AG EvoBio

Radikalisiert sich „Wort und Wissen“?

Der neue Stil der Evangelikalen in Baiersbronn

[AG EvoBio s. Anmerkung]

„Fundamentalismus“ bezeichnet die kompromisslose Überzeugung, wonach der eigene weltanschauliche (politische bzw. religiöse) Standpunkt der einzig richtige sei, weil er sich auf eine absolut wahre bzw. göttlich autorisierte Grundlage berufen könne. In diesem Sinn meint „christlicher Fundamentalismus“ den Glauben an die Irrtumslosigkeit der Bibel sowie die Richtigkeit der eigenen Auslegung. Dieser Standpunkt bekämpft dann konsequenterweise alles, was die (wörtliche, zumindest jedoch inhaltlich absolute) Richtigkeit der Bibel kompromittieren könnte. Daher wendet er sich zum einen gegen aufgeklärte Theologie (insbesondere gegen die historisch-kritische Methode) und zum anderen gegen alle Wissenschaft(en), deren Erkenntnisse gegen die Historizität biblischer Geschichten ins Feld geführt werden können, allen voran die Evolutionstheorie.

Evangelikalismus hingegen bezeichnet eine bestimmte Art der Frömmigkeit vor allem im Protestantismus, erwachsen aus der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts sowie (direkt und indirekt) aus dem Pietismus des 18. Jahrhunderts. Christlicher Fundamentalismus und Evangelikalismus sind unterschiedliche, aber einander stark überlappende Phänomene und in denselben protestantischen Milieus anzutreffen: in Freikirchen, unabhängigen Gemeinden und insbesondere Aussiedler-Gemeinden mit osteuropäischen Wurzeln.

Der Hauptvertreter der protestantisch-fundamentalistischen Evolutionsleugnung im deutschen Sprachraum ist die Studiengemeinschaft Wort und Wissen (kurz: W&W)2, ein eingetragener Verein mit einem halben Dutzend fest angestellter und einem noch etwas größeren Kreis ehrenamtlicher Mitarbeiter. Es besteht eine enge Vernetzung mit vielen deutschen Gemeinden mit Aussiedler-Hintergrund sowie mit Freikirchen. W&W argumentiert seit Jahrzehnten im Wesentlichen gegen die Evolutions- und die Urknalltheorie und vertritt im Kern die Thesen des aus den USA gekommenen Kurzzeit-Kreationismus (Young-Earth Creationism), wonach die Erde und das Leben vor 6000 bis 10 000 Jahren durch Gottes Wort direkt erschaffen wurden. Die anderslautenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse lassen sich – so W&W – naturwissenschaftlich fundiert kritisieren. Neben dem Kurzzeit-Kreationismus vertritt W&W auch Thesen der sogenannten Bewegung für ein „Intelligentes Design“ (ID).

W&W wurde 1979 gegründet. Nach den Anfangsjahren, die von den Gründern Horst W. Beck und Theodor Ellinger geprägt waren, begann in Baiersbronn 1985 die „Ära Junker & Scherer“ (Reinhard Junker und Siegfried Scherer). Insbesondere dank Siegfried Scherer3, einem international renommierten Biowissenschaftler, war der Stil zumeist sachlich, was keine Selbstverständlichkeit ist: Z. B. die von dem Australier Ken Ham gegründete, kreationistische, mittlerweile weltweit agierende Organisation „Answers in Genesis“4  ist für ihre aggressive Argumentation bekannt. Gleiches gilt für den im deutschen Sprachraum aktiven Zeugen Jehovas und kreationistischen bzw. Intelligent-Design-Proponenten Wolf-Ekkehard Lönnig.5  Junker und Scherer sind übrigens die Hauptautoren und Herausgeber des inzwischen in siebter Auflage erschienenen Buchs „Evolution. Ein kritisches Lehrbuch“6. W&W vertreibt es als Lehrbuch: Es findet als solches in christlichen Bekenntnisschulen Verwendung; ansonsten ist es in keinem Bundesland als Schulbuch anerkannt. Dieses Buch wurde von Auflage zu Auflage weniger apodiktisch; an vielen Punkten werden „Rückzugsgefechte“ erkennbar.7
 
W&W publiziert – so wie alle para- und pseudowissenschaftlichen Autoren – in fachfremden (insbesondere in evangelikal / fundamentalistisch orientierten) Verlagen sowie im Internet und somit abseits der üblichen wissenschaftlichen Publikationswege und daher auch vorbei am wissenschaftlichen Diskurs. Der Grund ist offensichtlich: W&W hat – so wie faktisch alle Kreationisten – keine Laboratorien und keine wissenschaftlichen Arbeitsgruppen, Forschung findet nicht statt. Die Tätigkeit erschöpft sich darin, wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Literatur zu durchforsten auf der Suche nach Zitaten, die man gegen Urknall- und Evolutionstheorie ins Feld führen könnte. Der Umgang mit den Quellen ist dabei allzu oft nicht regelrecht; auch dies ist eine Gemeinsamkeit in allen Pseudowissenschaften.

Natürlich gibt es, solange es den Kreationismus gibt, auch komplementäre antikreationistische Bewegungen und Organisationen. Im deutschen Sprachraum ist die AG EvoBio8  eine der aktivsten: Sie ist eine Arbeitsgemeinschaft unter dem Dach des VBiO (Verband Deutscher Biologen) und hat es sich zur Aufgabe gemacht, über Evolution und Kreationismus aufzuklären sowie Informationen und Material z. B. für Lehrer zur Verfügung zu stellen; daher sind W&W und die AG EvoBio seit vielen Jahren Antagonisten. Zwar fand eine direkte Diskussion zwischen W&W und der Evolutionswissenschaft aus o. g. Gründen niemals statt, aber immerhin gab es in der Ära Junker-Scherer immer wieder (mehr oder weniger sachliche) Dispute zwischen W&W und der AG EvoBio.

Die Anti-Wissenschaftsallianz

Der Argumentationsstil bei W&W begann sich jedoch zu ändern, als Scherer 2006 den Vorsitz abgab, sich ab 2008 langsam vom Kreationismus distanzierte und sich auch allmählich von W&W löste. Sein früherer Weggefährte Reinhard Junker steht ganz am Ende seiner Berufstätigkeit und wird somit den Kurs in naher Zukunft ebenfalls nicht mehr mitbestimmen. Und mit der neuen Generation bei W&W ist der Ton dann rauer geworden.

Mit den Beiträgen von Markus Widenmeyer – seit 2021 bei W&W, von Hause aus Chemiker und ab 2015 für einige Jahre aktiver AfD-Politiker – wurde die Argumentation auch kruder.9  In der Tat gibt es seit langer Zeit Verbindungen zwischen strenggläubigen und rechts-konservativen Kreisen: Was in den USA zwischen Evangelikalen und Republikanern gilt, ist mittlerweile auch in Deutschland immer stärker zu beobachten.10 

Mittlerweile werden von W&W fundierte Einwände gegen ihre Thesen entweder ignoriert oder in verzerrender Weise rezipiert und beantwortet,11  sodass W&W keinen auch nur ansatzweise sinnvollen Diskurs mit irgendjemandem außerhalb des eigenen Wirkungsbereichs führt. 2019 trat dann ein weiterer Protagonist in die erste Reihe von W&W: Pieter / Peter Borger. Dass mit ihm der Paradigmenwechsel in der Argumentations- und Kommunikationskultur sowie auch in der Strategie von W&W vollendet wurde, ist spätestens klar, seit Borger sich mit der den Querdenkern nahestehenden Ulrike Kämmerer zusammentat. Damit wurde ein völlig neues Thema ohne Bezug zum bisherigen, biblisch-fundamentalistischen Anliegen aufgegriffen. Gemeinsam mit zwanzig anderen Autoren publizierten Borger und Kämmerer eine pseudowissenschaftliche Kritik am Corona-PCR-Test von Viktor Corman, Christian Drosten et al.:12  Darin wird behauptet, der Corman-Drosten-PCR-Test sei untauglich. Die Borger-Kämmerer-Gruppe glaubt, zehn (!) „schwerwiegende Fehler“ ausgemacht zu haben. Es ist allerdings leicht zu zeigen, dass diese Kritik in der Sache unfundiert ist.13  Ferner besteht die Autorenliste aus Personen, die keine Kompetenz für das Thema mitbringen und / oder durch diverse pseudowissenschaftliche Aktivitäten aufgefallen sind. Konsequenterweise gelang der Gruppe keine wissenschaftliche Veröffentlichung ihrer Kritik. Unter den Autoren findet sich auch der W&W-Vorsitzende Henrik Ullrich: Offenbar wird Borgers neuer Stil von W&W aktiv unterstützt, und man sucht den Schulterschluss mit anderen pseudowissenschaftlichen bzw. verschwörungstheoretischen Akteuren, deren Motivation nichts mit dem ursprünglichen, evangelikal-fundamentalistisch geprägten Anliegen von W&W zu tun hat.

Nachdem der AG-EvoBio-Vorsitzende Andreas Beyer eine Widerlegung der Borger-Kämmerer Kritik publiziert hatte,14  entwickelte sich eine Diskussion zwischen ihm und Borger, deren Schärfe zunahm:15  Borger bezeichnet den AG-Vorsitzenden (sowie z. T. auch andere AG-Mitglieder) als „darwinistischen Eiferer“, „unehrlich“; er erweckt den Anschein, Beyer sei kein Wissenschaftler (mehr), degradiert ihn gar zum „Lehrer“. Im September / Oktober 2021 schrieb Borger die Leitung der Westfälischen Hochschule, Gelsenkirchen (Beyers Arbeitgeber), mehrfach an und beschuldigte Beyer, er habe mit seinen Publikationen (eben den Analysen besagter pseudowissenschaftlicher PCR-Kritik) „Mitglieder der Autorengruppe religiös beleidigt“ – freilich ohne diesen Vorwurf konkret zu belegen –, und drohte mit der Presse. Dies zeigt, auf welchen Ebenen W&W mittlerweile agiert.

Wenn man Beyers Texte liest, findet man weder religiös motivierte Kritik noch religiöse Beleidigungen. Da die Hochschule verständlicherweise nicht reagierte, erneuerte Borger seine Anschuldigungen: Er forderte, Beyer zu maßregeln, und drohte der Hochschule mit dem zur Querdenkerszene gehörenden Rechtsanwalt Reiner Fuellmich16. Fuellmich unterstellt „den Mächtigen“, mit den Corona-Maßnahmen „totale Kontrolle“ über die Bürger ausüben oder sogar die „Bevölkerung reduzieren“ zu wollen. Die Impfstoffe seien gar keine Impfstoffe, sondern die Covid-Impfung sei ein „genetisches Experiment“ an Menschen. „Idiot Drosten“ lüge über seinen PCR-Test, der nicht nur untauglich, sondern absichtlich schlampig konstruiert worden sei, um möglichst viele falschpositive Testergebnisse zu erzeugen. Wir bräuchten nochmals „Nürnberger [Nazi-] Prozesse“ gegen all diejenigen, die maßgeblich an Planung und Durchsetzung von Corona-Maßnahmen beteiligt waren.17 

Fazit

Bei W&W ist ein deutlich aggressiver werdender Aktionsmodus bemerkbar. Dies betrifft Wortwahl und Diktion ebenso wie die Wahl sonstiger Mittel: Mit der Presse und / oder juristischen Schritten zwecks Einschüchterung von Gegnern zu drohen, das ist typischer Stil von Pseudowissenschaftlern und Verschwörungsideologen. Und es ist mehr als bedenklich, dass W&W nun den Schulterschluss mit der Querdenker-Szene sucht: Bereits eine biblisch motivierte Kritik der Evolutions- und Urknalltheorie ist fragwürdig; noch viel fragwürdiger ist der Schulterschluss mit Leugnern der Corona-Pandemie, was viele Menschen dazu bringen kann, sich nicht impfen zu lassen und / oder Hygiene-Maßnahmen zu ignorieren. Das kann den betreffenden Personen großen Schaden zufügen, und man fragt sich, wie dies mit der christlichen Motivation von „Wort und Wissen“ vereinbar ist. So oder so: Die Radikalisierung ist unübersehbar, und das sind alarmierende Zeichen.


Autorenschaft s. Anmerkung 1, 01.01.2022

 

Anmerkungen

1  Verfasst vom Vorstand der AG EvoBio (Evolutionsbiologie): Andreas Beyer (Essen), Rudolf Öller (Bregenz), Martin Neukamm (Garching).

2  www.wort-und-wissen.org (Abruf der Internetseiten: 7.12.2021).

3  www.siegfriedscherer.de.

4  https://answersingenesis.org/de.

5  www.weloennig.de/internetlibrary.html.

6  www.evolutionslehrbuch.info.

7  www.laborjournal.de/rubric/buch/2014/b_03_01.php.

8  www.ag-evolutionsbiologie.de.

9  www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2019/widenmeyer-welt-ohne-gott-kritik-naturalismus-uebersicht.html.

10  www.boell-bw.de/de/2020/11/11/die-afd-eine-wahlalternative-fuer-die-die-christliche-rechte.

11  Siehe z. B. www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2019/widenmeyer-welt-ohne-gott-kritik-naturalismus-uebersicht.html; www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2021/evolution-erklaerungen-kritik-vogelfeder-vogelflug.html; www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2014/kreationismus-und-radiometrische-datierung.html.

12  https://cormandrostenreview.com.

13  Analysen von Andreas Beyer zum Corman-Drosten-„Review“: http://ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2021/Drosten-PCR-Borger-Report.pdf; www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2021/drosten-pcr-borger-corona-kreationismus.html.

14  Vgl. Fußnote 13.

15  Z. B. www.researchgate.net/publication/355175946.

16  www.stopworldcontrol.com/fuellmich; https://nurembergtrials.net; https://faktencheck.afp.com/dieses-video-klagt-anti-corona-massnahmen-als-verbrechen-gegen-die-menschlichkeit-basierend-aufhttps://plus.tagesspiegel.de/gesellschaft/fuellmich-g-123614.html; www.tagesspiegel.de/themen/reportage/reiner-fuellmich-von-die-basis-der-verschwoerungsideologe-der-kanzler-werden-will/27626022.html.

17  Siehe die ersten beiden Links in Fußnote 16.