Neuapostolische Kirche

Heftige interne Konflikte beim Öffnungsprozess

(Letzter Bericht: 2/2011, 62ff) Kann man einen Katechismus modifizieren, ohne zentrale Glaubensüberzeugungen aufzugeben? Die Neuapostolische Kirche (NAK) versucht seit einigen Jahren diesen Spagat und ist dabei bemüht, weder die konservativen noch die progressiven Kräfte in ihrer Kirche zu verprellen. Die Neuerungen in ihrer Glaubenslehre will die Kirchenleitung der NAK schrittweise bekanntgeben. Zentrale Lehrinhalte des für 2012 angekündigten Katechismus, in denen sich Änderungen ergeben haben, werden deshalb vorab in kircheneigenen Medien wie etwa der Mitgliederzeitschrift „Unsere Familie“ veröffentlicht. Dazu wurde ab Nr. 1/2011 eigens die neue Rubrik „Glauben – Wissen – Verstehen“ eingerichtet, und die dort abgedruckten Aufsätze sind auch im Internet abrufbar (www.bischoff-verlag.de/public_vfb/pages/de/family/lehre_und_erkenntnis). Als eine weitere Maßnahme wurde den NAK-Amtsträgern in der Februar-Ausgabe der internen Zeitschrift „Leitgedanken“ das neue Kirchenverständnis der NAK mitgeteilt. Dieser Ausschnitt aus dem neuen Katechismus rief heftige Reaktionen an der Kirchenbasis hervor. Nachdem ein Hannoveraner Bezirksältester allen Mitarbeitern seines Bezirks mitgeteilt hatte, dass er das neue Kirchenverständnis nicht vertreten könne, schlossen sich ihm viele andere an. In einer öffentlichen Liste im Internet haben sich mittlerweile fast 700 Amtsträger aus allen deutschen Gebietskirchen vom neuen Kirchenverständnis distanziert, da es aus ihrer Sicht nicht offen genug ist (www.glaubenskultur.de). Das Internet hat mit seiner ungefilterten Meinungsvielfalt dazu beigetragen, Entwicklungsprozesse in der NAK zu beschleunigen. Die autonomen Internetforen sind jedoch kürzlich vom Stammapostel kritisiert worden, weil sie keine sachgemäßen Diskussionen, sondern Polarisierungen fördern würden. Bei Lehrfragen sollen nach Wunsch des Stammapostels die Bezirksapostel, nicht jedoch Kirchenmitglieder konsultiert werden, weil dies zu einer verwirrenden Meinungsvielfalt führe. Ob im Zeitalter der Internetforen diese Informationspolitik mit ihrem zentralistischen Denken und Steuern noch angemessen ist, erscheint mehr als fraglich. Betreiber von kritisch-solidarischen NAK-Internetforen weisen hier zu Recht auf die Pressefreiheit hin. Kritik rief bei den Lesern der „Leitgedanken“ besonders das exklusive Kirchenverständnis hervor, das die folgenden beiden Zitate belegen (2/2011, 5f): „Die Kirche bedarf, um ihrer Aufgabe in allen Aspekten gerecht zu werden, des Apostelamtes. Wo das Apostelamt in der Einheit mit dem Stammapostel, der den Petrusdienst versieht, vorhanden ist, gibt es das geistliche Amt und die rechte Verwaltung der drei Sakramente ...“ – „In der neuapostolischen Kirche ... ist das möglich, was in den anderen Institutionen, die zur sichtbaren Kirche zählen, wegen der Ablehnung der gegenwärtig wirkenden Apostel nicht ausgeführt werden kann, nämlich die Wiedergeburt aus Wasser und Geist zu ermöglichen und Heiliges Abendmahl mit der wahren Gegenwart von Leib und Blut Jesu zu feiern.“ Die Diskussionen an der Kirchenbasis gerade über diese Sätze nahmen eine aus der Sicht der Kirchenleitung offenbar bedrohliche Eigendynamik an. Deshalb ergriff Stammapostel Wilhelm Leber in einer „Offiziellen Verlautbarung“ am 28. Februar 2011 erneut das Wort. Darin verteidigte er das „sehr weit“ angelegte neue Kirchenverständnis der NAK, in dem alle christlichen Kirchen Platz hätten. Er selbst sieht darin „eine bemerkenswerte Öffnung“ und eine klare Abkehr von der ehemals streng exklusiven Haltung, was eine gute Basis für ökumenische Kontakte bedeute. Gleichzeitig wies er die Befürchtung konservativer neuapostolischer Kreise zurück, dass damit das Apostelamt nichts mehr wert sei. Das „gegenwärtig wirksame Apostelamt“ stelle für neuapostolische Christen einen Mehrwert dar, der auf keinen Fall aufgegeben werde.

Um aber auch der Kritik progressiv gesinnter Mitglieder der NAK zu begegnen, fasste das Kirchenoberhaupt noch einmal die Fortschritte des neuen Kirchenverständnisses prägnant zusammen: „Ja, andere – nichtneuapostolische – Christen sind nicht vom Heil ausgeschlossen. – Ja, der Geist Gottes kann auch außerhalb der Neuapostolischen Kirche wirksam sein. – Ja, es ist denkbar, dass auch nichtneuapostolische Christen bei der Wiederkunft Christi angenommen werden. – Ja, auch Geistliche anderer Konfessionen können Werkzeuge in der Hand Gottes sein und vielfältige segensreiche Dienste verrichten.“Die beschwichtigende Stellungnahme des Stammapostels nahm sowohl den konservativen als auch den progressiven Kritikern am Kirchenverständnis den Wind aus den Segeln. Dennoch ist die Strategie, den neuen Katechismus auf Raten zu veröffentlichen, gefährlich. Denn würde die deutsche Fassung komplett veröffentlicht, könnten die einzelnen Zitate im Gesamtkontext des Katechismus gesehen werden. Vermutlich würde man neben dem Alleinstellungsmerkmal des Apostelamtes andere, ökumenisch verträgliche Akzente finden. Das doppelte Heilsverständnis im neuen Katechismus der NAK schlägt sich besonders im Amts- und Sakramentsverständnis nieder, es erschließt sich aber nur im Gesamtzusammenhang. Durch Teilpublikationen werden neue Fragen aufgeworfen, die nur mit Mutmaßungen beantwortet werden können.Nachdem im letzten Jahr die Erläuterungen zu den neuen Glaubensartikeln angegriffen wurden, geriet nun die Kirchenleitung der NAK wegen ihres Kirchenverständnisses unter Druck. Erneut kam die Kritik nicht aus dem konservativen, sondern aus dem liberalen Lager. Dort schätzt man die Lage inzwischen als dramatisch ein: Die Kirche befinde sich derzeit in der größten Krise seit dem Tod des Stammapostels Johann Gottfried Bischoff. Der Öffnungsprozess der NAK bleibt eine Gratwanderung, für deren Gelingen die Kirchenleitung mehr Fingerspitzengefühl und Kommunikationstalent benötigt.


Michael Utsch