Strukturvertriebe

Im Handel ist es eine Binsenweisheit, dass man neue Kunden mithilfe von Empfehlungen gewinnen und langfristig an ein Produkt binden kann. Schon in der Antike nutzten Handelsreisende die ortsansässigen Handwerker und Schreiber für persönliche Empfehlungen ihrer Kunden, um ihre Geschäfte auszuweiten.

Eine systematische Umsetzung erfuhr das Empfehlungsgeschäft mit dem Aufkommen der großen Direktvertriebsorganisationen in den USA in den 1950er und 1960er Jahren. Traditionell wurde die industrielle Massenproduktion im klassischen Handelsgeschäft über den Fach- und Einzelhandel abgesetzt. Daneben begannen einzelne Hersteller damit, ihre Produkte ohne Zwischenhandel direkt an den Endkunden mithilfe strukturierter, hierarchisch organisierter Vertreter systematisch zu vermarkten.

In dieser Zeit entstanden zwei ähnliche, aber deutlich zu unterscheidende Vertriebsformen, die sich später auch in verschiedene Richtungen weiterentwickelt haben. Im Direktvertrieb setzt ein Unternehmen eigene Außendienst-Mitarbeiter ein, um seine Produkte dem Kunden vorzuführen und zu verkaufen. Im Strukturvertrieb (auch Netzwerk- oder Multi-Level-Marketing genannt) bietet ein Unternehmen potenziellen Vertretern einen Marketingplan an, in dessen Rahmen sie als selbstständige Berater tätig werden und die Produkte eigenständig weiterverkaufen können. Strukturvertriebe stellen also eine Spezialform des Direktvertriebs dar. Als Pionier und Vorbild im Direktvertrieb ist die Wuppertaler Firma Vorwerk zu nennen, die seit 1930 Haushaltsgeräte, Teppichböden und Kosmetika im Direktvertrieb verkauft. Als Pionier im Strukturvertrieb gilt die Firma Amway, die 1959 in den USA gegründet wurde und Nahrungsergänzungsmittel, Kosmetika und Haushaltsreinigungsmittel vertreibt.

Praktiken

In klassischen Direktvertriebsunternehmen sind die Verkäufer fest angestellt und werden nur zum Teil erfolgsabhängig entlohnt. Mitarbeiter im Netzwerk-Marketing tragen dagegen ein weitaus höheres wirtschaftliches Risiko, da ihre Entlohnung ausschließlich vom Verkaufs- oder Anwerbeerfolg abhängt. Während im klassischen Direktvertrieb der Vertreter für verkaufte Waren eine volle Provision erhält, verteilt sich die Provision beim Verkauf im Strukturvertrieb auf verschiedene Ebenen (Levels) des Unternehmens. Der besondere Anreiz für den Anwerber liegt in den hohen Prämien für die Gewinne der angeworbenen, untergliederten Verkäufer, die ihm als sogenannte persönliche „downline“ zugerechnet werden. Durch Schulungen, individuelle Förderung und besonders die Vorbildfunktion soll das Gefühl eines einzigartigen, hoch motivierten Verkaufsteams hergestellt werden. Ein Hauptargument für Strukturvertriebe besteht also in der Aussicht auf ein hohes „passives Einkommen“ unter der Voraussetzung, dass die eigene „downline“ richtig funktioniert. Im Idealfall sollen die Provisionen der untergliederten Verkäufer den Großteil der Einnahmen ausmachen. Die hohen Gehälter im Network Marketing entstehen nicht in erster Linie durch die Absatzmenge, sondern durch die Provisionen aus den Gewinnen der „downline“. Die Anzahl und der Erfolg der angeworbenen Neuverkäufer bestimmen den Platz, den ein Mitarbeiter in der hierarchischen Vertriebsstruktur des Unternehmens einnimmt.

Obwohl es eine sogenannte „Kopfprämie“ für das Zuführen neuer Mitarbeiter nicht geben darf – das System wäre nach der Wettbewerbsgesetzgebung illegal – wirkt sich dieses Prinzip vergleichbar aus. Hier sind die Grenzen zu Pyramiden- und Schneeballsystemen fließend. Im Jahr 2011 hatte der belgische Verbraucherschutzverband gegen die Firma Herbalife geklagt, dass die dortigen Verkaufspraktiken ein illegales Pyramidensystem darstellten. Das Brüsseler Handelsgericht gab der Anklage in allen Punkten Recht und verpflichtete den Diätprodukte-Hersteller unter der Androhung von Zwangsgeld zur Einstellung bestimmter Verkaufspraktiken. Ein Vertriebssystem wird dann strafbar, wenn bei der Werbung nicht das Produkt im Vordergrund steht, sondern ein Gewinnversprechen für den Fall, dass man selbst Verbraucher wirbt. Diese Vorgehensweise wird auch „progressive Kundenwerbung“ genannt. Unseriöse Anbieter versuchen geschickt, über das Hauptziel des Anwerbens zu täuschen und mit dem Produktverkauf abzulenken. Es ist daher nicht immer leicht, einen unseriösen Anbieter zu erkennen.

Einschätzung

Haben Strukturvertriebe Konjunktur? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Buchtitel wie „Geldmaschine Strukturvertrieb“ suggerieren die Chance auf immense Verdienstmöglichkeiten. Die tatsächlichen Einkünfte von Mitgliedern können nur geschätzt werden, da nicht alle Direktvertriebe ihre Finanzdaten offenlegen. Hohe Verdienste sind nur für leitende Vertreter mit einigen tausend Vertriebsmitarbeitern zu erreichen. Das wird jedoch nur von einem sehr geringen Bruchteil der Werber (ca. 0,1 Prozent) erreicht. Der überwiegende Anteil der Mitglieder verdient wenig bis gar nichts. Ehemalige Mitglieder berichten sogar von Netto-Verlusten, da die Kosten für Schulungen, Seminare, Motivationsmaterialien und Fahrtkosten das Brutto-Einkommen überstiegen hätten. Offensichtlich überschätzen Arbeitssuchende die Einkommenschancen im Direktvertrieb häufig. Eine Erhebung zur Umsatzentwicklung von zwölf bekannten Strukturvertrieben im Jahr 2014 ergab, dass zwei Drittel von ihnen teilweise massive Umsatzeinbußen hinnehmen mussten.

Nicht jeder Strukturvertrieb ist problematisch. Jedoch müssen potenzielle Verkäufer persönlich von der Überlegenheit der Produkte überzeugt sein, weil objektive Kriterien bei den geläufigen Strukturvertriebsartikeln wie Nahrungsergänzung, Kosmetika und Küchenutensilien schwer ermittelbar sind. Außerdem muss die Bereitschaft bestehen, Berufliches und Privates zu vermischen. Manche Menschen erleben einen Strukturvertrieb als Beziehungsmissbrauch, weil sie ihre Kontaktfähigkeit und ihren Freundeskreis damit belastet und ausgenutzt sehen. Vorsicht ist geboten, wenn

  •  ein schneller Aufstieg innerhalb des Strukturvertriebs sowie enorme Verdienste in Aussicht gestellt werden, ohne dass dabei der Eigenkostenanteil erläutert wird;
  • die Einstiegsveranstaltung damit endet, das zunächst selbst die Ware zu kaufen ist, die man dann verkaufen soll;
  • die fachliche Qualifikation der Vertreterinnen und Vertreter mangelhaft ist;
  • der scheinbare Erfolg von Kollegen ständig vorgeführt wird, etwa im Sinne: „Jeder kann es schaffen, wenn er will“ oder „ab sofort kann niemand mehr behaupten, er habe keine Chance zum ‚Reichwerden’ gehabt“ u. Ä.;
  • mehrmals jährlich Massentreffen des Strukturvertriebs stattfinden, um die Motivation der „Erfolgreichen“ zu fördern;
  • dazu aufgefordert wird, Kunden oder weitere Verkäufer vor allem im Familien- und Freundeskreis zu suchen.

Michael Utsch, Mai 2015


Literatur

Claudia Groß, Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaft? Ideologie in Direktvertrieben und Multi-Level-Marketing-Unternehmen, in: MD 8/2009, 285-293

Claudia Groß, Spiritual Cleansing: A Case Study on how Spirituality can be Mis/used by a Company, in: Management Revue 21 (2010), 60-81

Claudia Groß, Direktvertrieb, Network-Marketing & Multi-Level-Marketing: Versprechen, Fakten, Empfehlungen, Nijmegen 2011 (www.fakten-direktvertrieb.de)

Handelskammer Hamburg (Hg.), Direktvertrieb – Chance und Risiko auf dem Weg zur Selbständigkeit, Dokument 29096, o. J. (abgerufen am 1.4.2015 unter www.hk24.de)

Handelskammer Hamburg (Hg.), Wie erkennen Sie unseriöse Vertriebsformen im Bereich Direktvertrieb, MLM, Networkmarketing?, Dokument 38005, o. J. (abgerufen am 1.4.2015 unter www.hk24.de)

Michael Utsch (Hg.), Erfolg, Optimismus, Gewinn. Erfolgstrainer, Motivationsgurus und Strukturvertriebe auf dem Prüfstand, EZW-Texte 164, Berlin 2002

Fred Wagner, Strukturvertrieb, in: ders. (Hg.), Gabler Versicherungslexikon, Wiesbaden 2011, 639f