Melanie Hallensleben

Rassismus bei Rudolf Steiner?

Anthroposophie und Waldorfschulen in aller Munde

Die Anthroposophie kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Waren es während der Corona-Pandemie speziell die Punkte Impfbereitschaft und Beteiligung an sog. Hygiene-Demos, wird seit einigen Monaten nun die Anthroposophie als Gegenstand eines breiteren Diskursfeldes debattiert. Dabei wird wiederholt Kritik an Rudolf Steiner geübt, dem Begründer der Anthroposophie, dem vorgeworfen wird, er sei rassistisch gewesen.

Seit Oktober 2022 haben mehrere Medienformate die Anthroposophie in den Blick genommen: Der Podcast der Petra-Kelly-Stiftung / Heinrich-Böll-Stiftung erschien im Oktober 2022, keinen Monat später folgte Jan Böhmermanns Satiresendung „ZDF Magazin Royale“ in Zusammenarbeit mit den unabhängigen JournalistInnen von „Krautreportern“ zum Thema Waldorfschulen. Das Magazin „Die Zeit Verbrechen“ veröffentlichte im November 2022 einen Artikel zu Übergriffigkeit an einer Waldorfschule1, die „Welt“ schließlich am 30.12.2022 eine Auseinandersetzung mit Steiner selbst, betitelt mit Lieblingsfeind Rudolf Steiner. Der „Stern“ brachte im Januar und Februar dieses Jahres gleich sechs Artikel zur Anthroposophie, am 9.1.2023 mit der Schlagzeile: Religionsexperte über Begründer der Waldorfpädagogik: „Er hat eine esoterische Rassenlehre entwickelt“. Ab dem 6.3.2023 ist im SWR eine dreiteilige Reportage-Reihe Auf den Spuren der Anthroposophie mit Frank Seibert zu sehen. Wenngleich der Vorwurf des Rassismus nicht in allen der genannten Formate erhoben wird, ist Steiners Rassenlehre doch ein immer wiederkehrendes Thema. Die Januar-Ausgabe 2023 der anthroposophischen Zeitschrift „info3“ hat zu den Medienberichten, insbesondere zur Böhmermann-Sendung, ausdrücklich Stellung genommen.

Dietrich Krauß, Jan Böhmermann und der Rassismusvorwurf

Im Oktober 2022 erschien die vierte Folge des von der Petra-Kelly-Stiftung in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Podcasts Ein Spaziergang im Süden. Der Titel der Folge, Dr. Dietrich Krauß | Die Esoteriker*innen, die mitlaufen2, verrät bereits, dass der Gast der Sendung der aus der Satiresendung „Die Anstalt“ (ZDF) bekannte Journalist und Redakteur Dietrich Krauß ist. Inhaltlich beschränkt sich die Sendung dann auf die Anthroposophie, die Waldorfschulen und Steiner selbst, ohne die moderne Esoterik im Allgemeinen zu thematisieren. In der öffentlichen Debatte über die Hygiene-Demos und die ImpfkritikerInnen spielten die Waldorfschulen und die Anthroposophie immer wieder eine Rolle. Eine von der Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Studie, ausgeführt an der Universität Basel von Oliver Nachtwey und Nadine Frei3, bestätigt, dass verhältnismäßig viele Demonstrierende auf den Hygiene-Demos aus dem Umfeld der Anthroposophie stammen.4 Ursächlich hierfür seien, so Krauß im Podcast, dass es in der anthroposophischen Bewegung generelle Vorbehalte gegenüber dem Staat gebe, zudem herrsche eine antiwissenschaftliche Einstellung und – mit dieser verbunden – eine generelle Skepsis gegenüber Impfungen vor. Ferner sei das anthroposophische Menschenbild von einer „Hierarchisierung von Rassen“ geprägt, was „eine Verbindung nach rechts“ befördere. Die Anthroposophie berufe sich wie der Nationalsozialismus auf ein Naturgesetz, dem zufolge sich nur der gesunde Mensch durchsetzen könne. Krauß verleiht seiner These mit dem Hinweis Nachdruck, auch Rudolf Heß und Heinrich Himmler seien von einzelnen anthroposophischen Lehren fasziniert gewesen.

Im weiteren Verlauf der Sendung kritisiert Krauß die anthroposophische Karmalehre, nach der Krankheit und sog. Behinderungen „als eine Strafe“ angesehen werden, insofern der Mensch die Konsequenzen seines „Fehlverhaltens aus dem letzten Leben“ zu tragen habe. Die Passage mit der „Strafe“ war Anlass eines Beschwerdebriefes, woraufhin die Folge vorübergehend offline genommen wurde. Unterzeichnet war das Schreiben u. a. von den Vorstandsmitgliedern und GeneralsekretärInnen der Anthroposophischen Gesellschaft Monika Elbert und Michael Schmock.5

Ähnlich wie Krauß deutet Jan Böhmermann die anthroposophische Auffassung von Krankheit im Sinne einer Strafe, zudem erkennt auch er eine ideologische Nähe von Nationalsozialismus und Steiner. Böhmermann betitelte seine Satiresendung „ZDF Magazin Royale“ vom 18.11.2023: Wenn freie Entfaltung auf gefährliche Weltanschauung trifft: Waldorfschulen.Das Vorschaubild bei YouTube titelt: Menschen, Lernen, Tanzen, Geld.6Inhaltlich ist die Sendung breit aufgestellt, in knappen 22 Minuten wird ein Rundumschlag vorgenommen, der von einer allgemeinen Vorstellung der Anthroposophie über die Besonderheiten an Waldorfschulen bis hin zur anthroposophischen Kritik an der Corona-Impfung reicht.

Die Punkte Krankheit als Strafe und Nähe zu Hitler sind in ein wiederkehrendes Stilmittel der Satiresendung eingebettet: Nachdem Böhmermann dem Publikum zu verstehen gegeben hat, dass er sich mit der Anthroposophie so gar nicht auskenne, beginnt ein Einspieler im Stil eines bunten und comicartigen Erklärfilms für Kinder. Zu hören ist eine genervt klingende Mädchenstimme, welche die anthroposophische Kosmogonie als einen Prozess des Werdens und Vergehens von Planeten erklärt. Ohne die eigentliche anthroposophische Menschheitsentwicklung zu beschreiben, kommt sie auf die „Arier“ zu sprechen: „Rudolf Steiner hat auch gesagt, es gibt Wurzelrassen, wir Menschen in Europa gehören zu der arischen Wurzelrasse“ (7:05-7:10). Bildlich untermalt wird dies mit der Darstellung von drei Hitlerfiguren, die ihren rechten Arm nacheinander zum sog. Hitlergruß heben. Die Hitler-Darstellungen haben einen flächig gemalten Körper, der an typische anthroposophische Aquarell-Malerei erinnert. Am rechten Arm ist jeweils eine Hakenkreuzarmbinde angedeutet, die Hitler-Köpfe sind Schwarzweiß-Fotografien, die auf die Körper platziert wurden und im Kontrast zum Körper stehen. Weiter erzählt die Mädchenstimme: „Es gibt auch noch die Lemurier und die Atlantier. Aber die Arier sind weiterentwickelt, sagt Rudolf Steiner“ (7:10-7:18). Während die Lemurier7 mit einer Comic-Darstellung von verkleideten Lemuren (ähnlich wie aus der Comic-Serie King Julien) bildlich dargestellt sind, werden bei den Atlantiern SpongeBob und Patrick aus der Comic-Serie „SpongeBob Schwammkopf“ gezeigt. Die Einblendung der Comic-Figuren führt aber von den tatsächlichen Vorstellungen von Atlantis und Lemurien weg. Die Sequenz, bei der die Mädchenstimme sagt, dass die Arier weiterentwickelt seien, wird erneut mit dem Bild von den Hitler-Figuren untermalt. Diesmal liegt ihnen jedoch Steiner zu Füßen, der seinen Arm den Hitler-Figuren mit huldigender Geste entgegenstreckt. Die verbale und die bildliche Sprache suggerieren, Hitler und Steiner hätten sich ideologisch nahegestanden.

Wie der Podcast der Böll-Stiftung macht auch Böhmermanns Satiresendung die Deutung von Behinderung als Strafe zum Thema. So erklärt die Mädchenstimme, Krankheit sei eine „Strafe“ (7:41) im karmischen Geschehen, weswegen ihr Onkel selbst schuld daran sei, an Krebs gestorben zu sein. Zum eigentlichen Thema der Satiresendung, den Waldorfschulen, wird erläutert, dass die Anthroposophie zwar nicht in Waldorfschulen gelehrt werde, jedoch das Menschenbild in das Konzept einfließe (z. B. bei der Vier-Temperamenten-Lehre oder der angenommenen Entwicklung eines Menschen in Siebenjahresperioden). Letzteres sei der Grund dafür, dass SchülerInnen in Waldorfschulen erst ab der zweiten Schulklasse das Lesen lernen. Erst nach den ersten sieben Lebensjahren, in denen der Mensch nur über einen physischen Leib verfüge, entstehe der für intellektuelle Leistungen notwendige Ätherleib8. Des Weiteren geht Böhmermann darauf ein, dass in der pädagogischen Ausbildung für Waldorf-LehrerInnen auch spirituelle Themen Gegenstand des Curriculums sind. Und einen weiteren Punkt findet Böhmermann bedenklich: In der Waldorfschule sei es üblich, dass der / die KlassenlehrerIn eine Klasse die ersten acht Jahre hindurch betreue.

Bereits in den 1990er Jahren ist vermehrt Kritik an Steiner und seinem Rasse-Verständnis geübt worden.9 Erstaunlich ist an der gegenwärtigen Debatte rund um die Anthroposophie jedoch, dass sich die den „Grünen“ nahestehenden Stiftungen nun mit der Anthroposophie kritisch auseinandersetzen, waren doch in der Gründungsphase der Partei auch AnthroposophInnen maßgeblich beteiligt.10

Anthroposophische Angebote finden sich in fast allen Lebensbereichen: in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, in Ernährung, Kunst und Kosmetik und in vielem anderen mehr. Krauß zufolge hat es die Anthroposophie erreicht, „Sinnbild einer Art alternativer Idee“ zu sein. Und tatsächlich dient die „Anthroposophie“ auch als Container-Begriff11, den Menschen individuell füllen. Sie deuten ihre Vorstellungen von einer besseren Schule oder besseren Lebensmitteln und Kosmetikprodukten als anthroposophisch, ohne damit eine konkrete Rückbindung an die Schriften Steiners vorzunehmen. Für diejenigen aber, die sich mit den Inhalten der Anthroposophie tatsächlich auseinandersetzen, ist das Werk Steiners bis in die Gegenwart die wegweisende Quelle.12

Steiners Menschenbild: Der Auf- und Untergang der Rassen

Das Rasse-Verständnis in Steiners Publikationen impliziert mehrere Gesichtspunkte: Zum einen liegt es dem Menschenbild selbst zugrunde, denn Steiner geht von einem Auf- und Untergang von Rassenaus. In Zusammenhang damit stehen bestimmte, nochmals gesondert zu betrachtende Passagen, die sich als rassistischdeuten lassen. Es kommt hinzu, was Steiner selbst unter Rasse versteht.13

Zu Steiners Lebzeiten hatten Antisemitismus und sogenannte Rassentheorien gerade Hochkonjunktur. Die biologistischen, deterministischen Rassentheorien galten allgemein als naturwissenschaftlich erwiesen und dienten dazu, das Überlegenheitsbewusstsein der weißen, deutschen Rasse zu untermauern. Die Idee einer (grundsätzlichen) Verschiedenheit floss in die Begründungen für Missionierung und Bildung ein. Einer rein biologischen Sicht der Menschheitsgeschichte und des menschlichen Körpers konnte Steiner aber nicht viel abgewinnen; vielmehr versteht er seine Wurzelrassenlehre als einen Gegenentwurf zu Darwins Evolutionstheorie (1913, GA 61, 483). Hierin verarbeitet er das zeitgenössische Fortschrittsdenken und entwickelt in enger Anlehnung an die Begründerin der Theosophie, Helena P. Blavatsky, Vorstellungen einer Kosmogonie, in die eine gnostisch aufgeladene Menschheitsentwicklung eingebettet ist. In dieser werden der Aufstieg und der Untergang von Rassenbeschrieben. Steiner spricht hier von Wurzelrassen, später verwendet er synonym die Bezeichnungen „Epochen“ oder „Hauptzeiträume“. Eine jede Wurzelrasse hat eine Aufgabe in der zielgerichteten Entwicklung der Menschheit. Am Ende steht die Überwindung der Rassen und schließlich die Wiedervereinigung mit dem Göttlichen. „Daher ist es die konkrete Aufgabe, die zerklüftete Menschheit, die aus den alten Bluts- und Stammesverbänden herausgerissen ist, zu verbinden durch die einheitliche okkulte spirituelle Weisheit“ (107, GA 99, 144). Bis es so weit ist, gibt es auf der Erde mehrere Rassen, die sich vor allem durch unterschiedliche Entwicklungsstufen der Seele äußern.

Nach Steiner ist die arische Wurzelrasse derzeit die am höchsten entwickelte. Die übrige Menschheit lässt sich in jene Rassen einteilen, die früher einmal die höchstentwickelte Rasse (wie das Judentum) darstellten, jetzt aber ihren Höhepunkt überschritten haben. Daneben gibt es auch solche Rassen, die zukünftig an der Spitze der spirituellen Entwicklung stehen werden. Für die Vorstellung, die er vom „Arier“ hat, beruft sich Steiner selektiv auf den einflussreichen „Rassentheoretiker“ Joseph Arthur de Gobineau (1816 – 1882): Der Arier sei den anderen Menschen an „‚Intelligenz und … Energie‘“ überlegen. Erst mit der Überwindung von „‚Leidenschaften und … materiellen Bedürfnissen‘“ kann der Arier zu „‚unendlich viel höhere[r] Moralität … gelangen … als [dies] bei den Individuen minderer Rassen‘“ möglich sei (1902, GA 51, 317, siehe auch weiter GA 61, 481 – 483). Gobineaus Ideen wurden auch im Nationalsozialismus rezipiert, sodass es hier tatsächlich eine inhaltliche Überschneidung gibt. Dennoch kommt Steiner ohne sozialdarwinistische Implikationen aus, da er weder ein Survival of the fittest kennt noch von einer Konkurrenz um Ressourcen oder einem Kampf untereinander spricht. Auch konkurrieren die unterschiedlichen Rassen nicht um die Gunst der überirdischen Wesenheiten.

Neben der Wurzelrassenlehre ist in Steiners Werk eine weitere Rassenlehre zu finden, der eine Dreiteilung der Menschheit zugrunde liegt. Dieser Lehre zufolge haben sich die Rassen den klimatischen Bedingungen ihrer Umgebung angepasst, was sich vor allen in den unterschiedlichen Hautfarben ausdrücke. Die „gelbe Rasse“ sei in Asien, die „weiße“ in Europa und die „schwarze“ in Afrika beheimatet. Jede „Rasse“ sei in ihren „Erdteilen heimisch“, was bedeute, dass die „Negerrasse“ „nicht zu Europa“ gehöre. Die „Farbigkeit“ der drei „Rassen“ hänge mit ihren unterschiedlichen Charaktereigenschaften und ihrer Reaktion auf Licht zusammen:

„[B]eim Neger [ist] namentlich alles das, was mit dem Körper und mit dem Stoffwechsel zusammenhängt, lebhaft ausgebildet … Und weil er eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Körperoberfläche in seiner Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. Im Neger wird da drinnen fortwährend richtig gekocht, und dasjenige, was dieses Feuer schürt, das ist das Hinterhirn“ (1923, GA 349, 55).

Die „schwarze Rasse“ absorbiere das gesamte Licht und sei deswegen aufgeheizt, beim Verarbeiten dieser Hitze helfe den Angehörigen dieser Rasse das „Hinterhirn“, das bei ihnen besonders stark ausgebildet sei und wiederum ein „starkes Triebleben, Instinktleben“ bewirke (1923, GA 349, 55). Rasse ist bei Steiner nicht nur ein biologischer Faktor der Vererbung. Vielmehr bestimmen hier weitere Faktoren wie die Sonneneinstrahlung das Wesen des Menschen.

Diese und weitere Passagen, die sich im gleichen Fahrwasser bewegen, ziehen seit den 1990er Jahren vermehrt Kritik auf sich. Es gab von anthroposophischer Seite unterschiedliche Reaktionen darauf; eine deutliche Absage an solche Passagen oder gar an das Menschenbild ist bislang selten zu erkennen. Die Debatte um die Anthroposophie im Allgemeinen und speziell um den Rassismus- und Antisemitismusvorwurf ist äußerst aufgeheizt: Auf der einen Seite stehen die Anthroposophie-KritikerInnen, die spirituelle Glaubensvorstellungen delegitimieren wollen, auf der anderen Seite AnthroposophInnen, die mit viel Engagement jeden Kritikpunkt zu negieren suchen. Deutlich und unmissverständlich sind jedoch Ramon Brülls und Jens Heisterkamps (2008/2018) Einschätzungen:

„Auf diese Äußerungen [gemeint sind u. a. Passagen wie über schwarze Menschen, Anm. M. H.] trifft eine der maßgeblichen Rassismus-Definitionen zu, wonach Rassismus durch die ,verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers entsteht, mit der seine Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen‘ (Albert Memmi).“14

Steiner richtet sich zunächst an alle Menschen, die mit seiner Hilfe den spirituellen Erkenntnisweg beschreiten sollen. Gleiches gilt für die anthroposophischen Dienstleistungen und Produkte. Alle Menschen seien zunächst zur spirituellen Weiterentwicklung befähigt, das gelte sowohl für die Lebenszeit als auch für die mehrstufigen Jenseitsreiche zwischen Tod und Wiedergeburt. Doch diese spirituelle Entwicklung sei Jüdinnen / Juden nicht möglich, da sie keine spirituelle Begabung haben. Denn mit Jüdischsein verbindet Steiner ein Festhalten am Rasseglauben – die Juden seien rassisch veranlagt, weil sie ihre innergemeinschaftlichen Ehen nicht aufgeben. In diesem Fall wird die Rasse also vererbt. Steiners Lösung der „Judenfrage“ (1919, GA 31, 201) fällt eindeutig aus: „Heute beherrscht noch alle Dinge der Juden das Rassenmäßige. Sie heiraten vor allen Dingen untereinander. Sie sehen also noch das Rassenmäßige, nicht das Geistige“ (GA 353, 203). Jüdinnen / Juden seien zudem grundsätzlich durch ihre Andersartigkeit gekennzeichnet: „Sie wissen ja, daß man den Juden unterscheidet von der anderen irdischen Bevölkerung (GA 353, 77). Trotz dieser Vorbehalte hat es Steiner unterlassen, sein Bild von einem kollektiven zeitgenössischen15 Judentum zum Maßstab seiner Behandlung und Beurteilung einzelner jüdischer Menschen werden zu lassen.

Reaktionen von anthroposophischer Seite

Die Januar-Ausgabe von „info3“ mit dem Titel Reinkarnation und Karma. Wie das Weltbild weit wird beinhaltet gleich sechs Artikel zum Thema Karma. Einig sind sich die AutorInnen darin, dass die anthroposophische Karma-Lehre nicht dahingehend verstanden werden soll, dass Krankheit eine Strafe sei. Auch befürworten sie nicht die Deutung, der zufolge gute und schlechte Taten zu jeweils gutem und schlechtem Karma führen würden. Tatsächlich geht es bei Steiners Karma-Lehre weniger um Strafe als vielmehr darum, dass es das Individuum versäumt, den anthroposophischen Erkenntnisweg anzutreten, und dadurch anfällig wird.

Anna-Katharina Dehmelt antwortet in ihrem Artikel Anthroposophie in der Kritik. Zwischen Argument und Unsinn vor allem auf Böhmermann. Dabei arbeitet sie systematisch alle Punkte Böhmermanns ab und versucht sie zu entkräften. Zu dem Vorwurf, dass Steiner und der Nationalsozialismus in Zusammenhang stehen, entgegnet Dehmelt, dass dies unmöglich sei, da Steiner schon 1925 verstorben sei: Steiners „Denken [kann] mit Nationalsozialistischen Konnotationen nicht zu tun haben“16. Was die Autorin dabei nicht berücksichtigt, ist der Umstand, dass das Gründungsdatum der NSPAP bereits auf das Jahr 1920 zurückgeht. Es gibt zwar keine Hinweise, dass Steiner diesen Kreisen zugetan war, doch der alleinige Verweis auf das Sterbedatum Steiners genügt an dieser Stelle nicht. Rassismus und Antisemitismus, sei es in Steiners Werk oder unter heutigen AnthroposophInnen, seien „Einzelfälle“, so Dehmelt weiter.17 Anstatt weitere Gegenpositionen ins Feld zu führen, verweist sie auf eine Sammlung von diversen Stellungnahmen18, die das Thema von unterschiedlichen Seiten beleuchten. Auch das oben zitierte Memorandum von Ramon Brüll und Jens Heisterkamp ist hier aufgelistet. Diese beiden sehr knappen Abhandlungen zur Thematik Rassismus und Antisemitismus sowie die Argumente an sich sind wenig überzeugend: Ob und wie es Überschneidungen von Steiner und dem Nationalsozialismus geben könnte, scheint für Dehmelt keine ernst zu nehmende Frage zu sein, da eben das Sterbedatum Steiners 1925 sei. Mit dem Argument, dass es sich um „Einzelfälle“ handle, bagatellisiert Dehmelt zum einen Steiners Aussagen zu AfrikanerInnen und zu Jüdinnen / Juden und wird zum anderen der Tatsache nicht gerecht, dass es tatsächlich Menschen gibt, die ihre antisemitische / rassistische Haltung durch Steiner bestätigt sehen.

Resümee

Krauß und Böhmermann stellen einen Zusammenhang zwischen den anthroposophischen Lehren und dem Nationalsozialismus her. Steiner vertritt jedoch keine völkischen Ideen, zudem lehnt er Nationalismus ab.19 Auch sind nur sehr wenige politische Forderungen in seinem Werk zu finden. Sein Ziel ist es vielmehr, der von ihm diagnostizierten mangelhaft ausgebildeten Spiritualität der Menschheit mittels seiner anthroposophischen Lehre zu begegnen. Steiner ist auch die sog. Rassenhygiene fremd: Statt eine reine Blutsgemeinschaft der Arier / Deutschen anzustreben, appelliert er an jüdische Menschen, die innergemeinschaftliche Heirat aufzugeben. Für diejenigen, die gewillt sind, bietet Steiner eine Anschlussmöglichkeit, um ein rassistisch / antisemitisch begründetes Menschenbild zu stützen. Trotz Steiners fragwürdigen Vorstellungen über Jüdinnen / Juden und Afrikaner ist nicht bekannt, dass er diese Vorstellungen dazu herangezogen hat, eine Person persönlich abzuwerten, denn auf Steiners Ungleichbewertung von Menschen folgt keine Ungleichbehandlung.


Melanie Hallensleben, 01.03.2023

 

Anmerkungen

  1. Auch das Thema Missbrauch wurde kürzlich in den Medien aufgegriffen: Madeleine Londene: Eine von vielen. Missbrauch an einer Waldorfschule, in: Die Zeit – Verbrechen 17 (2022), 100 – 108.
  2. Petra-Kelly-Stiftung: Dr. Dietrich Krauß | Die Esoteriker*innen, die mitlaufen, Podcast Folge #04: Ein Spaziergang im Süden, 22.10.2022: https://tinyurl.com/5682z84z (Abruf der Internetseiten: 2.3.2023).
  3. Oliver Nachtwey / Nadine Frei et al.: Quellen des „Querdenkertums“. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg, Basel 2021: www.boell-bw.de/sites/default/files/2022-01/Quellen%20des%20Querdenkertums_Frei_Nachtwey.pdf.
  4. Podcast Dr. Dietrich Krauß (s. Fußnote 2). Im Folgenden wird die schriftliche Version des Podcasts herangezogen.
  5. Matthias Meisner: Böll-Stiftung nimmt Podcast vom Netz. Eingeknickt vor Anthroposophen, Der Volksverpetzer, 18.11.2022, www.volksverpetzer.de/aktuelles/boell-stiftung-eingeknickt-anthroposophen.
  6. www.youtube.com/watch?v=MaYdgxXmM4s. Abrufe der Sendung auf YouTube: 2,2 Millionen (Stand 2.3.2023). Die tatsächliche ZuschauerInnen-Zahl dürfte höher sein, da die Sendung auch live im ZDF ausgestrahlt wurde und in der ZDF-Mediathek abrufbar ist.
  7. Lemuria bezeichnete eine verschwunden geglaubte Landbrücke oder einen verschwundenen Kontinent. Diese Idee vertraten auch die Theosophen Scott-Elliot (1904) und Haeckel bis 1897. Die Bezeichnung stammt von der Affenart der Lemuren, die dem englischen Zoologen Philip Sclater (1829 – 1913) zufolge auf verschiedenen, an den Indischen Ozean angrenzenden Erdteilen vorgekommen sein sollen. Da das Wissen von der Erdplattenverschiebung fehlte, schlussfolgerte er, die Kontinente seien einst mit Landbrücken miteinander verbunden gewesen. Philip Lutley Sclater: The Mammals of Madagascar, in: The Dublin Quarterly Journal of Science, Containing Papers Read Before the Royal Dublin Society (1864).
  8. Der Ätherleib ist ein nur übersinnlich wahrnehmbarer Teil des Menschen.
  9. Peter Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik, Hamburg 1999; Guido und Michael Grandt: Schwarzbuch Anthroposophie. Rudolf Steiners okkult-rassistische Weltanschauung, Wien 1997.
  10. Manuel Alexander Simon: Anthroposophische Ideenwelten in der politischen Praxis. Spirituelle Tendenzen bei den frühen „GRÜNEN“ und in der Partei „dieBasis“, in: ZRW 85/2 (2022), 107 – 221.
  11. Fritz Heinrich, mündliche Kommunikation vom 12.6.2019.
  12. Das Gesamtwerk Steiners beläuft sich derzeit auf 354 Bücher, die in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) erschienen sind. Hier wird die online bereitgestellte GA verwendet, FVN-Dokumentarchiv: http://fvn-archiv.net/PDF/GA.
  13. Für eine detaillierte Analyse zu Steiners Rassenvorstellung s. Helmut Zander: Anthroposophische Rassentheorie. Der Geist auf dem Weg durch die Rassengeschichte, in: Stefanie Schnurbein: Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, 292 – 341.
  14. Ramon Brüll / Jens Heisterkamp: Frankfurter Memorandum. Rudolf Steiner und das Thema Rassismus. Schlussfassung, o. O., September 2008/2018, www.waldorfschule.de/fileadmin/downloads/Erklaerungen/Frankfurter_Memorandum_Deutsch.pdf.
  15. Steiner beurteilt das antike und das zeitgenössische Judentum unterschiedlich.
  16. Anna-Katharina Dehmelt: Anthroposophie in der Kritik. Zwischen Argument und Unsinn, in: info3, Januar 2023, 44 – 51, 46.
  17. Ebd., 48.
  18. Anthroposophie. Zur Rassismus- und Antisemitismus Kritik, www.anthroposophie-gegen-rassismus.de.
  19. Michael Rißmann: Nationalsozialismus, völkische Bewegung und Esoterik, in: Zeitschrift für Genozidforschung 4/2 (2003), 58 – 91.