Religionspsychologie

Die Religionspsychologie untersucht Formen, Gesetze und Entwicklungen des religiösen Lebens auf individueller Ebene oder als Gruppenphänomen. Sie analysiert die psychologischen Voraussetzungen, Bedingungen und Vorgänge beim religiösen Erleben, Denken, Fühlen und Handeln. Sie befindet sich auf der Schnittstelle zwischen der Psychologie und der Religionswissenschaft. In der Pastoralpsychologie werden religionspsychologische Erkenntnisse auf die pastorale Praxis angewendet. Zum Verständnis neuer religiöser Bewegungen, intensiver religiöser Gruppenerfahrungen und für den Umgang mit spirituellen Krisen sind religionspsychologische Einsichten weiterführend.

Zur Geschichte

Der puritanische Prediger Jonathan Edwards führte bereits 1746 erste empirisch-psychologische Studien durch, um echte spirituelle Erfahrungen von falschem Enthusiasmus zu unterscheiden. Im Pietismus wurde die Umformung und Gestaltung der Seele mit intensiven psychologischen Mitteln betrieben, etwa im Bußkampf und bei der Bekehrung. Manche Historiker deuten die pietistische Frömmigkeit des 18. Jahrhunderts deshalb auch als den Übergang von der kirchlichen Seelsorge zur Psychologie. Die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts konstituierende moderne Religionspsychologie erhielt von Edwards‘ psychologischen Studien zur Bekehrung und zur frommen Lebensführung und vom Pietismus wesentliche Impulse. Einen weiteren Anstoß zur Gründung der Religionspsychologie als Zweig der Psychologie gab Schleiermachers Hermeneutik, in der die grammatische Textinterpretation um eine psychologische erweitert wurde.

Mit dem Beginn der Psychologie als empirischer Sozialwissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch religiöses Erleben und Verhalten wissenschaftlich untersucht, und es entstand ein neuer psychologischer Forschungszweig mit regen Aktivitäten. Als Begründer dieser Disziplin gilt der Pfarrerssohn Wilhelm Wundt, der im Jahr 1879 in Leipzig das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie gründete, das vor allem Sinnesreize erforschte. Neben einer „Allgemeinen Psychologie“ legte Wundt eine zehnbändige „Völkerpsychologie“ vor. In dieser kulturwissenschaftlichen Untersuchung werden die höheren geistigen Prozesse wie die Entwicklung des Denkens, der Sprache, der Fantasie und der Religion beschrieben.

Aus anthropologischer Sicht wird der Mensch als ein „Kulturwesen“ charakterisiert, seine kulturproduktiven Fähigkeiten heben ihn von der Tierwelt ab. Der Mensch besitzt aus evolutionspsychologischer Sicht von Natur aus keine „Instinktsicherheit“ wie Tiere. Während Tiere an ihre Umwelt gebunden sind, schafft sich der Mensch seine Umwelt. Die menschlichen Kulturleistungen wie Kunst, Musik, Wirtschaft, Werbung, Religion oder Recht haben sich regional in sehr unterschiedlichen Traditionen entwickelt und lassen sich wissenschaftlich untersuchen. Während jedoch andere kulturelle Phänomene heute psychologisch intensiv erforscht werden, fristet die Religionspsychologie in Deutschland immer noch ein Schattendasein.

Neben der kulturwissenschaftlichen Untersuchung kann man in der Blütezeit der deutschsprachigen Religionspsychologie bis in die späten 1920er Jahre drei weitere methodische Zugänge zur Religiosität unterscheiden. Bei der „experimentellen Introspektion“ wurden unmittelbar nach der Lektüre religiöser Schriften die inneren Erlebnisse protokolliert und analysiert. In der phänomenologischen Richtung wurden religiöse Rituale untersucht, und aus tiefenpsychologischer Perspektive wurden systematische Zusammenhänge zu unbewussten Wünschen hergestellt.

Durch den Behaviorismus, die Dialektische Theologie und die Diskreditierung der Religion durch den Nationalsozialismus kam die religionspsychologische Forschung zum Erliegen. Während in den USA seit den 1960er Jahre die quantifizierende religionspsychologische Forschung einen enormen Aufschwung verzeichnet, entsprechende Fachgesellschaften gegründet wurden und zahlreiche Fachbücher erschienen, blieb die Wiederbelebung dieser psychologischen Teildisziplin in Deutschland aus. Eine Ursache ist auch in der Bevorzugung quantifizierender Forschung der Psychologie zu sehen, die „weiche“ und komplexe Phänomene wie Glaubensüberzeugungen übergangen hat. Dagegen hat der amerikanische Fachverband der Psychologen (APA) in den letzten 15 Jahren über ein Dutzend (!) Lehrbücher zur Psychologie der Religiosität und Spiritualität herausgegeben. Religionspsychologische Erkenntnisse auf Grundlage empirischer Studien werden in dem Fachjournal „Psychology of Religion and Spirituality“ veröffentlicht. Kenneth Pargament (2013) hat mit Kollegen ein zweibändiges Handbuch herausgegeben, das den aktuellen Wissensstand zusammenfasst.

Obwohl deutschsprachige theologische Autoren viel beachtete und differenzierte religionspsychologische Lehrbücher vorgelegt haben (Susanne Heine, Wien; Anton Bucher, Salzburg; Bernhard Grom, München), wird häufig immer noch der Verdacht der christlichen Voreingenommenheit geäußert und fehlende Distanz zum Forschungsobjekt kritisiert. Ohne Zweifel ist eine ergebnisoffene Forschung auch bei dem persönlich bedeutsamen Thema des Glaubens wichtig. Allerdings wird die Förderung religionspsychologischer Forschung in den USA von der Templeton-Stiftung mit ihrem Credo „Eine spirituelle Welt ist eine bessere Welt“ dominiert, wodurch manche Studiendesigns und Ergebnisse fragwürdig sind. Außerdem verbietet die andersartige Religionskultur der USA eine direkte Übertragung der Studienergebnisse auf europäische Verhältnisse.

Methodische Herausforderungen

Die Religionspsychologie strebt einen unvoreingenommenen, neutralen Zugang zum religiösen und spirituellen Erleben und Verhalten an. Dabei hat sich das Prinzip vom Ausschluss der Wahrheitsfrage bewährt. Gemeint ist damit, dass die Psychologe religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen erforscht, ohne dabei die Frage nach der faktischen Existenz des als „Absolutes“, „Kosmos“, „Göttliches“ o. Ä. beschriebenen Phänomens zu berücksichtigen. Allerdings liegen bis heute keine verbindlichen Definitionen der Konzepte Religiosität und Spiritualität vor. Es wird kontrovers diskutiert, ob Religiosität oder Spiritualität das umfassendere Konzept ist. Während in der deutschsprachigen Psychologie und Religionswissenschaft eher Zurückhaltung und Skepsis gegenüber dem Begriff „Spiritualität“ herrschen – ähnelt er doch dem Begriff „Spiritismus“ –, hat er in der englischsprachigen Literatur in kurzer Zeit einen rasanten Aufstieg erlebt und den Begriff „Religion“ längst ins Abseits gestellt. „Spirituell, aber nicht religiös“ ist dort eine häufig anzutreffende Selbsteinschätzung, die auch hierzulande im Aufschwung begriffen ist. Nach dem Religionsmonitor 2013 gab schon jeder Fünfte in Deutschland an, „spirituell“ gegenüber „religiös“ als Selbstbezeichnung zu bevorzugen.

Die Bielefelder Forschergruppe um Heinz Streib (2015) bevorzugt dagegen weiterhin den Begriff Religion und ordnet Spiritualität als privatisierte, erfahrungsbezogene Variante der Religion unter. Die Bielefelder Forscher grenzen Spiritualität durch ihre Erfahrungsorientierung und Privatisierung von den beiden anderen Formen der Religion, der Kirche und der Sekte, ab. Spiritualität setzen sie damit dem klassischen, von Ernst Troeltsch beschriebenen Konzept der Mystik gleich. Werden damit aber nicht die häufig antireligiösen Affekte der „Spirituellen“ übergangen, die eine solche Einordnung als Untergruppe von Religion ablehnen würden?

Immer noch fehlen kulturell angepasste Fragebögen, um religiöse und spirituelle Einstellungen, Haltungen und Praktiken angemessen erfassen und damit besser verstehen zu können.

Aufgaben und Erkenntnisse der Religionspsychologie

Gesellschaftliche Herausforderungen wie die Migrationsströme und ein bedrohlich zunehmender Fundamentalismus weisen auf die Bedeutung der Religionspsychologie hin. Die Pluralisierung der Glaubensüberzeugungen in der Gesellschaft macht ein kultursensibles Vorgehen unverzichtbar. Die Religionspsychologie liefert Verständigungshilfen, um das interreligiöse Gespräch und das Verstehen fremder Glaubenshaltungen zu ermöglichen. Der Versuchung nach Kontrolle über das Unverfügbare, die das fundamentalistische Denken kennzeichnet, kann sie durch die Förderung einer individuellen Glaubensentwicklung Toleranzfähigkeit und das Aushalten von Zweifeln und Widersprüchen entgegensetzen.

Auch für andere Anwendungsgebiete sind religionspsychologische Erkenntnisse relevant. Für die Erhebung eines demografischen „Religionsmonitors“ für Deutschland wurden genuin deutschsprachige Instrumente zur Erfassung der subjektiven Bedeutsamkeit (Zentralität) und der inhaltlichen Ausprägung entwickelt. In vielen anderen Bereichen besteht jedoch religionspsychologischer Forschungsbedarf. Seit einigen Jahren wird bemängelt, dass die klassischen Modelle religiöser Entwicklung von theologischen Vorverständnissen geprägt sind und der Überarbeitung bedürfen. Hier ist besonderes die Konversionsforschung von Interesse, weil Glaubenswechsel in pluralistischen Gesellschaften häufiger vorkommen und oft mit Konflikten einhergehen. Aus der Verbindung von Neuro- und Religionswissenschaft sind neue, vielversprechende Ansätze zum Verständnis der biologischen Grundlagen der Religiosität entstanden. Um die Religionspsychologie in Deutschland zu revitalisieren, sind vor allem eigenständige Forschungsprojekte nötig.

Psychologische Aspekte neuer religiöser Bewegungen

Aus verschiedenen Perspektiven helfen religionspsychologische Einsichten, die Besonderheiten neuer religiöser Bewegungen besser zu verstehen. Sozialpsychologisch können die Gruppenmechanismen aufgezeigt werden, mit denen Macht und Kontrolle durch den Leiter ausgeübt werden. Persönlichkeitspsychologisch können die individuellen Bedürfnisse und Defizite beschrieben werden, aufgrund derer einzelne Menschen sich freiwillig unterdrückerischen Gruppenstrukturen unterwerfen. Die frühere Erklärung, die Mitglieder manipulativer Gruppen seien einer „Gehirnwäsche“ unterzogen worden, ist durch andere Modelle relativiert worden. Im Rahmen der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psycho-Gruppen“ des Deutschen Bundestags wurde das Modell der „Passung“ entwickelt. Es geht davon aus, dass ein Problemlösungsversuch eines Betroffenen auf die passenden Abwehr- und Bewältigungsstrategien der Gruppe trifft. Ein selbstunsicherer, antiautoritär erzogener Student findet zum Beispiel in dem exakt durchstrukturierten Alltag als Zeuge Jehovas Halt, Orientierung und Sinn. Das Modell der Passung kann durch die Analyse der Schüler-Lehrer-Beziehung auch erklären, auf welche Weisen sowohl elementare Bedürfnisse des Schülers als auch des Lehrers gestillt werden, sodass beide Seiten von einer solchen Konstellation profitieren. Der Schüler fühlt sich zum Beispiel aufgewertet, von einem verehrten spirituellen Meister lernen zu dürfen, und der Narzissmus des Meisters wird durch die Bewunderung seiner Schüler genährt.

Klinische Studien belegen, dass intensive Religiosität bei manchen unter bestimmten Voraussetzungen ein Teil der psychischen Störung, bei anderen aber auch ein Teil der Lösung sein kann. Auf der Suche nach tragenden Werten und weltanschaulicher Orientierung haben die therapeutischen Ressourcen der Weltreligionen das Interesse der Gesundheitsforscher geweckt. Religionsvergleichende Untersuchungen haben ergeben, dass die großen Weltreligionen folgende sechs Kerntugenden beinhalten: Weisheit/Wissen, Mut, Liebe/Humanität, Gerechtigkeit, Mäßigung, Spiritualität/Transzendenzbezug. Wenn es diese Eigenschaften in Tablettenform gäbe – eine Pharmafirma mit solchen Produkten könnte hohe Gewinne erwirtschaften! Weil es jedoch um kognitive, emotionale, mitmenschliche und moralische Stärken geht, deren therapeutische Potenziale offensichtlich sind, fragen auch Psychotherapeuten vermehrt nach Wegen, diese Einstellungen zu vermitteln und therapeutisch zu nutzen.

Psychologie und Theologie

Die Religionspsychologie trägt wesentlich zu einem differenzierten Blick auf die biografischen Einflüsse auf das Gottesbild, auf manipulative Beziehungsgestaltungen und gesundheitsförderliche und krankmachende Formen der Religiosität bei. Schon Karl Rahner hat in seinem Buch über Transzendenzerfahrungen der Psychologie die Entscheidung überlassen, ob eine spirituelle Erfahrung personal authentisch ist und sich stimmig in die Identitätsentwicklung einfügt. Hier zeigt sich die besondere Herausforderung einer Zusammenschau theologischer und psychologischer Perspektiven, um menschliche Selbstentfaltung bestmöglich zu unterstützen.

Weil der Glaube auch eine menschliche Seite hat – das individuelle Erleben von Gottes Reden und Handeln sowie die Gestaltung der Beziehung zu Gott, haben religionspsychologische Überlegungen ihre Berechtigung und ihren Sinn. Psychologie und Theologie können einander hilfreich ergänzen. Die Psychologie bringt vor allem die Bedeutung der Gefühle, der Erinnerung, der Vorstellungskraft und der Beziehungsqualität ein, die Theologie die wissenschaftliche Reflexion der Glaubensbezüge. Für die Theologie kann sich bei einer Kooperation von Theologie und Psychologie ihr seelsorglich-therapeutisches Potenzial neu und vertieft erschließen, für die Psychologie der Umgang mit religiösen Fragen verbessern.

Die große Herausforderung besteht darin, beide Sichtweisen so ins Gespräch zu bringen, dass sie ohne Totalanspruch auf die Deutungsmacht gemeinsam die Wirklichkeit des Menschen erkunden. Für die Psychologie hieße das, das Einwirken der Schöpferkraft Gottes durch den Heiligen Geist und damit eine transzendente Wirklichkeit nicht auszuschließen. Seitens der Theologie würde die Bereitschaft erforderlich sein, stärker die psychologischen Funktionen religiösen Erlebens und Verhaltens zu untersuchen und die menschliche Seite des Glaubens in den Blick zu nehmen. Diese Modellskizze einer dialogischen Kooperation wird aber nur möglich, wenn beide Seiten auf der Basis eines in beiden Wissenschaftsbereichen anschlussfähigen Menschenbildes zusammenarbeiten, ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen und die fachlichen Grenzen anerkennen.


Michael Utsch


Literatur

Bucher, Anton, Psychologie der Spiritualität, Weinheim 2014

Grom, Bernhard, Religionspsychologie, München 2007

Heine, Susanne, Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden, Göttingen 2005

Hemminger, Hansjörg, Grundwissen Religionspsychologie. Ein Handbuch für Studium und Praxis, Freiburg i. Br. 2003

Hofmann, Liane / Heise, Patrizia (Hg.), Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch für Theorie, Forschung und Praxis, Stuttgart 2017

Pargament, Kenneth / Exline, Julie / Jones, James (Hg.), APA Handbook of Psychology, Religion, and Spirituality (2 Bde.), Washington 2013

Rahner, Karl, Visionen und Prophezeiungen. Zur Mystik und Transzendenzerfahrung, Freiburg i. Br. 1989

Streib, Heinz / Keller, Barbara, Was bedeutet Spiritualität? Befunde, Analysen und Fallstudien aus Deutschland, Göttingen 2015

Utsch, Michael / Bonelli, Raphael / Pfeifer, Samuel, Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen, Berlin 2014