Die Polyphonie des Dialogs – Die Erforschung interreligiöser Diskurse an der Schnittstelle von Wissenschaft und Zivilgesellschaft

Die Polyphonie des Dialogs – Die Erforschung interreligiöser Diskurse an der Schnittstelle von Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Eine innovative Verbindung von Grundlagenforschung zu jüdisch-christlich-muslimischen Diskursen und dem Wissenstransfer ihrer Ergebnisse in die Zivilgesellschaft ist das ambitionierte Ziel eines Forschungszentrums der FAU Erlangen-Nürnberg, das unter dem Namen „Bayerisches Forschungszentrum für Interreligiöse Diskurse“ (BaFID, www.bafid.fau.de) am 16. April 2021 in der Orangerie des Erlanger Schlosses eröffnet wurde. Es setzt die methodisch an einem vornehmlich begriffsgeschichtlichen Ansatz orientierte Arbeit einer Forschungsstelle fort, die bereits seit mehreren Jahren unter dem Titel „Key Concepts in Interreligious Discourses“ Schlüsselbegriffe der monotheistischen Religionen (Offenbarung, Freiheit, Gerechtigkeit, Glaube, Wahrheit u. a.) im Verhältnis zueinander sowie unter Berücksichtigung ihrer intellektuellen Kontexte untersucht. Bei der Ausrichtung der „trialogisch“ konzipierten Konferenzen, deren Ergebnisse sukzessive publiziert werden, steht das BaFID im kontinuierlichen Austausch mit einem international zusammengesetzten wissenschaftlichen Beirat, wird aber zugleich auch von einem hochkarätig besetzten Kuratorium mit Mitwirkenden aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Medien unterstützt. Die vom BaFID herausgegebene und thematische Schwerpunkte setzende Fachzeitschrift „Erlanger Jahrbuch für interreligiöse Diskurse“ soll neben dem wissenschaftlichen Input vor allem der Vernetzung der Zentren interreligiös ausgerichteter Forschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz dienen.

Die Eröffnungsveranstaltung ließ deutlich werden, wie sehr einerseits wissenschaftlich fundierte Kenntnisse über wesentliche Auffassungen, Praktiken, Strukturen und Entwicklungen im Judentum, Christentum und Islam für ein friedliches Miteinander in den Gesellschaften Deutschlands, Europas und des benachbarten Nahen Ostens an Bedeutung gewinnen, wie sehr andererseits aber auch die Wissenschaft selbst um eine fundierte Verhältnisbestimmung von Judentum, Christentum und Islam ringt. Die Pluralität, Diversität und Multidirektionalität kultureller, religiöser und weltanschaulicher Narrative und Perspektiven verunmöglicht einlinige Beurteilungen der damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen, lässt aber auch die Frage aufkommen, wie aus dieser komplexen Gemengelage ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander erwachsen kann.

Die Asymmetrien zwischen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und wissenschaftlicher Forschung spiegelten sich bereits in den Grußworten selbst. Während Universitätspräsident Joachim Hornegger den religionsübergreifenden und gesellschaftsorientierten Forschungsansatz des BaFID im Horizont einer aufklärerischen Dialektik von Toleranz und „Kritik am Bestehenden“ verortete, hob der Innen- und Integrationsminister der bayerischen Staatsregierung, Joachim Herrmann, vor allem auf die Bedeutung interreligiöser Verständigung für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen ab. Angesichts der u. a. von den UN festgestellten weltweit wachsenden Religiosität nehme auch der Bedarf an interreligiösen Dialogen und Diskursen zu.

Wie Frederek Musall, Professor für jüdische Philosophie an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, gleich zu Beginn seines Impulsvortrags kritisch anmerkte, sollten sich diese Dialoge nicht in einem auf das Gemeinsame ausgerichteten „inszenierten Miteinander“ erschöpfen. Die Herausforderung liege vielmehr darin, mit den in der interreligiösen Begegnung auftretenden Differenzen und Konfliktpotenzialen angemessen umzugehen und dabei den Dialog als einen mit der Politik vergleichbaren diskursiven Aushandlungsprozess in den Blick zu nehmen, in dem Menschen mit unterschiedlichsten Interessen und Motiven – „Zukunftsvisionäre, Realos, Fundis oder nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner Suchende“ – um eine Antwort auf die Frage ringen, wie sich trotz zunehmender religiöser Alterität eine gemeinsame Zukunft gestalten ließe.

Das erste große Potenzial des BaFID sieht Musall in der Verschiebung des Fokus vom Dialog auf den Diskurs. Sie ermöglicht, nicht nur ein vertieftes Bewusstsein für die Kontexte, Dynamiken und Wandlungsprozesse zu generieren, in die interreligiöse Dialoge eingebettet sind, sondern zugleich auch die in Mehr- und Minderheitskonstellationen verborgenen Machtverhältnisse und diskursiven Rahmungen offenzulegen und kritisch zu reflektieren. Entgegen der im interreligiösen Dialog gelegentlich zu beobachtenden Komplexitätsreduktion ziele das BaFID somit auf ein verstärktes Bewusstsein für die Komplexität, das heißt, für die Vielstimmig- und Vielschichtigkeit interreligiöser, in komplexe Transformations- und Deutungsprozesse eingebundener Dialoge. Den der Analyse zugrunde gelegten Schlüsselbegriffen interreligiöser Diskurse wird in den einzelnen Traditionen, wenn sie denn dort überhaupt als eigensprachliche Begriffe begegnen, ein z. T. sehr unterschiedlicher Stellenwert zugeschrieben, sodass das Desiderat der Forschung vor allem darin bestünde, herauszuarbeiten, wie bestimmte Begriffe in den einzelnen Traditionen verortet und konnotiert sind: „Mit vermeintlich gleichen Begriffen lässt sich durchaus etwas sehr Unterschiedliches meinen.“

Ein weiteres Potenzial des BaFID liegt Musall zufolge darin, im Gegenüber zu der in interreligiösen Diskursen zu beobachtenden „Tendenz zur Vereindeutigung“ ein Bewusstsein für die im Horizont der Pluralität unterschiedlichster Orientierungs- und Deutungsangebote auftretenden Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten zu vermitteln und diese „ambiguitätstolerant“ auszuhalten. Als Repräsentanten von Religion stehen sich religiöse Akteure eben nicht als monolithische Blöcke gegenüber, sondern markieren vielfältige Perspektiven und Positionen, die im Ringen um die Deutungshoheit und die Legitimation der jeweils eigenen Relevanz im Rahmen des Dialogs nicht selten dazu geeignet sind, beim Gegenüber mehr Irritation als Orientierung hervorzurufen. Darin liegt auch der Grund, warum interreligiöse Dialoge und Diskurse stets, wie Musall formuliert, „um Polyphonie bemüht“ sein sollten. Denn erst das Wissen um und das Bewusstsein für Polyphonie könne zur Dekonstruktion der Bilder, Vorurteile und Erwartungshaltungen beitragen, die in die dialogische Begegnung mit hineingetragen werden.

In der damit verbundenen Herausforderung der Förderung interreligiöser Ambiguitätstoleranz könne sich das BaFID schließlich als eine entscheidende „Schnittstelle zwischen akademischer Forschung und Zivilgesellschaft in Fragen religionswissenschaftlicher Reflexion und Kompetenz“ profilieren: Indem es religionswissenschaftliche Forschung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht und dabei zugleich die diskursive Verbindung und Überlagerung mit anderen weltanschaulichen Perspektiven und Positionen im Blick behält, könne es potenziell auch Impulse in die vielfältige Landschaft interreligiöser Initiativen und Formate senden. Die hier angesprochene Bedeutung der akademischen Third Mission stellte Barbara Schellhammer, Professorin für Interkulturelle und soziale Transformation an der Hochschule für Philosophie in München, in ihrem Grußwort nochmals eigens heraus und richtete damit den Blick auf den Transfer wissenschaftlicher Expertise in die Zivilgesellschaft, dem sich im BaFID neben der Videoreihe „Kurz erklärt“ vor allem die unter dem Namen „Bayerisches Interreligiöses Kolleg“ (BIK) veranstaltete und thematisch orientierte Ringvorlesung verpflichtet sieht. Schellhammer lag aber auch daran, nochmals den religionsübergreifenden Forschungsansatz des BaFID zu würdigen, der die monotheistischen Religionen eben nicht nebeneinander, sondern mit der Konzentration auf das inter- und die mit diesem „Zwischen“ verbundenen Transformationsprozesse in den Blick nimmt.

Als Direktor des BaFID knüpfte Georges Tamer in seinen die Eröffnungsfeier abschließenden Gedanken nochmals ausdrücklich an dieses inter- an und formulierte den Auftrag des BaFID dahingehend, die den drei monotheistischen Religionen inhärente und ihre Beziehungen in Geschichte und Gegenwart prägende Diskursivität in den Blick zu rücken und zugleich deren Wirkung auf interreligiöse Koexistenz zu prüfen. Das damit verbundene Ziel, den drei monotheistischen Religionen „wirksame Energien abzugewinnen, um gesellschaftsgefährdenden Strömungen entgegenzutreten“, sei, so gibt er zu, ein „ambitioniertes Ziel“: Was das BaFID dazu „beflügelt, das neue Wissenschaftsfeld der interreligiösen Diskurse zu beackern“, ist „die Hoffnung auf nützliche Früchte für unser Land und die Welt“. Es steht mit dieser Hoffnung nicht allein. Das bayerische Innen- und Integrationsministerium stellt ihm dazu umfangreiche finanzielle Mittel aus seinem Haushalt zur Verfügung.


Rüdiger Braun, 01.05.2021