Segen

„Grüß Gott“ und „Adieu“ – nur noch wenige werden bei diesen Grußformeln heute an das Thema „Segen“ denken. Und doch handelt es sich dabei um Überreste von Worten und Gesten, die dazu bestimmt waren, „Segen“ zu vermitteln: eine gute, Schutz und Geborgenheit spendende und von außen kommende Kraft. Schon der Doppelwunsch zum Geburtstag „viel Glück und viel Segen“ lebt von dem Wissen, dass gelingendes Leben nicht nur eine Sache des Glücks, sondern auch ein (unverdientes) Geschenk ist. Insofern markiert der Begriff des Segens einen semantischen Common Sense, der die unterschiedlichsten gesellschaftlichen und auch interreligiösen Kontexte miteinander verbindet: Segen bezeichnet das nicht selbstständig erarbeitete oder machbare, sondern dankbar angenommene geschenkte und unverfügbare Gute. Es drückt sich darin das Wissen um die passivische Konstitution der Existenz und deren Angewiesenheit auf andere (höhere) Mächte aus.

Dieses Wissen scheint sich auch im Zuge der viel diskutierten Resakralisierung der Gegenwart, wie sie sich in esoterischer Religiosität, meditativer Spiritualität und ekstatischer Frömmigkeit beobachten lässt, in einer zeitspezifischen Weise zu stabilisieren. In den 1990er Jahren wallfahrten (neo-)charismatisch orientierte Christen nach Toronto, um den umwerfenden Manifestationen des sog. „Toronto-Segens“ teilhaftig zu werden. Neuere religionssoziologische Forschungen beobachten ein steigendes Bedürfnis nach Segenshandlungen und -erlebnissen, sowohl unter Kirchgängern als auch unter jenen, die dem Christentum oder den Kirchen distanziert gegenüberstehen. Viele Gottesdienstbesucher messen dem Schlusssegen mehr Bedeutung bei als der Predigt (vgl. Pohl-Patalong 2011, 161), und selbst nichtchristliche Angebote zur Verbindung mit höheren Energien beschreiben diese mittlerweile als „Segnungen“.

Ursprünge und Transformationen

Etymologisch geht der Begriff auf das lateinische signare / signum („bezeichnen“ / „Zeichen“) zurück. Er nimmt ein Be- oder Ausgezeichnetwerden in den Blick, womit Menschen der Wirkkraft eines besonderen Zeichens oder Sprechaktes (z. B. des priesterlichen Segens) unterstellt werden. Vertreter der klassischen Religionsphänomenologie des frühen 20. Jahrhunderts glaubten im Segen noch einen gemeinsamen numinosen „Urgrund“ der Religionen und Kulturen entdecken zu können, der allen Gestaltwerdungen des Religiösen vorausliegt. Die zeitgenössische Religionswissenschaft ist demgegenüber verhaltener: Sie versteht Religionen als zwischenmenschlich kommunizierte Verständigungen über die den Menschen umfassende und zugleich transzendierende Wirklichkeit und fragt daher zunächst nach dem Vorkommen und dem Gebrauch eines Begriffs von „Segen“ in spezifischen Religionsgemeinschaften.

Als eigenständiger Begriff begegnet „Segen“ vornehmlich im (alt)hebräischen Sprachraum, in dem das einschlägige hebräische Lexem brk (mitsamt den verbalen und nominalen Ableitungen) für die Vermittlung einer lebensfördernden und -sichernden „Heilskraft“ (vgl. Pezzoli-Olgiati 2004, 1131f) steht. Bereits die Religionen des Alten Orients waren in ihrem Grundtyp auf „die Förderung, Stärkung, Sicherung des natürlichen Daseins in der natürlichen Welt“ (Westermann 1968, 44) ausgerichtet und begriffen dementsprechend die Vermittlung von (Heils)Kraft als „Hauptvorgang“ (ebd.) von Religion. Wie bei späteren, weltweit verbreiteten Opferritualen gingen bereits die Menschen der frühesten altorientalischen Zeit davon aus, Mächte oder Wesen durch spezifische Handlungsvollzüge zu einem positiven Einfluss auf das eigene Leben bewegen zu können. Inhaltlich wird der Segensakt dabei als Akt der Herstellung eines positiven Bandes zwischen dem menschlichen Bittsteller und einem höheren Wesen verstanden. Die den Segen spendende Macht kann allerdings sehr unterschiedlich vorgestellt werden: entweder, wie in der indischen Philosophie, als eine alles durchdringende und universale Essenz oder, wie in Judentum, Christentum und Islam, als einziger Gott oder, wie in den nichttheistischen Traditionen, als deren Gründer selbst.

Trotz dieser Divergenzen bleibt für die Vermittlung von Segen zweierlei konstitutiv: das (spezifische Liturgien und Sprechakte enthaltende) Ritual und die das Ritual durchführenden Akteure, seien sie Priester, Mönche, Schamanen, Stammeshäuptlinge oder sonstige Autoritäten. Dabei eint alle Sprechakte, welche die heilschaffende Kraft einer höchsten Macht oder eines transzendenten Reiches ins Diesseits zu übertragen suchen („Es segne/n Dich der Herr / Gott / die Götter / usw.“), ihr performativer Charakter: Die vorgestellte Wirklichkeit wird nicht nur beschrieben, sondern kraft der schöpferischen Macht der Sprache „gesetzt“ bzw. als präsent und wirksam imaginiert. Das so vermittelte „Heil“ kann dem einzelnen Individuum, aber auch dem erwählten Volk, der belebten und unbelebten Natur und schließlich der gesamten Menschheit zuteilwerden. Alle Bedeutungsnuancen der Stammformen von brk verbindet „die freundliche Zuwendung des Segnenden zu seinem Gegenüber“ (Veijola 2000, 76), wie sie insbesondere im Begriff shalom zum Ausdruck kommt. Mit der Wirklichkeit von shalom und berakah ist immer die Vorstellung äußeren Wohlergehens verbunden, die auch im Prozess der zunehmenden Verinnerlichung der Segensvorstellung nicht verlorengeht.

Gegenüber altorientalischen Traditionen nimmt das Alte (oder: Erste) Testament unverkennbar eine Transformation im Verständnis von Segen vor: Gott wird zum alleinigen Segensspender, und der Segen kann sich nun auch auf das Ergehen im Jenseits erstrecken. Darüber hinaus ist dem AT die Vorstellung eines durch Gott selbst gesetzten Neuanfangs durch Abraham (Gen 12f) eigen, der vor der dunklen, in der Urgeschichte (Gen 1-11) beschriebenen Folie des Unheils („Fluch“) markant herausgestellt wird. Der göttliche Segen für „alle Völker auf Erden“ (Gen 22,18) wird mit einem sich in die menschliche Geschichte („Abraham und dessen Geschlecht“) hineinbegebenden Gotteshandeln verknüpft. Die Segenshoffnung setzt auf Vertrauen zum geschichtsmächtigen Gott und auf dessen Treue, nicht aber auf verfügbare Mächte oder Energien. Damit werden die noch in frühen Schichten des AT (vgl. Gen 27) begegnenden archaischen Vorstellungen von Segen als einem magischen, die Übertragung göttlicher Kräfte wirkenden Akt überwunden.

Die literaturgeschichtliche Leistung der Genesis (insbesondere der Priesterschrift) liegt dabei darin, dass sich der bedingungslose Segen Gottes in der von ihr gezeichneten Ursprungsgeschichte Israels von der Schöpfung (vgl. Gen 1,22.28) bis zum partikularen Kultbetrieb Israels spannt. Zudem kann dieser Segen auch zwischenmenschlich zugesagt werden. Im Zuge der weiteren Entwicklung (exilische Prophetie, Psalter, Buch Hiob) wird das Segensverhältnis grundlegend vom Tun-Ergehen-Zusammenhang entkoppelt: Selbst am absoluten Tiefpunkt der Existenz, der eigentlich als Ergebnis eines Fluches begriffen werden könnte, wird Gott „gesegnet“. Im Lobpreis seines Schöpfung und Geschichte umfassenden Segenshandelns wird an ihm festgehalten: „Gesegnet sei Gott in Ewigkeit“ (Ps 89,53), der „gegeben und genommen [hat] – gesegnet (meborakh) sei sein Name“ (Hi 1,21). Derartige Segenssprüche (berachot) durchweben bis heute das jüdische Alltagsleben und bilden das Zentrum der jüdischen Liturgie. Insofern sie alle Güter des Lebens als verdankte in einen neuen, religiösen Horizont stellen, verändern sie nicht nur die Perspektive auf die Wirklichkeit, sondern – der performativen Kraft der Sprache entsprechend – diese selbst.

Die neutestamentliche Segensvorstellung knüpft in allen wesentlichen Punkten an das AT an: Die (auch seine Feinde mit einschließende) Lebenshingabe Jesu entgrenzt den Segen und lässt die durch den Zuspruch von Gnade (cháris) „gesegneten“ Menschen zu Vermittlern von Segen werden. Sie werden selbst dazu aufgefordert, die „Feinde zu lieben“ (Mt 5,44), all jene zu „segnen“, die sie verfluchen (Lk 6,28), sowie „Böses nicht mit Bösem zu vergelten“ (1. Petr 3,9). Mithin kann der Segen als die „dichteste Grundgeste der christlich-jüdischen Glaubensäußerung“ (Steffensky 1998, 33) bezeichnet werden.

Segensanalogien in weiteren religiösen Traditionen

Der in der biblischen Tradition eigensprachlich mit dem Lexem brk bezeichnete Vorstellungskomplex „Segen“ gewinnt in seiner Singularität nochmals an Kontur, wenn er mit analogen Phänomenen in anderen religiösen bzw. weltanschaulichen Traditionen (exemplarisch hier: ostasiatische Religionsformationen und Islam) in den Blick genommen wird.


Chinesische Traditionen – Das Wohlwollen der Ahnen

In konfuzianisch geprägten Kulturen begegnet eine Analogie zur Vorstellung von Segen bzw. Gesegnetsein, wenn auch direkte eigensprachliche Äquivalente fehlen, in der Vorstellung von der „Harmonie“ (ho) zwischen Himmel, Erde und Mensch als den drei Bereichen des Universums. Hier ist es die durch den König / Herrscher bewerkstelligte Darbringung von Opfern an den als Quelle allen Segens verstandenen „Himmel“ (tian), die den idealen Zustand eines Gleichgewichts (zhongyong) zwischen den beiden Kräften von Yin (passiv) und Yang (aktiv) sowie zwischen den fünf Elementen des Kosmos garantiert.

Zudem manifestiert sich die religionsübergreifend verbreitete Vorstellung einer Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen im Konfuzianismus in einer Lehre von sozialen Beziehungen, aus denen sich verschiedene Verpflichtungen (auch den Ahnen gegenüber) ergeben. Die das Wohlergehen der Lebenden repräsentierenden „Segnungen“ Glück (fa), Wohlstand (lu) und Langlebigkeit (shou) erweisen sich dabei als unmittelbar abhängig von der Erfüllung dieser Verpflichtungen. Ähnliches gilt für den Daoismus, der die Menschen dazu anhält, den Gesetzmäßigkeiten des Dao („Weg“) entsprechend nicht in den Lauf der Natur einzugreifen (wuwei für „Nichthandeln“), sondern sich vielmehr – in der fortwährenden Kultivierung von Energie (qi, gesprochen „tchi“) und Geist (shen) – dem stillen Wirken der Natur anzugleichen.


Hinduismus – Dharma und das Karma des Selbst

Auch das Prinzip des karma bzw. der „wirkenden Tat“, das die unter dem Begriff „Hinduismus“ subsumierten Religionstraditionen des indischen Subkontinents bestimmt, steht quer zu der in der biblischen Tradition so betonten Unverfügbarkeit menschlichen Wohlergehens. Es erklärt das aktuelle Ergehen des in einer schier endlos langen Kette von aufeinander folgenden Wiedergeburten (samsāra) stehenden Menschen durch früheres Handeln und Verhalten. Wohlergehen ist nicht die Wirkung eines von Gottheiten, Geistern oder Ahnen ausgehenden „Segens“, sondern Ergebnis des je eigenen Handelns und Denkens: Je nachdem, ob es in Kongruenz oder in Divergenz zur jeweils eigenen Bestimmung vollzogen wird, bewirkt es gutes bzw. schlechtes Karma.

Für Vorstellungen von „Segen“ oder Entsprechungen dazu wäre somit im klassischen Hinduismus eigentlich wenig oder „kein Platz“ (Feldtkeller 2015, 40). Völlig fremd sind sie der indischen Tradition deshalb aber nicht. Sie begegnen – zumindest in einer übertragenen Form – in der Praxis des den Hinduismus kennzeichnenden Opfers (yajna), das, von Priestern vollzogen, die Götter und Göttinnen erfreut und zugleich die opfernde Person (yajamana) in den Stand versetzt, einen spezifischen Segen „auszuwählen“ (vr). Rituelles Opfer und alltägliches Handeln haben dabei – als Mittel zur Regulierung des Universums – dem dharma als „Erhalter [des Universums]“ zu entsprechen: Demjenigen, der den für die vier Kasten bzw. besser: „Farben“ (varnas) der Gesellschaftsordnung vorgesehenen Regeln folgt, wird der Erhalt des Guten, in biblischer Diktion: des „Segens“ der Götter in Aussicht gestellt.

In der Vielfalt der indischen Religionswelt erweisen sich vor allem Vorstellungen als dominant, die – wie der „Weg der Tat“ (karma-marga) – auf die vorschriftsgemäß vollzogenen Riten oder – wie der „Weg der (Einheits-)Erkenntnis“ (jnana-marga) – auf asketische Entsagung und Meditation ausgerichtet sind. Der Yoga („Joch“) des Patanjali z. B. erstrebt die Einheit des Selbst mit dem Kosmos (brahman) über den von der (körperlichen) „Zucht“ (yama) zur „Sammlung“ (samadhi) führenden achtfachen Pfad. Im Gegenüber zu diesen, dem Moment der Unverfügbarkeit eines gewährten Segens eher entgegenstehenden Traditionen bindet die südindische, bhakti genannte Tradition die Möglichkeit einer Befreiung aus dem samsāra-Kreislauf an die ganzheitliche Hingabe (bhakti) des Menschen an eine Gottheit und entwickelt so eine mit dem biblischen Verständnis von Segen durchaus vergleichbare Vorstellung.


Buddhismus – Ausgelöschtes Selbst und Bodhisattvas

Die das hinduistische Konzept trotz aller Entsagungspraktiken immer noch kennzeichnende Erwartung eines Wohlergehens in der materiellen Welt wird nun von den Lehren des historischen Buddha grundlegend infrage gestellt. Weil es weder ein individuelles „Selbst“ (ātman) noch ein von Dauer gekennzeichnetes „Sein“ – beides ist nur Täuschung (maya) –, sondern nur ein Werden und Vergehen gibt, ist unter den Bedingungen des samsāra eine jede Existenz grundlegend leidhaft verfasst. Die an den Menschen gestellte Herausforderung besteht somit darin, dem Sein nicht anzuhaften, sondern vielmehr dem eigenen Ich – der Lehre vom Nicht-Ich (an-ātman) entsprechend – zu entsagen.

„Segen“ bzw. Befreiung vom Leiden wird, zumindest im Theravāda-Buddhismus, auf dem mühsamen Weg asketischer Praxis bzw. über die Kultivierung verdienstvoller Taten erlangt. Dabei zeigt sich das buddhistische karma-Verständnis in der Frage, welche Handlungen nun „gutes“ oder „schlechtes“ karma bewirken, sehr viel stärker als die hinduistischen Traditionen von allgemeinen ethischen Motiven bestimmt. Zentral gehören dazu Mitgefühl (karunā) und Gleichmut (upekkha), die beide zu einem immer tieferen Erfassen der Wirklichkeit als ein miteinander Verflochtensein bzw. „abhängiges Entstehen“ (pratityasamutpada) verhelfen. Weil kein Wesen ein Selbst besitzt, sondern ein jedes Wesen nur aus einem Ensemble von Daseinsfaktoren (skandhas) besteht, erkennen sich Buddhisten in allen anderen Wesen wieder und erwerben durch selbstloses „Geben“ (dana) gutes Karma: Und wer viel gibt, erwirbt auch viel.

Im Gegenüber zum selbstbezüglichen Verdienstgedanken des Theravāda-Buddhismus entwickelt der religionsgeschichtlich etwas jüngere Mahāyāna-Buddhismus im Ideal des bodhisattva eine Vorstellung, die sich – zumindest in partikularen Zügen – mit der biblischen Vorstellung von Segen vergleichen lässt. Obwohl bereits „erleuchtet“ (bodhi) und damit dem Kreislauf der Wiedergeburten enthoben, entscheidet sich der oder die Bodhisattva aufgrund seines / ihres universalen Mitgefühls (karunā) dazu, im Wirkbereich des samsāra zu verbleiben, um dort anderen Wesen zur Erlösung bzw. Auslöschung (moksha) des Ich zu verhelfen bzw. ihr eigenes gutes Karma auf diese zu übertragen. Diese späteren Formen der (mahāyāna-)buddhistischen Praxis mildern die der engen Verbindung von karma und samsāra verpflichteten Vorstellungen des Theravāda ab und folgen somit wieder der indischen Haupttradition: An die Stelle des Dienstes an Göttern und Göttinnen tritt die Verehrung von bzw. die Hingabe an bodhisattvas, die um Glück und Schutz, oder eben: um „Segen“ angerufen werden.

Im Zuge der Ausweitung dieses bodhi-Konzepts entstand in der Tradition des Mahāyāna eine Fülle mythischer Erzählungen, die nun einzelne bodhisattvas namentlich vorstellen und deren Wohltaten beschreiben. Die auf Shinran (gest. 1263) zurückgehenden Traditionen z. B. des Amida- und (japanischen) Shin-Buddhismus leben – in scharfer Abgrenzung zu allen Bemühungen, eigenständig Erleuchtung zu erzielen – vom „Vertrauen“ (shinjin) auf eine „andere Kraft“ (tariki), z. B. auf die des Buddha Amitabha. Die wirkungsgeschichtlich wohl einflussreichste Gestalt eines Bodhisattva ist Avalokitesvara. Im tibetischen Vajrayāna-Buddhismus gelten zahlreiche Meister (Lamas) als dessen (Wieder-)Verkörperung; so z. B. auch der XIV. Dalai Lama Tenzin Gyatso (geb. 1935).


Islam – Schöpfungszeichen und Gottergebung

In der kompromisslos monotheistischen Sichtweise des Islam sind es zunächst allein die sich in den „Zeichen“ (āyāt) der Schöpfung und ihrer Rechtleitung (im Koran und dessen „Versen“ / āyāt) widerspiegelnden Wohltaten Gottes, in denen sich Segen manifestiert. Doch stellt zugleich die dem menschlichen Sein entsprechende vollständige und „tätige Ergebung“ (islām) an den Schöpfergott eine wesentliche Form des Segens (brk) dar: Wer so handelt, wie Gott und / oder der Prophet es vorgeschrieben hat, ist „gesegnet“ (mubārak), wobei der traditionelle bzw. Scharia-orientierte Islam die Bedeutung des Wortes baraka bzw. barakāt (dessen Pluralform) immer auf die Segnungen Gottes beschränkt. Die Teilnahme an religiösen Ritualen (insbesondere während des Fastenmonats und des Opferfestes) ist zwar von besonderem Verdienst. Doch ist es erst die Barmherzigkeit (rahma) Gottes, die Segen ermöglicht. Insofern das gesamte, von Gott erschaffene Universum immer schon von Segen erfüllt ist, können zwar auch Menschen (ebenso wie Gegenstände, Orte und Zeiten) „ein Segen“ sein oder, wie beim Friedensgruß as-salāmu ʿalaikum, für andere den Segen erbitten. Im Unterschied zur jüdisch-christlichen Tradition aber können sie nicht einander Segen spenden. Das vermag nach traditionell-islamischer Lehre allein Gott.

In seiner Adaption und Neuinterpretation religiöser, dem Judentum und Christentum gemeinsamer Grundbegriffe greift auch der Koran die Verheißung an den Erzvater Abraham auf und schreibt sie nun all denen zu, „die sich dem Kult hingeben, sich verneigen und niederwerfen“ ([Sure] Q 2,125). Intertextuell gelesen begegnet hier eine koranische Neuauflage der bereits paulinischen Ausweitung des Titels der „Abrahamskinder“ (Röm 9,7f), mit dem nicht unwesentlichen Unterschied, dass der Koran diese universale Ausweitung, die Paulus mit dem Versöhnungshandeln Gottes begründet, partiell zurücknimmt bzw. sie am Handeln der Gottgläubigen selbst festmacht und damit in ethischer Perspektive überarbeitet: Nicht einbezogen in die Verheißung an Abraham und dessen „Nachkommenschaft“ (min dhurrīyatī) werden „die Frevler“ (aẓ-ẓālimīn, Q 2,124). Während das (hebräische) Lexem brk vornehmlich in den Bezugnahmen des Korans auf das Judentum, das „gesegnete Land“ (Q 21,81) oder die von der Tradition als Tempelberg gedeutete „fernste Moschee“ (Q 17,1) begegnet, liegt der Fokus des ebenfalls eine Vorstellung von Segen aufgreifenden arabisierten Lexems ṣ-l-‘ (ṣalla) auf der göttlichen „Rechtleitung“ (hidāya).

In der Volksfrömmigkeit hat die in Sure 33,56 formulierte Aufforderung an die Gläubigen, den Segenswunsch (taṣlīya bzw. ṣalāt) über dem Propheten auszusprechen („Gott segne ihn und schenke ihm Heil“, ṣallā ʾllāhu ʿalayhi wa-sallam), die Vorstellung entstehen lassen, dadurch auch der Fürsprache (šafāʿa) des Propheten teilhaftig zu werden. Ähnlich aber wie die Rolle des Propheten als Fürsprecher blieb in der muslimischen Religionsgemeinschaft immer umstritten, in welchem Maße Menschen zu Trägern von baraka im Sinne einer besonderen Segensmacht werden können. Während sich der Sufismus bzw. die von der islamischen Mystik geprägte Volksfrömmigkeit hier aufgeschlossen zeigt, stehen die Rechtsgelehrten des Islam allen Praktiken, welche die Macht der Segensspendung nicht nur auf Gott begrenzt sehen, mit großer Zurückhaltung gegenüber.

Ausblick – Geschichte und Vertrauen

Auch wenn sich in den expliziten oder impliziten Segensvorstellungen religions- und kulturübergreifend eine Praxis der Kontingenzbewältigung Ausdruck zu verschaffen scheint, lassen es die aufgezeigten Spezifika der biblischen und nachbiblischen Segenskonzeptionen geboten erscheinen, den Begriff „Segen“ nur mit Vorbehalt als transreligiösen Brückenbegriff zu gebrauchen. Freilich lassen sich Vorstellungen der indischen bhakti-Frömmigkeit oder des Mahāyāna-Buddhismus (vgl. die auf Vertrauen gegründete Anrechnung des fremden bodhisattva-Verdienstes auf die Gläubigen) durchaus mit den biblischen Segensvorstellungen und dem für sie typischen Vertrauensverhältnis in Verbindung setzen, das sich in ein gnadenhaftes Versöhnungshandeln einbezogen und damit „gesegnet“ weiß.

Analogielos bleibt aber, zumindest mit Blick auf die klassischen „heiligen Schriften“ (Veden, Bhagavadgita, Pali-Kanon, Koran usw.), das die biblische(n) Segenskonzeption(en) bestimmende Moment der kontingenten Bindung des Segens an das zutiefst partikulare (Heils-)Handeln Gottes in der (Heils-)Geschichte (Abraham, Isaak, Jakob, Jesus). Diese Bindung löst den Segen von allen menschlichen Vorleistungen und entzieht ihn damit zugleich – möglicherweise der größte Unterschied zu nichtbiblischen bzw. andersreligiösen Segensvorstellungen – einer jeden menschlichen Verfügbarkeit bzw. Machbarkeit. Der Empfang des Segens wird zu einer Sache des Vertrauens auf die dem Menschen im (Wort und Geste umfassenden) Akt des Segnens vermittelte, allein von der Verheißung bzw. Treue Gottes getragene Zusage, von ihm selbst vorbehaltlos angenommen und so „gesegnet“ zu sein. Der oben im „zumindest“ angedeutete Vorbehalt liegt in der unhintergehbaren Perspektivität und Begrenztheit des hier Ausgeführten begründet. Buddhisten und Muslime z. B. werden in den historischen Gestalten des Siddhārtha Gautama oder des Propheten Muhammad ebenso segensvolle Manifestationen des grenzenlosen Mitgefühls der letzten Wirklichkeit erkennen wollen wie Christen im biblisch bezeugten Handeln Gottes. Nur schreiben sie diesen Manifestationen weder den Charakter eines ein für alle Mal geschehenen Heilsereignisses zu, noch entwickeln sie daraus jene spezifischen Formen einer Segnungspraxis, die so zentral den jüdischen und christlichen Gottesdienst prägen.

Rüdiger Braun, September 2021


Literatur

Feldtkeller, Andreas (2015): Segen aus Sicht der Religionswissenschaft, in: Leuenberger, Martin (Hg.): Segen, Tübingen, 25 – 48.

Pezzoli-Olgiati, Daria (2004): Art. Segen und Fluch. Religionsgeschichtlich, in: RGG4 7, 1131f.

Steffensky, Fulbert (1998): Das Haus, das die Träume verwaltet, Würzburg.

Pohl-Patalong, Uta (2011): Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart.

Veijola, Timo (2000): Art. Segen / Segen und Fluch. II. Altes Testament, in: TRE 31, 76 – 79.

Westermann, Claus (1968): Der Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche, München.