Vom Gebetsvorsteher zum Geistlichen – Mit dem Islamkolleg auf dem Weg zum deutschen Imam

Unter dem Titel „Imame braucht das Land“ veranstaltete die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung Ende Januar 2022 eine virtuelle Podiumsdiskussion zur „Zukunft muslimischer Gemeinden in Deutschland“ (so der Untertitel) und diskutierte in einer Expertenrunde die Lage der Imam-Ausbildung in Deutschland.

Rüdiger Braun
Ein junger Muslim, die Hände im Gebet

„Alle sind sich einig“, so formuliert die Stiftung in der Einladung (https://plus.freiheit.org/imame-braucht-das-land): „Ein florierendes Gemeindeleben in Deutschlands Moscheen“ bedürfe gut ausgebildeter Imame, die in Deutschland beheimatet sind und „über eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung, die hermeneutisch kritisch mit Quellen und Traditionen umzugehen weiß“, verfügen. 60 Jahre nach der Anwerbung türkischer ArbeitnehmerInnen in Deutschland, so viel steht fest, sind die Erwartungen an die Imame sowohl in den muslimischen Gemeinden selbst als auch in Politik und Zivilgesellschaft immens gestiegen. Das damit ebenfalls gestiegene Anforderungsprofil orientiert sich an dem in den christlichen Kirchen bekannten Priester-, Pfarrer- und Pastorenamt und sieht für den Dienst des Imams sehr viel mehr vor als die Aufgabe, dem Gemeinschaftsgebet „vorzustehen“ – daher der Begriff Imām: von „vorne (amām) stehen“ –, den Koran zu rezitieren (taǧwīd) und am Freitag die Ansprache (ḫuṭba) an die Gemeinde vorzutragen. Das damit verbundene Ansinnen, die religionspädagogische, seelsorgerliche und sozialdiakonische Arbeit muslimischer Gemeinden in Deutschland auf das Niveau der christlichen Kirchen zu heben, war im ersten Millennium u. a. auch die Veranlassung zur Gründung der Deutschen Islamkonferenz (DIK, 2006) und zur Einrichtung universitärer Zentren für Islamische Theologie (2010).

Während der erste und älteste islamische Moscheeverband in Deutschland, der türkische Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ, gegründet 1973) seit den 1980er Jahren seine Imame selbst ausbildet, kommen die bei den ebenfalls türkischen Verbänden IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görüş) und DİTİB angestellten Imame bislang immer noch mehrheitlich aus der Türkei. Aufgrund ihrer auf vier bis sechs Jahre begrenzten Anstellung hat im Falle der DİTİB-Imame an einer Sozialisierung in Deutschland wenig Interesse bestanden. Auf den wachsenden politischen Druck hin wurde dann 35 Jahre nach der Gründung der deutschen Dependance (1984) im Jahr 2009 ein eigenes Ausbildungszentrum für Imame in der Eifel gegründet. Dieses Zentrum steht seit Januar 2020 grundsätzlich allen AbsolventInnen islamischer Theologie ungeachtet ihrer Verbandszugehörigkeit offen, bildet jedoch hauptsächlich türkische Imame für türkische Gemeinden aus (http://ezw.kjm6.de/nlgen/tmp/1579684264.html). Der Islamrat (IR) ging den (ersten) Schritt zur Überwindung des Imam-Imports bereits im Jahr 2016 mit der Einrichtung einer eigenen Bildungsakademie in Mainz (vgl. http://ezw.kjm6.de/nlgen/tmp/1608031585.html).

Einen nochmals größeren Schritt in die Zukunft markiert das im November 2019 als eingetragener Verein gegründete Islamkolleg Deutschland (IKD) in Osnabrück (www.islamkolleg.de), das seit dem vergangenen Jahr ein verbandsübergreifendes und – bundesweit einmalig – rein deutschsprachiges Angebot zur Aus- und Fortbildung von Imamen und anderem islamischen Personal (GemeindepädagogInnen, SeelsorgerInnen u. Ä.) anbietet. Im ersten noch laufenden Jahrgang der insgesamt auf zwei Jahre angesetzten Aus- und Fortbildung sind es 65 Teilnehmende (20/45 w/m), die sich in Modulen zu Predigtlehre, Koranrezitation, Seelsorge, politischer Bildung und Sozialer Arbeit entweder zum Imam (20) oder zum (seelsorgerlichen) Dienst in Gefängnissen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen (32) ausbilden lassen. Träger des vom Bundesinnenministerium und vom Land Niedersachsen mit einer Anschubfinanzierung in Höhe von 5,5 Millionen Euro geförderten IKD sind der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) sowie vier kleinere inländische Islamverbände: das Bündnis Malikitische Gemeinden, die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken, der Zentralrat der Marokkaner und der Landesverband der Muslime in Niedersachsen.

Der IKD-Vorstandsvorsitzende Esnaf Begic betont die aufseiten der Verbände noch auszubauende Interaktion mit der deutschen Gesellschaft, zugleich aber die Verantwortung der Politik: Statt ständig zu fordern, dass „muslimische Geistliche“ nicht mehr aus dem Ausland geholt werden sollten, müsse sie selbst „die strukturellen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Gemeinden die Imame finanzieren können, und etwa die islamischen Verbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkennen“ (Islamische Zeitung 2/2022, 14). Damit benennt Begic das Kernproblem der Imam-Ausbildung, denn wie es nach der Anschubfinanzierung mit der Finanzierung weitergehen soll, steht noch in den Sternen.

Die Finanzierungsfrage war es auch, die in der von Meinhard Schmidt-Degenhard (Friedrich-Naumann-Stiftung) geleiteten virtuellen Diskussion zwischen Karima Hajou-Fischer (Lehrerin für Islamische Religion in Köln und Mitglied in der Kommission für den Islamischen Religionsunterricht in NRW), Abdassamad El Yazidi (Generalsekretär des ZMD, Koordinator der Qualifikationsarbeit von Imamen in Deutschland) und Mouhanad Khorchide (Professor für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie in Münster) die entscheidende Rolle spielte. Denn attraktiv sei die zunächst vom Staat geförderte, langfristig vollständig in die Hände der Verbände zu legende Ausbildung zum Imam nur dann, wenn auch die berufliche Perspektive der Ausbildungsabsolventen gesichert sei. Die potenziellen Arbeitgeber seien die 2200 Moscheen, die dem Koordinationsrat der Muslime (KRM) angehören: also immerhin 80 % der über 2700 Moscheen in Deutschland (die selbst ungefähr ein Viertel der deutschen Muslime repräsentieren). Doch diese stehen, bedingt auch durch die noch immer stark ausgeprägte Abhängigkeit von ausländischen Regierungen und Geldgebern, den AbsolventInnen der universitären Studiengänge für Islamische Theologie, wie sie in mittlerweile sieben Zentren für islamische Theologie gelehrt wird, bislang noch reserviert gegenüber.

Der in diesen Zentren gelehrte Islam erscheint ihnen zu liberal und zu stark an der kritischen Schrifthermeneutik der christlichen Theologie orientiert. Umgekehrt zeigen sich aber auch die AbsolventInnen der universitären Studiengänge reserviert gegenüber den Verbänden: Auf eine Umfrage unter den 800 Studierenden am Zentrum für Islamische Theologie in Münster, wer von ihnen die Möglichkeit in Anspruch nehmen werde, sich nach drei Jahren Bachelor- und zwei Jahren Masterstudium noch zum Imam weiterbilden zu lassen, fiel die Antwort ernüchternd aus: Nur zwei oder drei Studierende hielten es, nach fünf Jahren Wissenschaft an der Universität, für attraktiv, danach in den Predigtdienst zu gehen. Die überschaubare Resonanz hat die Universität dazu animiert, mit Unterstützung von Bund und Land einen neuen Masterstudiengang zur „Sozialarbeit in den Gemeinden“ einzurichten, in dem muslimische AkteurInnen (auch Imame) in der bereits bestehenden gemeindlichen Sozialarbeit weitergebildet werden sollen.

Khorchide hält die Analogiebildung zwischen der Imam- und der Pfarramtsausbildung insofern für legitim, als er sich Imame wünscht, die „eine Theologie vertreten, die die Menschen nicht vor das Dilemma Entweder Islam oder freiheitlich-demokratische Grundordnung stellt, sondern den Islam in Harmonie mit eben dieser Ordnung sieht“, und zudem Muslime „mit hermeneutisch-kritischem Handwerkszeug für moderne Lesarten des Islam sensibilisiert“. Hajou-Fischer hält demgegenüber „die Persönlichkeit, deren Verortung in der Gemeinde und deren Empathie für die Nöte und Sorgen der Muslime“ für sehr viel wichtiger. El Yazidi verweist auf einen relativ „verkorksten Start“ in der Zusammenarbeit zwischen Universitäten und muslimischen Verbänden nach 2010 und auf die bislang zu wenig in den Blick genommene Möglichkeit, den Mangel an gut ausgebildeten Imamen zwischenzeitlich mit gut ausgebildeten, teilweise promovierten Imamen aus Marokko zu beheben. Diese bedürften nur noch deutscher Sprachkenntnisse, um ihren Dienst zu beginnen. Die Stärkung muslimischer Vielfalt dürfe nicht mit einer Stigmatisierung der großen, eng mit den Moscheegemeinden kooperierenden Verbände einhergehen. „Die in diesem Bereich gespielte Musik“, so El Yazidi, wolle man schon gerne „selbst auswählen“.

Als potenzielle Arbeitgeber stehen die 2200 Moscheen des KRM jedoch auch in der Pflicht, so Khorchide, sich unabhängiger von den Heimatländern aufzustellen und sich so als vertrauenswürdige Partner der deutschen (Bildungs-)Politik zu profilieren. Die Realisierung des Traums, wie 2030 ein deutscher Islam aussehen könnte, sieht El Yazidi „schon mitten im Gange“, weil der Islam in Deutschland schon lange nicht mehr nur aus dem Ausland importiert sei und schließlich auch die universitären Zentren für Islamische Theologie mit der Al-Azhar und anderen Universitäten in der arabischen Welt kooperieren. Doch wollten die Muslime schon gerne selbst bestimmen, welche Form von Religion sie leben. Für Khorchide wäre dies eine Form von Islam, der „ohne politische Agenda mit seiner Lebenswirklichkeit vereinbar“ ist. Doch weiß auch er, dass der seit der ersten DIK 2006 von den Innenministern wiederholt geforderte „Islam in, aus und für Deutschland“ ein vielgestaltiges und vielstimmiges Phänomen sein und bleiben wird. Ein Wunschkonzert wird es allerdings auch nicht sein – höchstens eines, in dem die vielen Stimmen zumindest im Basso continuo, der Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, übereinstimmen. Mehr geht immer, weniger aber nicht.

Rüdiger Braun

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