Perfektionismus

Als Perfektionismus wird eine Frömmigkeitshaltung bezeichnet, für die das Streben nach Vollkommenheit (lat. perfectio) und völliger Freiheit von der Sünde charakteristisch ist und die davon ausgeht, dass dies ganz oder teilweise erreicht werden kann.

Geschichtliche Anknüpfungen

Die biblischen Aussagen zur Ganzheit und Vollkommenheit (5. Mo 6,5; v. a. Mt 5,48; 19,21 u. a.) werden von perfektionistischen Gemeinschaften in spezifischer Weise aufgegriffen, interpretiert und zumeist unter Bezugnahme auf kirchen- und theologiegeschichtliche Vorbilder (Montanismus, asketische und monastische Bewegungen etc.) aktualisiert. Vollkommenheit wird behauptet, ersehnt, biblizistisch gefordert. Die Reformatoren treten mit Bezug auf die Rechtfertigung des Sünders allein durch Gottes Gnade einer Leistungsfrömmigkeit pointiert entgegen und bestreiten einen „Stand der Vollkommenheit“, der das Angewiesensein auf die göttliche Gnade hinter sich lassen kann. Perfektionistische Strömungen, wie sie vor allem im Protestantismus des 19. Jahrhunderts wirksam wurden, greifen insbesondere allem Impulse der aus dem Methodismus kommenden Heiligungsbewegung auf. Charakteristisch für Lehre und Frömmigkeitsvollzug ist dabei das Verlangen nach „völliger Heiligung“ (entire sanctification) als zweitem, der Rechtfertigung bzw. Wiedergeburt folgendem Werk göttlicher Gnade, verbunden mit radikaler Hingabe an Christus.

Das Verständnis christlicher Vollkommenheit kann sich sowohl auf die Glaubensexistenz des Einzelnen beziehen als auch auf das Leben der christlichen Gemeinschaft. Ist ersteres im Blick, wird ein stark ethisch orientiertes Verständnis der Heiligung akzentuiert, das sich erfahrungsbezogen von der Rechtfertigung ablöst und insofern einen „Schritt über die Rechtfertigung hinaus“ (Kurt Hutten) darstellt. Wird letzteres betont, so ist die Suche nach der reinen Gemeinde bestimmend bzw. der Versuch, das urchristliche Lebens- und Gemeindeideal wiederherzustellen. Abgesehen von diesen gemeinsamen Grundausrichtungen der Frömmigkeit wird mit Perfektionismus eine Haltung und Suche bezeichnet, die für ein größeres Spektrum von Gruppen und Strömungen bezeichnend ist, die sich in Lehre und Praxis durchaus unterscheiden. Besondere Verbreitung fand perfektionistisches Gedankengut durch diejenigen pentekostalen und charismatischen Frömmigkeitsformen, die die Erfahrung des reinen Herzens und Gewissheit der Sündlosigkeit als Weg zur Geisterfüllung (Geistestaufe) hervorheben.

Beispiele

Beispiele für perfektionistische Strömungen sind u. a. Gemeinschaftsbildungen, für die die Suche nach der vollkommenen Gemeinde bestimmend ist. Sie haben sich weit über den amerikanischen Wurzelgrund hinaus ausgebreitet. Ihre ekklesiologischen Visionen sind an der „Wiederherstellung neutestamentlicher Gemeinden“ orientiert. In der Außenperspektive konnten sie ihre eigenen konfessionsgeschichtlichen Bedingtheiten jedoch nicht verleugnen. Einzelne Gemeinschaftsbildungen haben im Laufe der Jahre ihr perfektionistisches Streben neu interpretiert und entradikalisiert, so etwa die „Gemeinde Gottes“ (Anderson), die durch Daniel S. Warner (1842-1895) entstand und sich heute in ein freikirchliches und evangelikales Spektrum einordnet. Ähnliches gilt im Blick auf die aus der radikalen Heiligungsbewegung kommende „Kirche des Nazareners“ (Church of the Nazarene; Nazarener), die 1908 durch Phineas F. Bresee (1838-1915) gegründet wurde. Sie hat sich inzwischen weltweit (2009 in etwa 150 Ländern mit ca. 1,3 Mill. Mitgliedern) ausgebreitet, wobei der perfektionistisch orientierte Heiligungsgedanke zurückgenommen wurde. Die Kirche des Nazareners ist Mitglied im „Weltrat Methodistischer Kirchen“. In Deutschland gibt es 20 Gemeinden mit ca. 1300 Mitgliedern und Besuchern. Die Kirche ist Mitglied in der „Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ (VEF); zahlreiche ihrer Mitglieder pflegen Beziehungen zur Evangelischen Allianz.

Ein anderes Beispiel stellen die Smithianer (andere Bezeichnungen: Smiths Freunde, Norweger-Bewegung, Die Christliche Gemeinde) dar, die um 1910 durch den zunächst der Pfingstbewegung nahestehenden Johan O. Smith (1871-1943) entstanden und sich ebenfalls weltweit verbreiteten. In Deutschland gibt es 22, in der Schweiz zwei, in Österreich sechs Gemeinschaften. Der „Kampf gegen die Sünde“ hat hier die Gestalt neuer Gesetzlichkeit und einen elitären Anspruch gewonnen, der ökumenische Kontakte verhindert, obgleich auch in der Norweger-Bewegung gesetzliche Lebensregulierungen teilweise zurückgenommen wurden.

Die 1927 durch Mara Fraser (1889-1972) gegründete Spätregen-Mission ist von pfingstlerischem und perfektionistischem Gedankengut bestimmt und fordert von ihren Anhängern eine grundlegende Trennung von der Welt und ein radikales „Ausbekennen“ der Sünden. Die Gemeinschaft errichtete in Deutschland einzelne Glaubenshäuser (u. a. in Beilstein/Württemberg, bei Minden/Westfalen, bei Lüneburg).

Perfektionistische Strömungen im weiteren Sinn beeinflussen zahlreiche weitere Gruppen, insbesondere diejenigen, die ein bestimmtes Ideal von Gemeinde und persönlicher Frömmigkeit verabsolutieren. Dazu gehören neue christliche Gruppenbildungen wie die „Internationalen Gemeinden Christi“ (International Churches of Christ, früher Boston-Bewegung), die 1979 in Boston entstanden. Unter der Leitung von Kip McKean (geb. 1954) gewann diese Bewegung durch Aufnahme der „Shepherding“-Methode (auch „dicipling“ genannt) eine klare Organisationsstruktur, die beinhaltet, dass jeder Christ unter der Autorität eines Hirten steht und zum aktiven Missionsdienst verpflichtet ist. Die Internationalen Gemeinden Christi tendieren zu einem ekklesiologischen Perfektionismus, der eine bestimmte Hierarchie im Aufbau der Gemeinde zur Norm erhebt und christliches Leben in gehorsamspflichtigen Abhängigkeitsverhältnissen versteht. Durch den Rückzug McKeans aus der Leitungsverantwortung sind die aggressive Missionspraxis der Gruppe und ihr exklusives Selbstverständnis hinterfragt worden.

Perfektionistisches Gedankengut bestimmt teilweise auch Gemeinschaftsbildungen, die in der „Konferenz für Gemeindegründung“ (KFG) zusammengeschlossen sind. Die Konferenz verfolgt das Ziel Gemeinden aufzubauen, die sich „konsequent am biblischen Vorbild der christlichen Urgemeinde orientieren“. Kontakte werden zu zahlreichen freien Brüdergemeinden, freien Baptistengemeinden, Mennonitischen Brüdergemeinden und Biblischen Missionsgemeinden unterhalten, eine ökumenische Offenheit wird angelehnt.

Neben solchen Gruppen und netzwerkartigen Zusammenschlüssen von Einzelgemeinden gibt es Einzelgänger, die Gruppen um sich scharen und in Schrifttum und Aktionen öffentlichkeitswirksam agieren. Hintergrund der Gemeinschaftsbildungen um Ivo Sasek (vgl. MD 4/2003, 132-143) und Horst Schaffranek (vgl. MD 3/1993, 81-85) sind Idealbilder individuellen und gemeinschaftlichen christlichen Lebens. Bei Schaffranek verbindet sich das Idealbild von Gemeinde mit der Verabsolutierung eines bestimmten Verständnisses von Ortsgemeinde, das den Hintergrund für seine aggressive Infragestellung aller christlichen Gemeinschaften und Kirchen darstellt. Im Anschluss an Witness Lee und die so genannten „Ortsgemeinden“ (vgl. Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Freiburg i. Br. / Basel / Wien 2005, 935-937) wird die Auffassung vertreten, dass alle wahrhaft Wiedergeborenen eines Ortes Teil der einen Ortsgemeinde sein müssen. Endzeitlich motivierte Kirchenkritik und eine strenge Heiligungspraxis charakterisieren die Schaffranek-Gruppe und die Obadja-Gemeinschaften (Organische Christus-Generation) Ivo Saseks, aber auch weitere Einzelgruppen, deren Einfluss jedoch insgesamt gering bleibt.

Einschätzung

Perfektionistische Strömungen sind ein Phänomen, das in verschiedenen Religionen und Weltanschauungen begegnet. Sie begleiten die Christenheit seit ihren Anfängen. Zu ihren Entstehungsbedingungen gehört u. a. der Kontext eines angepassten Christentums, dem sie in biblizistischer Berufung auf das Neue Testament die Radikalität und Vollkommenheit urchristlichen Lebens entgegensetzen. Insofern perfektionistische Strömungen den Wegcharakter (Phil 3,12; 1. Kor 13,9ff) christlicher Glaubensexistenz unterschätzen, verlassen sie die Perspektive eines bibeltheologisch begründbaren Verständnisses von Heiligung, das angesichts der Erwartung des kommenden Reiches Gottes von der Vorläufigkeit und Gebrochenheit aller individuellen und gemeinschaftlichen Ausdrucksformen ausgeht.

Reinhard Hempelmann, April 2009


Literatur

Hutten, Kurt, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 1950 (121982), 262ff

Melton, John Gordon (Hg.), The Encyclopedia of American Religions, Detroit u. a. 51996

Melton, John Gordon, Biographical Dictionary of American Cult and Sect Leaders, New York / London 1986

Ohlemacher, Jörg, Evangelikalismus und Heiligungsbewegung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte des Pietismus, Bd. 3, 19. und 20. Jahrhundert, im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. von U. Gäbler, Göttingen 2000, 371-391

Ruhbach, Gerhard, Artikel Perfektionismus, in: H. Gasper / J. Müller / F. Valentin (Hg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Freiburg i.Br. / Basel / Wien 51994, 804-806

Voigt, Karl Heinz, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft, Wuppertal 1996