Werner Thiede

Rudolf Steiner und die Religion

Betrachtungen anlässlich seines 150. Geburtstags

Rudolf Steiner hat sich nie als Gründer einer Religion verstanden. Gleichwohl kann der Kirchengeschichtler Friedrich Heyer sagen: „In der Gedankenwelt Rudolf Steiners waren die Umrisse einer Theologie erkennbar.“1 Und tatsächlich hat sich viel hiervon in der von Steiner inspirierten, 1922 gegründeten „Christengemeinschaft“ niedergeschlagen. Einerseits trennte Steiner scharf zwischen der von ihm entworfenen Anthroposophie, die er als Geisteswissenschaft verstand, und der Welt der Religion. Andererseits war nachgerade das Christentum für ihn der Urgrund der Welt selbst, den es anthroposophisch als Wissen und Kultus gleichermaßen auszuteilen gilt. Die komplexen Bezüge Steiners zur Religion möchte ich sowohl im Blick auf seine Christosophie als auch hinsichtlich der „Christengemeinschaft“ beleuchten.

Steiners Anfänge und die Theosophie

Der am 27. Februar 1861 geborene, römisch-katholisch getaufte Philosoph Rudolf Steiner war zweifelsohne ein religiöser und spirituell wirksamer Mensch – wenn auch gewiss nicht im kirchlichen Sinn. Offenkundig hatten schon den Knaben katholischer Kultus und okkulte Erlebnisse geprägt.2 Dazu waren – vom freigeistigen Vater gefördert – technische Interessen gekommen. All dies floss in der späteren Jugend zu einem intensiven Fragen nach der erforschbaren Einheit von sinnlicher und übersinnlicher Wirklichkeit zusammen. Dass nicht Immanuel Kant mit seinem Dualismus von „Ding an sich“ und Erscheinung ihm hier weiterhelfen konnte, sondern eher der entschieden über Kant hinausschreitende Johann Gottlieb Fichte mit seinem idealistischen Monismus, realisierte bereits der 18-Jährige.3 Aber auch Fichtes Sohn Hermann Immanuel wurde für ihn wichtig, der die Autonomie der Subjektivität im spirituellen Sinn herausgearbeitet hatte. Von daher ergab sich bei Steiner die Pointe, dass er gerade als junger Naturwissenschaftler4 der materialistischen Weltbetrachtung abgeschworen und sich als Geisteswissenschaftler verstehen gelernt hatte.5 Dabei fasste er „Geist“ nun freilich als eine andere Form von Materie auf, die ja bereits in gnostischer Tradition als eine verfestigte Gestalt von Geist gegolten hatte. Tatsächlich könnte man Steiner selbst im Sinne Götz Harbsmeiers und Richard Geisens6 als einen modernen Gnostiker bezeichnen. Sein spiritueller Monismus7 hat durchaus Ähnlichkeit mit manchen spätantiken gnostischen Systemen, die sich bei näherer Betrachtung keineswegs alle auf einen „Dualismus“ reduzieren lassen.Näherhin müsste man dann freilich betonen, dass Steiner ein christlicher Gnostiker war. Für ihn hat das Christentum als Religion begonnen, doch ist es größer als alle Religionen.8 Denn die Christus-Gestalt in ihrer göttlichen Abkunft bildete nach seiner visionären Überzeugung das innere Zentrum aller Religionen. Nicht nur die Mysterien sah er für den Christus in Dienst genommen, sondern auch sämtliche nichtchristlichen Religionen. Diese Sichtweise bildet nicht zuletzt die Pointe seiner Lehre von den zwei Jesus-Knaben.Doch zunächst hatte bei Steiner kaum etwas auf solch eine merkwürdig ausgestaltete Christozentrik hingedeutet. Zwar hatte er schon als sehr junger Mann zu den ersten Käufern der von der Theosophischen Gesellschaft herausgebrachten Literatur gehört. Durch sie wurde sein Christus-Bild dahingehend umgeformt, dass sich gegen die kirchliche Tradition bei ihm eine Auseinanderdifferenzierung von Jesus und Christus abzeichnete.9 Aber seine geistige Entwicklung drehte sich dann jahrelang eher um philosophische Fragen – insbesondere in der Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche. So wurde er vor der Jahrhundertwende sogar zum ausgesprochenen Christentumsgegner.10Als Steiner nach dem Tod Nietzsches 1900 mehrere Gedenkreden auf den Philosophen hielt, wurde er gebeten, einen entsprechenden Vortrag in einem theosophischen Kreis um Sophie Gräfin Brockdorff zu wiederholen. Inhalt und Art seines Vortrags in der Theosophischen Bibliothek zu Berlin empfand man als so anregend, dass daraus eine regelmäßige Vortragsreihe wurde und die Gräfin beschloss, das theosophische Leben, das in Berlin seit einiger Zeit geschlummert hatte, neu aufleben zu lassen. In einem ersten Zyklus sprach Steiner über die neuzeitliche Mystik des Abendlandes; die 1901 publizierten Vorträge ließen allerdings immer noch nichts spezifisch Christliches erkennen.11 Wie also kam es, dass dann der zweite Zyklus, 1902 unter dem Titel „Das Christentum als mystische Thatsache“ veröffentlicht, plötzlich einen Jesus als dem Christus und dem Kreuz von Golgatha zugewandten Steiner präsentierte? Was führte zur Reaktivierung seiner theosophisch gefärbten Auffassung vom Christentum? Die Erklärung, dass er nun auf esoterisch gesonnene Menschen getroffen war, „die ihrerseits über den Christus reden und denken“12, dürfte nicht genügen, zumal solches Reden noch kaum ein „christosophisch“ akzentuiertes war. Eines allerdings wird genau zu dem Zeitpunkt, als Steiner seinen zweiten Zyklus zu konzipieren begann, in der Theosophischen Bibliothek sehr wohl thematisiert13 worden sein: Die damalige „First Lady“ der Theosophical Society, Annie Besant, hatte gerade ihr neuestes Buch „Esoteric Christianity or The Lesser Mysteries“ (1901) publiziert. Esoterisches Christentum – dass Steiner sich von den neuen Gedanken der theosophischen Führerin für seinen kommenden, im Herbst beginnenden Zyklus inspirieren ließ, kann kaum verwundern!

Rasch begann damit sein Aufstieg innerhalb der Theosophischen Gesellschaft. Im Anschluss an seine Vorträge über esoterisches Christentum wurde er im Frühjahr 1902 gebeten, Mitglied der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft zu werden. Deren offizielle Gründung wurde gleichzeitig überhaupt erst geplant, und schon hatte man Steiner ihre Leitung angetragen. Im Sommer 1902 entschied sich Steiner, diesem Antrag zu entsprechen. Gerade hatte er die Schlusskapitel seines „Christentum“-Buches druckfertig formuliert. Daraufhin machte er sich auf die Reise nach London, wo er beim Theosophischen Kongress Annie Besant persönlich kennenlernte. Im Oktober schließlich wurde – in Anwesenheit Annie Besants – die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft gegründet. Rudolf Steiner wurde als Generalsekretär gewählt. Der Philosoph war offiziell zum Esoteriker, ja binnen kürzester Zeit zu einer führenden Gestalt der deutschen Theosophie geworden.Bereits wenige Tage später wurde er in die von Besant geleitete „Esoterische Schule“ aufgenommen. Hierbei handelte es sich um einen inneren Zirkel der Theosophischen Gesellschaft. Die Aufnahme war mit einem Eid verbunden, der in die Worte mündete: „Ich anerkenne Annie Besant ... als Chef dieser Schule ...“ An diesen Eid wusste sich Steiner lange Zeit gebunden. Deshalb suchte er über Jahre hinweg Wege zu beschreiten, die seine eigenen Gedanken und Pläne möglichst in lebendiger Einheit mit denen der Weltzentrale erscheinen ließen. Seine Loyalität wurde von Besant erwartet und erwidert. Freilich war auch sie, die 1907 zur Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft gewählt wurde, auf die Dauer nicht blind gegenüber den eigenen Interessen Steiners. Es kristallisierten sich zwei unterschiedliche Richtungen heraus, in die einerseits die Weltzentrale und andererseits die deutsche Zentrale der Theosophischen Gesellschaft strebten – im Sinne Steiners vereinfacht gesagt: abendländische contra morgenländische Esoterik. War die geistige Mutter der modernen Theosophie, Helena Petrovna Blavatsky, Buddhistin geworden und ihre Schülerin Annie Besant Hinduistin, so war Steiner nun – freilich im esoterischen Sinn – Christ geworden. Das gab der von ihm erstrebten Theosophiegestalt eine andere Farbe. Die östlich dominierte Spiritualität Blavatskys und Besants ging kosmisch von einer spiralförmig fortschreitenden Folge entstehender und wieder vergehender Universen aus. Von daher wurden alle Begriffe von „Geschichte“ in hohem Maße fragwürdig. Die westlich geprägte Esoterik Steiners hingegen hatte – ohne damit die östliche Sicht ausschließen zu wollen – vor allem einen einzigen großen Zyklus von Involution und Evolution im Blick, also das Herabgleiten des ursprünglich geistig manifestierten Kosmos in zunehmende Materialisierung, und dann wiederum seine letztendliche Vergeistigung. Dieses Konzept erlaubte in einem weiteren Sinn den Begriff der „Geschichte“ durchaus. Hierin wirkte sich Steiners philosophische Prägung durch den deutschen Idealismus aus.Namentlich die Christusvorstellung war von dieser Differenz betroffen. Annie Besant hatte Jesus in den okkulten Rahmen einer ganzen Reihe von verschiedenen Religionsstifter eingezeichnet: Sie alle miteinander sah sie von der Gestalt des „kosmischen Christus“ geleitet und inspiriert. Den Begriff des „kosmischen Christus“ hatte sie selbst gerade erst geprägt. Für Steiner hingegen war es unmöglich, Jesus lediglich als eine von vielen Ausprägungen des „kosmischen Christus“ zu betrachten. Er sah es geradezu als seine Aufgabe an, die innere Einheit von Christus und Jesus auf esoterische Weise darzulegen.So präsentierte sein 1902 veröffentlichtes Buch, „Das Christentum als mystische Thatsache“, einen Jesus, dessen geschichtlicher Weg bis ans Kreuz von Golgatha selbst als kosmisch relevant ausgegeben wurde. Das war insgeheim ein Gegenentwurf zu Besants Buch „Esoterisches Christentum“; doch die wenigsten merkten das zunächst. Beanspruchte doch Steiner, seine Anregungen nicht aus gedruckten Büchern bezogen zu haben, sondern „aus der Geistwelt selbst unmittelbar“! In seinen Memoiren erklärt Steiner zur Entstehung seines „Christentum“-Buches: „Ich hatte zum Ziel, die Entwickelung von den alten Mysterien zum Mysterium von Golgatha hin so darzustellen, daß in dieser Entwickelung nicht bloß die irdischen geschichtlichen Kräfte wirken, sondern geistige außerirdische Impulse. Und ich wollte zeigen, daß in den alten Mysterien Kultbilder kosmischer Vorgänge gegeben waren, die dann in dem Mysterium von Golgatha als aus dem Kosmos auf die Erde versetzte Tatsache auf dem Plane der Geschichte sich vollzogen. Das wurde in der Theosophischen Gesellschaft nirgends gelehrt.“14 Das aber stimmt nicht. Zum einen taucht die bei Steiner später zur stehenden Wendung werdende Rede vom „Mysterium von Golgatha“, die er hier anführt, in der ersten Auflage von 1902 noch gar nicht auf; sie wird erst 1906 entwickelt und kommt von daher ab der zweiten Auflage von 1910 in dem Buch vor. Zum anderen ist auch inhaltlich festzustellen, dass das „Kreuz auf Golgatha“ 1902 fast nur auf einer einzigen Seite im vorletzten Kapitel thematisiert wird. Dort liest man: „Das Kreuz auf Golgatha ist der in eine Thatsache zusammengezogene Mysterienkult des Altertums.“15 Gerade aber die Lehre, „daß in den alten Mysterien Kultbilder kosmischer Vorgänge gegeben waren, die dann in dem Mysterium von Golgatha als aus dem Kosmos auf die Erde versetzte Tatsache auf dem Plane der Geschichte sich vollzogen“, hatte bereits Annie Besant 1901 vertreten.

Steiners Weg zur Christosophie

Rudolf Steiner war dennoch nicht im Unrecht, wenn er einen Gegensatz zu Besants Theosophie behauptete. Dieser Gegensatz spiegelte sich in Besants letztlich ungeschichtlicher Lehre vom „kosmischen Christus“. Bei Besant stand der „kosmische Christus“ mit seiner „makrokosmischen Geschichte“ im Zentrum: Ihn bilden die Mysterienkulte und die diversen Christusfiguren der irdischen Weltgeschichte lediglich ab, um mystisch seine mikrokosmische Entsprechung im menschlichen Geist bewusst werden zu lassen. Steiner griff zwar diese kosmische Perspektive erkennbar auf: Er lehrte seinerseits das Zusammenfließen der Christus-Idee mit einer geschichtlichen Erscheinung. Doch das galt nun als exklusive Verbindung mit der Persönlichkeit Jesu! Und von hier aus dachte Steiner den von Besant angestoßenen Gedankengang konsequent zu Ende: Wird die kosmische Kreuzigung als heilvolles Opfer verstanden, wie das bereits bei Besant entfaltet ist, dann muss auch die irdische Kreuzigung als geschichtliche Tatsache ein heilbringendes Opfer darstellen! Das Kreuz des Christus ist „als einmaliges Ereignis, das für die ganze Menschheit gelten soll“16, zu verstehen! Zwar sah auch Besant, dass Jesus durch sein Kreuzesopfer „ein Christus in ‚voller Gestalt’ wurde“. Aber dies lehrte sie unter der Voraussetzung, dass derlei Aussagen für jeden „emporsteigenden Christus“ gelten.17 Für sie gab es viele Heilande, die alle gleichwertig waren.Aus den dargelegten Loyalitätsgründen tat Steiner nach außen hin bis auf Weiteres so, als stehe auch für ihn das Christentum gleichwertig in der Reihe der anderen religiösen Traditionen da. Aber es war nicht nur die Loyalität gegenüber Besant, sondern auch der Wunsch nach der vollen Weihe, der Steiner zum Stillhalten bewegte. Der Erfolg blieb nicht aus: 1904 wurde er von Besant zum Erzlenker der „Esoterischen Schule“ im deutschsprachigen Raum ernannt. Nun endlich konnte er eine selbständigere Wirksamkeit beginnen. So kam er 1905 dazu, die besondere Heilsrelevanz des Golgatha-Mysteriums wieder ins Blickfeld zu rücken.18Den Seelenwanderungsgedanken der modernen Theosophie hatte Steiner akzeptiert, auch wenn er einräumen konnte, dass dieser Gedanke in der Bibel nicht vorkommt, sofern man sie nicht aus esoterischem Blickwinkel liest. Nachdem also Blavatsky und Besant auf reinkarnatorischer Basis die Selbsterlösungspflicht jeder Seele gelehrt hatten, versuchte Steiner den Gedanken der Erlösung durch Christus mit dem Gedanken an Selbsterlösung zu verbinden. Er lehrte „auf der einen Seite eine Erlösung des Menschen durch sich selbst, durch sein eigenes Bemühen, durch seinen stufenweisen Aufstieg zur Freiheit im Laufe der Wiederverkörperungen“ und auf der anderen Seite „die Person und das Beispiel des Christus Jesus“ als „die Christus-Kraft“ bzw. den erlösenden „Grundimpuls“.19 Der Autonomie des Menschen korrespondiert die „Gnade“, die damit lediglich als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden wird.Das Jahr 1907 begann in der Theosophischen Gesellschaft damit, dass Annie Besant als neue Präsidentin zur Wahl gestellt wurde. Steiner war klar, dass sich damit der Richtungskampf innerhalb der Theosophischen Gesellschaft zu seinen Ungunsten entwickelte. So zeigte er unübersehbar Flagge. Am 17. Februar 1907 machte er in einem Vortrag deutlich, dass Christus „der größte der Religionslehrer“ sei – ein offener Affront gegen die überkommene Toleranzdoktrin der Theosophischen Gesellschaft! Einige Wochen später nannte er den Christus den „höchsten inkarnierten Gott“, hielt Vorträge über die „weltgeschichtliche Bedeutung des am Kreuze fließenden Blutes“ und betonte „die kosmische Bedeutung dessen, was sich auf Golgatha vollzogen hat“. Er ergänzte, dass das Kreuzesereignis in seinen kosmischen Auswirkungen „noch heute nicht vollendet“ sei. Diese Vollendung – das war hier impliziert – werde durch Besant nicht eben gefördert, die das Mysterium von Golgatha in seiner Einmaligkeit und Bedeutungsschwere verkannte. Steiner lehrte nun ausdrücklich: Das Christus-Wesen „war vorher noch niemals in einem physischen Leibe inkarniert gewesen“.Besant indessen betonte weiterhin, dass der kosmische Christus sich zyklisch wiederverkörpere. Und sie spitzte diese Lehre alsbald dahingehend zu, dass sie sie in einer akuten Wiederkunftserwartung verdichtete. Im August 1909 erklärte sie öffentlich, der kommende Weltenlehrer sei diesmal nicht wie vor 2000 Jahren im Osten, sondern im Westen zu erwarten. Als Steiner hiervon erfuhr, konnte ihn dieser Vorgang als Haupt der „westlichen“ Esoterischen Schule mit ihrer eindeutigen Ausrichtung schwerlich unberührt lassen. Ihm wurde nun klar, dass er in der Streitfrage des Christusverständnisses den Begriff des „kosmischen Christus“ nicht länger der folgenreichen Deutungsmacht Besants überlassen durfte.Als Steiner sich in seinem nächsten Vortragszyklus im September 1909 dem Lukas-Evangelium widmete, präsentierte er erstmals seine Vorstellung von den zwei Jesus-Knaben. Sie bildete die Antwort auf Besants Position. Knapp skizziert, lehrte Steiner Folgendes: Das salomonische Jesus-Kind, so benannt nach der Abstammungslinie des Matthäusevangeliums, starb im Alter von zwölf Jahren. Sein ihm innewohnendes Zarathustra-Ich wechselte in den nathanischen Jesus über, mit dem Steiner auf die anders lautende Abstammungsliste des Lukasevangeiums Bezug nimmt. Dort blieb dieses Ich bis zum 30. Jahr, um dann – sich opfernd – dem Christus-Wesen Platz zu machen. So soll der kosmische Christus eine ideal vorbereitete Hülle in Besitz genommen haben.20 Diese Geschichte bot Steiner Raum, wichtige Führergestalten und Traditionslinien der Religionen vor Jesus mittels des Seelenwanderungsgedankens direkt in seine Christosophie einzubauen.Während Annie Besant Krishnamurti in ihrem verriegelten Schlafzimmer in Adyar okkult einweihen ließ21, stellte Steiner in Stockholm sein alternatives Verständnis der fürs 20. Jahrhundert erwarteten Wiederkunft Christi vor: Diese sollte nicht im Sichtbaren, sondern im „Ätherischen“ erfolgen. Im Januar 1911 gründeten Annie Besant und Charles W. Leadbeater am ersten Jahrestag der „Einweihung“ Krishnamurtis den „Orden der aufgehenden Sonne“. Er sollte dem Zweck der Propaganda für den neuen „Weltenlehrer“ dienen. Bald wurde er umbenannt in „Orden des Sterns im Osten“. Umso entschiedener betonte Steiner nun demgegenüber die Einmaligkeit des kosmischen Christus-Impulses in Jesus.22 Unmissverständlich polemisierte der deutsche Generalsekretär gegen das folgenreiche Verständnis des „kosmischen Christus“ bei Besant: „Nur wenn man nicht weiß, daß der Christus der Repräsentant des ganzen Weltalls ist, ... nur dann kann man behaupten, daß der Christus mehrmals auf Erden erscheinen könne.“23 In der Folge entsprechender Streitigkeiten kam es 1912 zum endgültigen Bruch. Ende August fanden unter Hunderten von Steiners versammelten Anhängern Diskussionen über ein eigenes Bündnis statt. Steiner schlug vor, den von der Theosophischen Gesellschaft unabhängigen Bund „Anthroposophische Gesellschaft“ zu nennen. Und diese wurde am 28. Dezember 1912 in Köln gegründet. Steiner trat selbst nicht bei, betonte aber: Erst durch die Anthroposophie kommt man „zur Empfindung dessen ..., was Theosophie dem Menschen sein kann ... Diese Anthroposophie wird uns zu Göttlichem und zu Göttern führen.“24 Sage doch niemand, Steiner sei nicht religiös gewesen!

Steiner und die Christengemeinschaft

Es waren junge protestantische Theologen gewesen, die sich – enttäuscht von der liberalen und konservativen Theologie jener Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – an Rudolf Steiner gewandt hatten. Man traf sich, besprach sich, und Steiner formulierte die Kultustexte für die neu zu gründende Christengemeinschaft. Ausdrücklich formulierte er: „Die Christengemeinschaft ist auf geistigem Boden von geistigen Wesen gestiftet in Wirklichkeit“.25 Mit Bedacht hatte er bei der ersten „Menschenweihehandlung“26 keine kultische Rolle übernommen und später ausgesagt, er habe die Christengemeinschaft quasi als Privatmann gebildet. Als Religionsstifter hat er sich nicht sehen wollen. Deshalb hatte der junge Geistliche Friedrich Rittelmeyer im September 1922 die Selbstweihe vollzogen. Aber es war Steiners bloße Anwesenheit, die es nach Überzeugung der Christengemeinschaft dazu kommen ließ, dass Christus als Hoherpriester das Sakrament der Priesterweihe selber aus der göttlichen Welt heraus gestiftet habe.Wie Erzoberlenker Rittelmeyer versicherte, wurde der neue religiöse Kultus durch Steiners Dienst „aus der göttlichen Welt in die menschliche Welt getragen“27. Der Stuttgarter Oberlenker Hans-Werner Schroeder erläutert, Steiner habe geholfen, dass „das in der geistigen Welt Geschehene Erdenrealität gewann“; so habe er „die Grundlagen für ein erneuertes religiöses Wirken auf der Erde vermittelt“ und „an den Kreis der ersten Priester weitergereicht“.28 Der in der himmlischen Welt längst vollzogene Kultus ist also dank Steiners gleichsam katalysatorischer Mittlerrolle endlich in die materielle Welt gekommen. Tatsächlich hat für die religiöse Christengemeinschaft der geistige Seher29 Steiner mindestens Apostelrang inne. Dementsprechend gilt seine Anthroposophie als „Geburtshelfer des erneuerten Christentums auf der Erde“. Dessen einzelne Rituale werden in der Christengemeinschaft als eine zeitgemäße Selbstoffenbarung Christi empfunden. Nicht zuletzt an der weitestgehenden Unveränderlichkeit des Kultustextes sind wiederholt Religionsdialoge zwischen der evangelischen Kirche und der Christengemeinschaft gescheitert; so ist es bis heute zu keiner Anerkennung der Taufe von evangelischer Seite gekommen. Schon dass die Taufe mit Wasser, Salz und Asche erfolgen solle, ist neutestamentlich nicht begründet; vielmehr steht zu vermuten, dass es sich hier um einen Rückgriff Steiners auf dieselben Elemente im okkulten I0-Ritual des „Ordo Templi Orientis“ handelte, dessen deutschem Zweig „Mysteria Mystica Aeterna“ er zwischen 1906 und 1914 als Großmeister vorstand.30 Entscheidender aber ist: Es kommt im Vollzug dieser „erneuerten Taufe“ zwar die in allen Kirchen verwendete trinitarische Taufformel vor, nicht jedoch bei gleichzeitiger dreifacher Begießung mit fließendem Wasser bzw. während des Untertauchens! Man könnte versucht sein, dies als eine lediglich geringfügige Abweichung zu interpretieren; doch spiegelt sich in der mangelnden Bereitschaft der Christengemeinschaft, sich dem althergebrachten ökumenischen Usus anzupassen, jener unbedingte Glaube an den religiösen Offenbarungsmittler Rudolf Steiner, der in der Konsequenz den Verzicht auf die Eingliederung in die Ökumene der Kirchen jeder kultischen Änderung vorzieht.Offiziell herrscht in der Christengemeinschaft völlige Lehrfreiheit – mit der Einschränkung, dass die Lehre nicht dem Kultus widersprechen dürfe. Die Anthroposophie gilt für die Christengemeinschaft als eine Erkenntnishilfe, nicht als eine für die Gemeinschaft verbindliche theologische Wahrheit. Zugleich aber ist Steiners Anthroposophie keineswegs ein beliebiger, sondern ein wesentlicher, wenn auch nicht ausschließlicher Verstehenshorizont. Theologisch geht man in dieser Gemeinschaft davon aus, dass durch die „innere Gewißheit und die erkenntnismäßige Sicherheit des urchristlichen Schauens und geistigen Erlebens“ eine weitgehende Einheit der Lehre sozusagen automatisch zustande kommt. „Wer über die Wahrheit streitet, ist nicht mehr im Besitz der Wahrheit“31, formuliert der Oberlenker Johannes Lenz. Er erklärt weiter: Die Lehrfreiheit „baut darauf, daß durch die Anwendung des Breviers und durch das Studium nach der Erkenntnismethode der Geisteswissenschaft gerade dann eine Harmonie und Übereinstimmung erreicht wird, wenn jeder aus dem Innersten seiner Erkenntnisbemühung heraus im Blick auf den Heiligen Geist lehrt“32. Auch regelmäßige Meditationen und Gebete bilden zwecks „innerer Schulung des Geistes und der Seele“ die „Grundlage für die berufsspezifische Esoterik des Priesters“.33Das von Lenz ebenfalls genannte „Studium nach der Erkenntnismethode der Geisteswissenschaft“ hat natürlich nichts anderes als die von Steiner propagierte Erkenntnismethode der Anthroposophie im Blick. Das Gemeinte veranschaulicht Lenz wie folgt: „Wer richtig denkt, trifft sich mit jedem anderen Menschen in der übersinnlichen Erkenntnisdisziplin der Mathematik bei gleichem Inhalt.“34 Kommt in diesem Sachverhalt nicht unweigerlich zur Geltung, dass Steiners Anthroposophie die eigentliche Lehre der Christengemeinschaft deutlich prägt und insofern für sie einen gewissen Rahmen festlegt, innerhalb dessen sich die sogenannte Lehrfreiheit bewegen darf? Tatsächlich ist laut Lenz in der Christengemeinschaft „die ‚Theosophie’ Lehrgegenstand an den Ausbildungsstätten. Sie erweitert die Theologie zu einer Theosophie – das Wissen zu einer Weisheit, die heute mit der Erkenntnis neu ergriffen und entwickelt werden kann ...“35 Steiner hat also den Grund zu einer esoterischen Religionsgemeinschaft christlicher Prägung gelegt.Über ihren ersten Erzoberlenker Friedrich Rittelmeyer36 schreibt Gerhard Wehr: „Die Christengemeinschaft, für die er zu den Beratungen hinzugezogen wurde, galt somit – trotz der erklärten Eigenständigkeit – als Bestandteil der anthroposophischen Bewegung. Sie wurde also nicht ausschließlich als ‚Kirche’ betrachtet! Ihre Priester nahm Steiner als Mitglieder der Dornacher Hochschule auf.“37 Wie Wehr herausarbeitet, hat es neben Rittelmeyer „keinen zweiten Anthroposophen gegeben, der mit gleichem Einsatz in der Öffentlichkeit für Person und Werk Rudolf Steiners eingetreten ist ...“38 Tatsächlich war Rittelmeyer davon überzeugt, dass Steiner mit seiner „Christuserkenntnis ein Ereignis in der Geschichte des Christentums selbst“39 bedeute. Die in den Gründerjahren zu beobachtende Bindung der Führung an Steiners Anthroposophie hat sich selbstverständlich durchgehalten – mittels Wort und Sakrament! Was den in sieben Sakramenten zentrierten Kultus40 betrifft, so war es namentlich die Sukzession der von Rittelmeyer aus weitergereichten Priesterweihe, die auf ihre Weise für die Tradierung des geistig Grundgelegten sorgte. Und auf der Ebene des Wortes bildete, wie Steiner es wollte, anhaltend die gottesdienstliche Predigt das „Fenster“, durch das die Anthroposophie die Christengemeinschaft mit dem notwendigen Erkennen und Wissen versorgen sollte.41

Schluss

Steiner und die Religion – welch ein Thema! Es setzt sich fort im Betrachten der modernen Esoterik-Szene, namentlich der New-Age-Bewegung, in der nach wie vor an Steiners Gedankengut angeknüpft wird.42 Und auch in der Theologie gibt es einige Spezialisten, die sein Denken bei aller Kritik gern monografisch gewürdigt haben – etwa Helmut Zander auf katholischer Seite und auf evangelischer Klaus von Stieglitz, Jan Badewien, Friedrich Heyer, Hellmut Haug und Klaus Bannach. Die Auseinandersetzung mit Steiner wird sich gewiss auch nach seinem 150. Geburtstag fortsetzen. Seine Impulse für eine religiöse Erneuerung reichen deutlich über die Anthroposophie hinaus.


Werner Thiede


Anmerkungen

1 Friedrich Heyer, Anthroposophie – ein Stehen in Höheren Welten?, Konstanz 1993, 79.

2 Vgl. bes. Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner. Eine Chronik, 1861-1925, Stuttgart 1988, 33.

3 Vgl. – auch zum Folgenden – Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner. Eine Biographie, Bd. 1, Stuttgart 1997, 80ff, sowie Helmut Zander, Rudolf Steiner. Die Biografie, München 2011. Vgl. dazu die Rezension in dieser Ausgabe des MD, 157f.

4 Steiner hat sein Studium der Physik, Botanik, Zoologie und Chemie samt Mathematik nie abgeschlossen – schon deshalb sollte man seine geistigen Leistungen weniger dem „Naturwissenschaftler“ zuschreiben; vielmehr ist daran zu erinnern, dass er Theosoph war als „Geisteswissenschaftler“!

5 Seine konstruktivistisch reflektierte „Erkenntnistheorie ... begründet die Überzeugung, dass im Denken die Essenz der Welt vermittelt wird“ (Rudolf Steiner, GA 3, 85).

6 Vgl. Götz Harbsmeier, Anthroposophie – eine moderne Gnosis (Theologische Existenz heute 60), München 1957; Richard Geisen, Anthroposophie und Gnostizismus. Darstellung, Vergleich und theologische Kritik, Paderborn u. a. 1992.

7 Vgl. Werner Thiede, Jenseits von Gut und Böse? Spiritueller Monismus als theologische und weltanschauliche Herausforderung, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Religionsdifferenzen und Religionsdialoge, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 259-268; Bernhard Grom, Anthroposophie und Christentum, München 1989, 19ff und 86; Lothar Gassmann, Rudolf Steiner und die Anthroposophie, Berneck 1994, 96.

8 Vgl. Adolf Baumann, Wörterbuch der Anthroposophie, München 1991, 211.

9 Dazu Klaus von Stieglitz, Die Christosophie Rudolf Steiners. Voraussetzungen, Inhalt und Grenzen, Witten 1955, 20-22 und 253f; ferner Richard Geisen, Anthroposophie und Gnostizismus, a.a.O., 401f.

10 Vgl. Rudolf Steiner, Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895), Dornach 31963 (GA 5). Siehe zu Nietzsches Spiritualität näherhin Werner Thiede, „Wer aber kennt meinen Gott?“, in: ZThK 4/2001, 462-500, bzw. das Nietzsche-Kapitel in: ders., Der gekreuzigte Sinn. Eine trinitarische Theodizee, Gütersloh 2007.

11 Vgl. Rudolf Steiner, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901), Dornach 61987 (GA 7). Selbst die Ausführungen über den so christosophisch orientierten Jakob Böhme kommen nicht auf Christus zu sprechen und schildern den Theosophen lediglich als „Organ des großen Allgeistes“ (123).

12 So Klaus von Stieglitz, Christosophie, a.a.O., 31.

13 Steiner berichtet: „Das Studium von Blavatskys ‚Geheimlehre’ betrieben nur wenige; aber in demjenigen, was nun die Nachfolgerin der Blavatsky, Annie Besant, als die damalige Theosophie vortrug, waren diese Menschen bewandert ...“ (GA 258, 34f).

14 Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, hg. v. Marie Steiner (1925, GA 28), Stuttgart 1948, 354.

15 Rudolf Steiner, Das Christentum als mystische Thatsache und die Mysterien des Altertums, Berlin 1902, 134.

16 Ebd. „Als Thatsache, die für die ganze Menschheit Geltung hat, mußte es der Mensch gewordene Logos durchmachen“ (ebd.).

17 Annie Besant, Esoterisches Christentum oder Die kleinen Mysterien (1903), Leipzig 21911 (autorisierte Übersetzung), 147 und 153.

18 Vgl. hierzu und zum Folgenden näherhin meine Habilitationsschrift „Wer ist der kosmische Christus? Karriere und Bedeutungswandel einer modernen Metapher“ (Göttingen 2001), bes. Kap. IV.

19 Vgl. näherhin Helmut Zander, Reinkarnation und Christentum. Rudolf Steiners Theorie der Wiederverkörperung im Dialog mit der Theologie, Paderborn 1995.

20 Näheres zu Steiners Lehre von den beiden Jesus-Knaben bei Jan Badewien, Anthroposophie. Eine kritische Darstellung, Konstanz 41990, 94ff.

21 Vgl. Pupul Jayakar, Krishnamurti. Leben und Lehre, Freiburg i. Br. 1988, 45f.

22 Vgl. Rudolf Steiner, Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit (1911), Dornach 91974 (GA 15), 84.

23 Ebd.

24 Rudolf Steiner, Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe (1912/13), Dornach 41982 (GA 142), 128.

25 Rudolf Steiner, Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken V (1924), Dornach 1995 (GA 346), 230.

26 So heißt bekanntlich der Gottesdienst der Christengemeinschaft (vgl. Engelbert Fischer, Die Menschen-Weihehandlung. Was ist das?, Stuttgart 2002).

27 Friedrich Rittelmeyer, Rudolf Steiner =, in: Die Christengemeinschaft 2 (1/1925), 1.

28 Hans-Werner Schroeder, Die Christengemeinschaft. Entstehung, Entwicklung, Zielsetzung, Stuttgart 1990, 47 und 49.

29 Zu seinem Anspruch, in der „Akashachronik“, einer Art göttlichem Weltgedächtnis, lesen und von daher ein „Fünftes Evangelium“ ausbreiten zu können, vgl. Friedrich Heyer, Anthroposophie, a.a.O., 52ff.

30 Vgl. Josef Dvorak, Satanismus, München 1989, 312f.

31 Johannes Lenz, Priestertum im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart 1988, 91.

32 Ebd., 94.

33 Ebd., 68f.

34 Ebd., 96.

35 Ebd., 95.

36 Vgl. Helmut Zander, Friedrich Rittelmeyer. Eine Konversion vom liberalen Protestantismus zur anthroposophischen Christengemeinschaft, in: Friedrich Wilhelm Graf / Hans Martin Müller (Hg.), Der deutsche Protestantismus um 1900, Gütersloh 1996, 238-297; Christoph Führer, Aspekte eines „Christentums der Zukunft“. Zur Theologie und Spiritualität Friedrich Rittelmeyers, Stuttgart 1997; Gerhard Wehr, Friedrich Rittelmeyer. Sein Leben – Religiöse Erneuerung als Brückenschlag, Stuttgart 1998.

37 Ebd., 203.

38 Ebd., 106.

39 Friedrich Rittelmeyer, Rudolf Steiner †, a.a.O., 1.

40 „Daß der Kultus der CG nichts anderes ist als ritualisierte Anthroposophie, wird niemand bestreiten können, der sich näherhin damit befaßt hat – trotz anderslautender Beteuerungen der CG“ (Thomas Hartmann, Anthroposophie als Kultus, in: DtPfrBl 10/1990, 426-429, hier 429).

41 Vgl. die Äußerungen von 1923 in der Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 259, 173 und 257.

42 Vgl. näherhin Werner Thiede, Wer ist der kosmische Christus?, a.a.O., Kap. V.