Yeziden / Eziden

Zur Schreibweise „Eziden“/„Ezidentum“: Es gibt keine einheitliche Schreibweise. Las man früher und in wissenschaftlichen Publikationen vorwiegend „Yeziden“, englisch „Yazidis“, scheint sich neuerdings im deutschsprachigen Raum „Jesiden“ durchzusetzen. Da zu den hartnäckigen Vorurteilen gegenüber Eziden neben „Teufelsanbeter“ auch die Verehrung des besonders schlecht beleumundeten umayyadischen Kalifen Yazid ibn Mu’awiya (644 – 683) gehört („Yazid/Yezid-Anhänger“), übernehmen wir ab jetzt [6/2015]die inzwischen von der Mehrheit der Eziden gebrauchte Schreibweise, die sich an der kurdischen Selbstbezeichnung orientiert (Êzîdî/Ezda/Ezdayî „Der, der mich erschaffen hat“).

[Lexikonartikel: 9/2009]

Die Yeziden (sprich: Jesiden) sind Kurden. Ihre Zahl wird auf 500000 geschätzt.1  Ihr Hauptsiedlungsgebiet ist der Nordirak, dort liegt ihr Zentralheiligtum Lalish bei Dohuk, Begräbnisstätte von Sheikh Adi ben Musafir (gest. ca. 1160), dem Reformer des Yezidentums. Im nahen Baadre residiert das weltliche Oberhaupt, der Mîr. Yeziden leben ferner in Syrien, im Iran, in Armenien und Georgien. In der Türkei gab es bis 1980 20000 bis 25000, heute sollen es nur noch wenige Hundert sein.2  Seit 1983 kommen Yeziden nach Deutschland, wo inzwischen 40000 bis 50000 leben.3  Die größte geschlossene Gemeinschaft ist mit etwa 5000 Menschen im Landkreis Celle ansässig. Weitere Yeziden leben um Oldenburg, bei Bielefeld, im Raum Kleve und Emmerich und in Baden-Württemberg. Volkszugehörigkeit und Religionsgemeinschaft sind deckungsgleich.

Geschichte

Die Geschichte der Yeziden ist eine Verfolgungsgeschichte. Die Kämpfe der Araber gegen die Kurden in den Jahren 637 und 1246, die Mongolenstürme und in neuerer Zeit die Armenier-Massaker 1915, von denen auch Kurden betroffen waren, sowie Zwangsislamisierungen haben die Yeziden dezimiert. Durch diesen Druck kam es zur religiösen Geheimhaltung.
Seit 1937 sind die Yeziden in der Türkei verpflichtet, am sunnitischen Religionsunterricht teilzunehmen. Das islamische Glaubensbekenntnis verstößt gegen ihren Glauben, denn die Yeziden verehren Taus-î-Melek, den „Engel Pfau“, der für Muslime eine „Beigesellung” zu Allah ist und mit Luzifer identifiziert wird. Das führte zu dem Vorwurf der „Teufelsanbeterei“. Yeziden gelten nicht als „Schriftbesitzer“, sondern als „Abtrünnige“.

Auch im 20. Jahrhundert gab es gewaltsame Übergriffe gegen Yeziden: Entführungen und Zwangsislamisierungen von Mädchen, Morde und Enteignungen. Yezidische Dörfer im Nordirak wurden 1975 nach der Niederwerfung der kurdischen Nationalbewegung entvölkert und zwangsumgesiedelt. In den folgenden Jahren gab es wieder Enteignungen zugunsten von Arabern.4  Von 1986 bis 1988 wurden im Irak chemische Waffen gegen Kurden eingesetzt5, Zwangsumsiedlungen wiederholten sich. Für 2004 und 2005 sind neue Gewalttätigkeiten dokumentiert. Extremistische Muslime behaupteten gar, für Muslime sei es ein Dienst an Gott, einen Yeziden zu töten.6  Allerdings ist die Lage im Nordirak heute sicherer als im übrigen Land. 1990 waren bei Auseinandersetzungen mit der Kurdischen Arbeiterpartei in der Türkei auch Yeziden betroffen. Obwohl sich die Situation der Kurden verbessert hat, gibt es weiterhin Diskriminierungen.

1982 wurden die Yeziden in Stade erstmals als Flüchtlinge anerkannt, seit 1993 gelten sie laut Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg als Gruppenflüchtlinge.7  Zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 1989 und 1990 führten zur Anerkennung als „Opfer einer Gruppenverfolgung“ in der Türkei.

Religion

Das Yezidentum wird als „älteste Religion des Mittleren Ostens” oder „der Welt” bezeichnet. Aus anderen Religionen wurden verschiedene Elemente übernommen, so das Symbol des Pfaus aus Indien und Bestandteile aus dem orientalischen Christentum und dem Islam, z. B. die Beschneidung.8

Die Yeziden verstehen allein sich selbst als Kinder Adams. Sie glauben, dass Gott (Êzîd), der Schöpfer, sieben Engel schuf, die den Wochentagen und verschiedenen „Ressorts” zugeordnet sind: Der erste Engel Taus-î-Melek wurde am Sonntag, dem ersten Tag der Woche, erschaffen. Er ist an der Schöpfung beteiligt, er herrscht in diesem Zeitalter über die Engel, die Welt und die Menschen und erlässt die Gebote. In anderen Zeitaltern von jeweils 7000 Jahren regieren andere Engel. In der Überlieferung verschmelzen Êzîd und Taus-î-Melek. Ein Bronzestab mit einem Pfau ist sein Symbol.

Ein Paradies oder eine Hölle für Lohn und Strafe existieren nach der Auffassung der Yeziden nicht. Nach dem Tod werden die Taten in Waagschalen geworfen, das Ergebnis entscheidet über eine höhere oder niedrigere Inkarnation, bis die Seele zu Taus-î-Melek zurückkehrt.

Sheikh Adi, ursprünglich ein Sufi, gilt als Inkarnation des Engel Pfau. Auch die anderen geistlichen Führer werden als Inkarnationen von Engeln angesehen. Auf Sheikh Adi werden die Kasten und Unterkasten zurückgeführt. Sheikhs und Pîrs bilden die geistliche Kaste, die Muriden die Laienkaste. Ehen sind nur innerhalb der Kaste möglich. Die Geistlichen unterweisen die Laien und führen die religiösen Zeremonien durch, die Laien unterstützen die Geistlichen materiell.

Heilige Schriften sind das „Kitab al-Djilwa“, das „Buch der Offenbarung”, und „Mashafa Resh“, das „Schwarze Buch”, von denen nur entstellte Auszüge bekannt sind.9  Die Yeziden legen Wert auf die schriftliche Überlieferung, im Wesentlichen wird die Tradition jedoch von den Qewals (Dichter und Mythenerzähler) weitergegeben. So bildeten sich Varianten. Heute bemüht man sich um eine Sammlung der mündlichen Traditionen.

Feste und Riten

Ida Carshema Sor, das Neujahrsfest (Newroz), wird am ersten Mittwoch im April des julianischen bzw. am 14. April des gregorianischen Kalenders gefeiert. An diesem Tag soll Gott Taus-î-Melek zum Herrn über Leben und Tod eingesetzt haben. Das Fest wird mit Blumen, bunten Eiern und dem Opfer von Vieh und Hühnern begangen. Arbeit und Heirat sind im April untersagt. Das Neujahrsfest war als Tag der „Selbstbefreiung“ in der Türkei verboten, 1991 wurde es zum „urtürkischen Frühlingsfest“ erklärt und erlaubt.10  Das gesamtkurdische Newroz wird am 21. März gefeiert. Ida Cumaiya Sheikh Adi (6. bis 13. Oktober) ist das Fest zu Ehren Sheikh Adis. Das Fest Ida-Ezi beginnt am ersten Freitag im Dezember. Vom Dienstag bis zum Donnerstag vorher wird tagsüber gefastet. Die Sonnenwende am 21. Dezember gilt als hoher Feiertag, denn die Sonne ist Symbol Gottes.

Den Jungen wird im ersten Lebensjahr vom Sheikh eine Haarlocke abgeschnitten, um sie rituell zu Yeziden zu machen und vor dem Bösen zu schützen. Ein entsprechendes Ritual für Frauen gibt es nicht. Sie schnitten sich die Haare ursprünglich nur im Trauerfall. In manchen Gruppen werden die Jungen beschnitten. Es wird auch eine Art von Taufe mit Wasser für Mädchen erwähnt. Yeziden beten dreimal am Tag: vor Sonnenaufgang, am Mittag und nach Sonnenuntergang. Der Wochenfeiertag ist der Mittwoch.

Feste und Riten – außer den Totenriten – werden von Männern und Frauen gemeinsam begangen. Es gelten religiöse Vorschriften und Verbote für kultische Waschungen, Bekleidung und Ernährung. Einmal im Leben soll ein Yezide die Wallfahrt nach Lalish unternehmen.

Durch den Sheikh wird für jeden ein „Jenseitsbruder” oder eine „Jenseitsschwester” bestimmt. Die Jenseitsgeschwister sollen dem Menschen beim Gericht nach dem Tod beistehen und bezeugen, dass der Verstorbene Yezide war. Sie sind aber auch zu Hilfe und Beistand in diesem Leben verpflichtet, besonders bei der Hochzeit. Jeder Yezide hat religiöse Bezugspersonen: den Pîr, den Sheikh, einen Lehrer, den Jenseitsbruder bzw. die -schwester sowie den Beschneidungspaten.

Organisation

Baba Sheikh ist der Al-Pesch Imam, das geistliche Oberhaupt. Der Mîr wird von Baba Sheikh eingesetzt und repräsentiert Sheikh Adi und Taus-î Melek. Das Oberhaupt verschiedener Sheikh-Familien wird Peschimam genannt. Er wird vom Mîr bestimmt. Sheikhs, Pîrs und Muriden (Laien) sind einander zugeordnet. Die Qewals sind Laien, die die Überlieferung garantieren. Die Feqirs aus allen Kasten dienen Gott in Armut und kennen Gebete und Gesänge. Die Micewirs sind die Pfleger der lokalen Tempel, die Kebanis zölibatäre Frauen in Lalish. Der Kocek nimmt die Verbindung zur unsichtbaren Welt auf und ist eine Art Wahrsager.11

Der Geistliche Rat hat seinen Sitz in Lalish. Er besteht aus zehn Würdenträgern, die über den zukünftigen Weg des Yezidentums entscheiden. Yezidische Organisationen sichern den Bestand der Gemeinschaft im Ausland.

Einschätzung

Die meisten Yeziden werden nicht in ihr Heimatland zurückkehren, sondern sich hier als Gemeinschaft konsolidieren. Um dem Geruch der Geheimreligion zu entgehen, werden Traditionen veröffentlicht und so auch vereinheitlicht.

In der Ehefrage kommt es zunehmend zu Spannungen zwischen dem Einzelnen und der Familie. Die Yeziden betonen die Freiwilligkeit der Ehe, die Auswahl der Ehepartner ist jedoch wegen der Kastengrenzen beschränkt. Viele Yeziden fordern, dass die jungen Menschen an der Partnerwahl beteiligt werden und die Eltern für die Lage ihrer Kinder Verständnis aufbringen.12  Dennoch ist zu vermuten, dass besonders bei den Frauen die eigene Wahl durch die Solidarität zur Familie beeinflusst wird. Liebesbeziehungen mit Nicht-Yeziden sind unerwünscht und führen zu familiären Auseinandersetzungen.

Die Yeziden befinden sich in einer Umbruchsituation. Es gibt Versuche zur Systematisierung der Religion aus ihren verschiedenen Überlieferungssträngen sowie Überlegungen zu einer Öffnung für andere. Das Leben in Deutschland bedeutet für die einen eine Befreiung von politischen, sozialen und religiösen Zwängen, für die anderen ist es mit der Angst vor dem Verlust der Identität verbunden.

Gabriele Lademann-Priemer, Hamburg, September 2009


Anmerkungen

1  Vgl. Khalil Jindy Rashow, Die Yezidi. Ihr Glauben, ihre Traditionen und ihr soziales System, in: Iranistik. Deutschsprachige Zeitschrift für iranistische Studien, 1-2/2003-04, 124.

2  Schreiben des Yezidischen Forums e. V. vom 26.1.2005.

3  Vgl. K. J. Rashow, Die Yezidi, a.a.O., 124.

4  Vgl. ebd., 131ff.

5  Vgl. Kurdistan AG FU Berlin (Hg.), Kurden im 20. Jahrhundert, Berlin o. J., 54.

6  Gutachten von Gernot Wießner vom 22.2.1982, maschinenschriftl.; vgl. Gabriele Lademann-Priemer, Die Yeziden – eine Religionsgemeinschaft im Wandel, in: Hans-Christoph Goßmann u. a. (Hg.), Missionissima, 159-164: 161; Recherche von Irene Dulz / Siamend Hajo / Eva Savelsberg, Verfolgt und umworben: Die Yeziden im „Neuen Irak“, http://www.yeziden-colloquium.de/, 7.7.2009.

7  Vgl. Telim Tolan, Die Yeziden – Religion und Leben, in: Erhard Franz (Hg.), Yeziden. Eine alte Religionsgemeinschaft zwischen Tradition und Moderne, Deutsches Orient-Institut Hamburg, Bd. 71, Hamburg 2004, 13-21: 17.

8  Vgl. Ilhan Kizilhan, Die Yeziden. Eine anthropologische und sozialpsychologische Studie über die kurdische Gemeinschaft, Frankfurt a. M. 1997, 27ff.

9  Vgl. Gutachten von Gernot Wießner für die EKD vor 1992.

10  Vgl. Kurdistan AG (Hg.), Kurden im 20. Jahrhundert, a.a.O., 17, 52.

11  Vgl. I. Kizilhan, Die Yeziden, a.a.O., 112f.

12  Vgl. K. J. Rashow, Die Yezidi, a.a.O., 127; Zeitschrift Dengê Êzîdiyan Nr. 6-7/1997.


Literatur

Affolderbach, Martin / Geisler, Ralf, Die Yeziden, EZW-Texte 192, Berlin 2007

Düchting, Johannes, Die Kinder des Engel Pfau. Religion und Geschichte der kurdischen Yezidi, Köln 2004

Franz, Erhard (Hg.), Yeziden. Eine alte Religionsgemeinschaft zwischen Tradition und Moderne, Deutsches Orient-Institut Hamburg, Bd. 71, Hamburg 2004

Kizilhan, Ilhan, Die Yeziden. Eine anthropologische und sozialpsychologische Studie über die kurdische Gemeinschaft, Frankfurt a. M. 1997

Kurdistan AG FU Berlin (Hg.), Kurden im 20. Jahrhundert, Berlin o. J.

Rashow, Khalil Jindy, Die Yezidi. Ihr Glauben, ihre Traditionen und ihr soziales System, in: Iranistik. Deutschsprachige Zeitschrift für iranistische Studien, 1-2/2003-04, 123-136.

Tuku, Hatun, Zwischen zwei Welten. Die Geschichte einer Jesidin in Deutschland, Berlin 2009

Zeitschrift des Yezidischen Forums: Dengê Êzîdiyan (Yezidische Stimme)


Internet

www.yeziden-colloquium.de/ (Literatur)

www.yeziden.de/

www.kurdishmedia.com/