eine destruktive Gruppe zu geraten oder in die zuvor verlassene Gemeinschaft zurückzukehren.

„Als Kind wird man so indoktriniert, dass man das Leben draußen halt gar nicht kennt. Da besteht dann die Gefahr, dass man nach dem Ausstieg auch schnell wieder zurückeilt, weil es ja doch eine Heimat ist und alles andere überfordert. Die Welt außerhalb ist für jemanden, der erst im Erwachsenenalter beitritt, sicherlich nicht so beängstigend wie für ein Sektenkind, das diese Welt noch nie zuvor erlebt hat.“ (Mann, 38 Jahre)

Ein Großteil der Befragten erlebte sich aufgrund der Erfahrungen innerhalb der Gruppierungen, der Indoktrination und der Verfahrensweise der Gruppe nach dem Austritt als psychisch stark belastet. Sie berichteten von (Todes)ängsten und Gefühlen von Einsamkeit, tiefer Trauer und Wut. Einige Befragte schilderten wiederkehrende Suizidgedanken und konkrete Suizidversuche.

Neben den beschriebenen zahlreichen Verunsicherungen und Schwierigkeiten nahmen die meisten StudienteilnehmerInnen das Verlassen der Gemeinschaft rückblickend als anstrengend, jedoch auch als eine Zeit der positiven Entwicklungsmöglichkeiten und des Kennenlernens der eigenen Person wahr.

„Ich meine, das ist eine Chance, die man da bekommt. Man hat sozusagen ein totalitäres System mitbekommen, in seiner krassesten Ausprägung. Das ist eine Chance, endlich mal sein Leben neu aufzubauen, sich selbst ein Fundament zu geben, sich wirklich neu zu zentrieren. Sich eine neue Richtung zu geben, sich neu zu definieren, auch wenn das natürlich erstmal viel Energie kostet und Angst bereitet.“ (Mann, 30 Jahre)

Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass das Verlassen destruktiver Gruppierungen für „Sektenkinder“ weitaus mehr bedeutet als den Verlust einer religiösen Orientierung. Schließlich erleben sie nicht nur eine Infragestellung ihrer bisherigen Lebensgeschichte und („Sekten“-)Identität, sondern auch den Verlust ihrer gesamten zwischenmenschlichen Beziehungen (Illig / Kaufmann 2020). Ein Ausstieg zieht somit häufig eine Krise nach sich, in der die Betroffenen auf Hilfs- und Unterstützungsangebote angewiesen sind. Ferner geht aus den Studienergebnissen hervor, dass „Sektenkinder“ einen spezifischen Hilfebedarf aufweisen. Sie verbrachten, anders als andere Mitglieder destruktiver Gruppen, ihr gesamtes bisheriges Leben in der Gruppierung, kennen lediglich die dort vertretene Sicht auf die Welt und fühlen sich meist sowohl in der neuen Realität, welcher sie nach einem Ausstieg entgegentreten, als auch gegenüber sich selbst fremd. Darüber hinaus ist es ihnen im Vergleich zu anderen AussteigerInnen nicht möglich, an ein Leben vor der sogenannten Sekte anzuknüpfen. Es stehen somit vermehrt Identitäts- und Persönlichkeitsfragen im Vordergrund. Auch die Erziehung durch die Gemeinschaft schlägt sich in ihren internalisierten Beziehungserfahrungen und somit in ihrem Bindungsverhalten nieder. Besonders hier können psychotherapeutische Angebote wichtige heilsame und alternative Beziehungserfahrungen ermöglichen.

Aufgrund dieser Aspekte sprechen wir uns dafür aus, dass neben den bereits vorhandenen Angeboten für AussteigerInnen spezifische Hilfsangebote für ausgestiegene „Sektenkinder“ installiert werden müssen. Dabei scheint es aufgrund der immensen Parallelen in Bezug auf die Wirkmechanismen und Strukturen der Gruppierungen nachrangig zu sein, gruppenspezifische Angebote zu schaffen. Vielmehr sollte die Gemeinsamkeit, als „Sektenkind“ aufgewachsen zu sein, fokussiert werden.

Wir erhoffen uns, mit unserer Studie und der Buchveröffentlichung einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können, „Sektenkindern“ eine Stimme zu geben und die Aufmerksamkeit auf diese gesellschaftlich bisher wenig beachtete Thematik zu lenken. Schließen möchten wir mit einem prägnanten Zitat einer Studienteilnehmerin (38 Jahre):

„Religionsfreiheit? In dem Fall leiden die Kinder darunter. Das schützt lediglich die Religionsfreiheit der Eltern, das ist doch deren Glaube. Aber es gibt kein Gesetz, welches die Kinder vor der Religionsfreiheit ihrer Eltern beschützt.“


Laura Illig und Kathrin Kaufmann, Aachen / Köln, 05.01.2021

Anmerkungen

  1. Die Begriffe „Sekte“ und „destruktive Gruppierung“ werden im folgenden Text synonym verwendet.
  2. Die Neuapostolische Kirche ist seit 2019 Gastmitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Vgl. dazu MdEZW 3/2019, 106 – 108 (Anm. der Red.).

Literatur

Erikson, Erik H. (1966): Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M.

Hassan, Steven (1994): Ausbruch aus dem Bann der Sekten. Psychologische Beratung für Betroffene und Angehörige, Hamburg.

Illig, Laura / Kaufmann, Kathrin (2018): Sektenkinder: Eine Interviewstudie zu den Auswirkungen neureligiöser Kindheitserfahrungen und Handlungsempfehlungen für die Klinische Sozialarbeit, Masterthesis an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen (unveröffentlichte Masterarbeit).

Illig, Laura / Kaufmann, Kathrin (2020): Sektenkinder – Über das Aufwachsen in sogenannten Sekten und mögliche Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg, in: Zeitschrift für Individualpsychologie 45/3, 290 – 303.

Kaufmann, Kathrin / Illig, Laura / Jungbauer, Johannes (2021): Sektenkinder. Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg, Köln.

Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim.

Meredith, Katharina (2021): Familieneinheit und Bindung in geschlossenen Gruppen, in: Kaufmann, Kathrin / Illig, Laura / Jungbauer, Johannes: Sektenkinder. Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg, Köln, 141 – 152.

Pohl, Sarah (2012): Erziehungskonzepte, in: Pohl, Sarah / Utsch, Michael: Pädagogische Konzepte und Erziehungspraktiken bei den Zeugen Jehovas, EZW-Texte 218, Berlin, 29 – 49.