Konfessionslosigkeit und Atheismus

Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die religiöse Lage in Deutschland grundlegend verändert. Zu den auffälligsten Faktoren gehört die signifikante Zunahme dessen, was häufig als Konfessionslosigkeit bezeichnet wird. Dieser Begriff ist jedoch unscharf und erklärungsbedürftig. Zumeist wird er als Chiffre für religiöse Distanz, also für das Phänomen verwendet, wonach Menschen sich keiner Kirche oder Religion verbunden fühlen und in keiner Religionsgemeinschaft Mitglied sind. Aber auch diese Beschreibung ist unscharf, da es durchaus Menschen gibt, die Religion praktizieren, aber in keiner organisierten Religionsgemeinschaft Mitglied sind.

Dennoch ermöglicht die Frage nach der Mitgliedschaft in einer Kirche bzw. Religionsgemeinschaft eine erste Orientierung. So sind im Westen Deutschlands etwa 40 % der Bevölkerung keine Kirchenmitglieder, in Ostdeutschland liegt die Zahl der Konfessionslosen mit über 75 % deutlich höher.1  Ein Blick auf die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in den letzten 50 Jahren illustriert die Entwicklung. 1970 konnte man im damaligen Westdeutschland noch davon sprechen, dass mehr oder weniger „alle“ Bundesbürger (93,6 %) Mitglied einer der beiden großen Kirchen waren. Ende der 1980er Jahre war es erstmals möglich, eine nennenswerte Zahl an Konfessionslosen zu nennen (1987: 15,5 % der Westdeutschen). Heute ist in Deutschland etwa jeder dritte Bundesbürger konfessionslos – laut dem religionskritischen, aber gut informierten Portal „fowid“ liegt die Quote derzeit bei bundesweit 39 %.2

Diese Quote der Konfessionslosigkeit ist aus mehreren Gründen unscharf. So werden auch die bei uns lebenden Muslime (etwa 5 Millionen), aber auch die Mitglieder zahlreicher Freikirchen, christlicher Sondergemeinschaften, die Angehörigen anderer Weltreligionen und weiterer Denominationen in formaler Hinsicht als konfessionslos bezeichnet. Das erschwert eine exakte Erhebung und erklärt, warum die Angaben in der Literatur stark schwanken.

Ohnehin ist mit dieser Zahl nur die formale Konfessionslosigkeit in dem Sinne erfasst, dass diese Menschen keiner Kirche bzw. Religionsgemeinschaft angehören. Hinzuzudenken wären noch all jene, die gemessen an ihren Glaubensvorstellungen konfessionslos sind, aber formal einer Kirche angehören.

Die Konfessionslosen bilden damit – wie gerade von kirchenkritischer Seite häufig betont wird – das erste Drittel; die Katholiken stehen für das zweite und die Evangelischen für das dritte. Das Problem dieser Einteilung in Drittel besteht allerdings darin, dass man die diffus Konfessionslosen als ein Drittel wertet, die ökumenisch befreundeten christlichen Kirchen jedoch getrennt betrachtet. Das ist nicht sachgemäß, da die Konfessionslosen weitaus disparater sind als die Christen.

„Normalzustand Konfessionslosigkeit“

Unbeschadet dessen ist unstrittig, dass der Anteil der Konfessionslosen an der Gesamtbevölkerung kontinuierlich steigt. Der demografische Wandel und die weiterhin hohen Austrittszahlen verändern das religiöse Leben und die religiöse Kultur in Deutschland nachhaltig. So verloren die beiden großen Kirchen zusammen im Jahr 2019 mehr als 540 000 Mitglieder allein durch Austritte. Um die Wucht der Veränderungen zu illustrieren, wird gelegentlich gesagt, die Konfessionslosigkeit sei die am schnellsten wachsende weltanschauliche Orientierung in Deutschland. Diese Feststellung trifft jedoch nur zu, wenn man der Konfessionslosigkeit eine eigene weltanschauliche Qualität zubilligt – doch das ist zu hinterfragen. Denn die sog. Konfessionslosigkeit ist ein hoch disparates Phänomen.

Unübersehbar sind auch die regionalen Unterschiede bei diesem Thema. Während wir in Bayern, Baden-Württemberg, aber auch in Sachsen und Thüringen durchaus Gegenden mit volkskirchlichem Charakter finden, gibt es in Norddeutschland, Brandenburg und Sachsen-Anhalt Regionen, in denen die Kirchenmitgliedschaft klar unter 10 % der Wohnbevölkerung liegt. In Halle / Saale oder auch in Magdeburg sind mehr als 90 % der Bevölkerung konfessionslos. Sucht man gelebte Frömmigkeit, so findet man z. B. im Berliner Stadtteil Hellersdorf nicht mehr Christen und Christinnen als in mancher arabischen Stadt.

Weltweit gibt es nur wenige Länder bzw. Regionen, in denen die Konfessionslosigkeit ähnlich hoch ist wie in Ostdeutschland. Allenfalls Estland (87 %), die Niederlande (68 %) und Tschechien (60 %) können zum Vergleich herangezogen werden (vgl. Pollack / Rosta 2016, 197). In jüngster Zeit mehren sich Hinweise, wonach die Quote der Konfessionslosen auch in der Schweiz und in den USA nennenswert steigt – wenngleich von einem völlig anderen Niveau ausgehend.

Die hohe Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands ist umso wirkmächtiger, als es sich zumeist um „vererbte Konfessionslosigkeit“ handelt. In einer Studie der Universität Chicago hieß es bereits vor einigen Jahren, nirgends auf der Welt sei die Quote der Menschen, die nicht an einen Gott glauben und noch nie an einen Gott geglaubt haben, höher als in Deutschlands Osten. So sagten bereits im Jahr 2008 knapp 60 % der Befragten, dass sie nicht glauben und auch noch nie in ihrem Leben an Gott geglaubt haben (vgl. Smith 2012).

Konfessionslosigkeit ist im Osten Deutschlands der soziale Normalfall. Eine Entscheidung für Kirche und Religion, für Taufe, Konfirmation oder kirchliche Trauung ruft hier Erstaunen hervor und gilt im Freundeskreis als erklärungsbedürftig. Die Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD aus dem Jahr 2014 sprach folgerichtig erstmals vom „Normalzustand Konfessionslosigkeit“ (EKD 2014, 81).

Charakteristisch für die Wahrnehmung von Konfessionslosigkeit als sozialem Normalfall ist auch die inzwischen vielfach zitierte Äußerung von Jugendlichen bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich oder eher atheistisch“ verstehen, haben einige geantwortet: „Weder noch, normal halt“ (Wohlrab-Sahr 2000, 152).

Übrigens ist das „normal halt“ vom Leipziger Hauptbahnhof in mehrfacher Hinsicht interessant. Die Aussage bestätigt nicht nur die Alltäglichkeit der Konfessionslosigkeit, sondern auch, dass atheistische Einstellungen nicht wirklich mehrheitsfähig sind. So kommt Atheismus den befragten Jugendlichen als Lebensoption ebenfalls nicht in den Sinn – er ist ihnen genauso fremd wie die Religion.

Konfessionslos oder konfessionsfrei?

Es ist umstritten, ob der Begriff „Konfessionslosigkeit“ den Forschungsgegenstand hinreichend beschreibt. Besonders in der katholischen Religionssoziologie spricht man bevorzugt von „religiöser Indifferenz“. So wird hervorgehoben, dass es sich bei der in Deutschland anzutreffenden Religions- und Kirchenferne eher um eine indifferente, das heißt unklare Haltung handelt. Der typische Konfessionslose (zumal im Osten Deutschlands) ist weder „für“ noch „gegen“ Religion – das Thema ist ihm eher gleichgültig.

Als problematisch erweist sich, dass die Konfessionslosigkeit sich in erster Linie dadurch auszeichnet, dass etwas nicht besteht – nämlich eine Kirchen- bzw. Religionszugehörigkeit. Es ist schwierig, darüber hinaus positive Aussagen zu treffen. Im Grunde gibt es „die“ Konfessionslosen nicht; sie sind keine homogene Gruppe – allenfalls eine Abgrenzungsgemeinschaft.

In kirchenkritischen Kreisen spricht man daher bevorzugt von „konfessionsfrei“ statt von „konfessionslos“. In einem Interview wird diese Haltung wie folgt erklärt:

„Das Adjektiv ‚konfessionslos‘ und seine Subjektivierung zur Gruppenbezeichnung ‚Konfessionslose‘ transportieren die Konnotation, dass jemandem etwas wesentlich fehlt. Sie können einmal andere Begriffskonstruktionen mit ‚-los‘ bilden: bewusstlos, verantwortungslos, traditionslos. Man sieht an diesen Beispielen die negative Wertung, die Begriffe mit ‚-los‘ mit sich tragen. Den ‚Konfessionslosen‘ scheint daher etwas Wichtiges zu fehlen, nämlich eine Konfession. Aber jemand, der keine Konfession hat, ist kein mangelhafter Mensch. Das Wort ‚konfessionsfrei‘ enthält dagegen keine negative Bedeutung. Es sagt einfach, dass man keine Konfession hat und ist daher neutraler“ (Heinrichs 2017, 249).

Vollends kompliziert wird die Suche nach einem angemessenen Begriff, wenn man fragt, ob nicht einige der engagierten Konfessionslosen eben doch einem Bekenntnis und damit einer Konfession anhängen: Indem sich Menschen z. B. zum Humanismus bekennen, sind sie nicht frei aller Konfession – sie stehen vielmehr einer humanistischen Konfession nahe. Schließlich kennt auch der organisierte Humanismus seine „Glaubenssätze“. Ein Blick auf die politische Arbeit des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD) bestätigt den Verdacht: Er geriert sich als (humanistische) Konfession, begründet seine politische und weltanschauliche Arbeit mit Hinweis auf Artikel 4 Grundgesetz, ist in Berlin als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt, und er bietet in einigen Bundesländern das wertegebundene Unterrichtsfach „Humanistische Lebenskunde“ an.

Es verwundert nicht, dass freidenkerisch-humanistische Kreise versuchen, die Konfessionslosen als „dritte Konfession“ zu beschreiben (vgl. Groschopp 2006). Überzeugen kann dieser Versuch freilich nicht, da man eine Konfession schlecht über die Abwesenheit eines (positiven) Bekenntnisses, einer confessio, beschreiben kann. Dieser Streit dürfte jedoch in der politischen Diskussion um die Rolle von Konfessionslosen und deren Verbänden in der Zukunft an Bedeutung gewinnen, so z. B. in der Frage nach humanistischen Seelsorgern in der Bundeswehr, humanistischen Schulen, Lehrstühlen und humanistischen Hochschulen.3

Im Jahre 2000 hatte der katholische Theologe Eberhard Tiefensee die Formel von einer „dritten ‚Konfession‘“ erstmals benutzt, als er den Zustand der christlichen Kirchen in den neuen Bundesländern mit dem Satz beschrieb: Es kann „von einem Volksatheismus als einer dritten ‚Konfession‘ neben den beiden anderen Konfessionen […] gesprochen werden“ (Tiefensee 2000, 32). Tiefensee wollte damals dem Volksatheismus jedoch nicht die Qualität einer Konfession zusprechen, sondern eine soziologische Beschreibung vornehmen: Ebenso wie es einen Volkskatholizismus gibt, also ein Milieu, das fraglos gewisse Traditionen übernimmt, so hat der Volksatheismus seine eigenen Traditionen und seine eigene Feierkultur.

Wer sind die Konfessionslosen?

Eine große Schwierigkeit bei der Beschreibung des Phänomens der Konfessionslosigkeit bzw. der religiösen Indifferenz besteht darin, dass es erstaunliche Schnittmengen gibt. So finden wir in den Kirchen Mitglieder, die, nach ihren Glaubensvorstellungen befragt, eigentlich als Atheisten zu zählen wären; umgekehrt gibt es aber auch im Segment der Konfessionslosen Menschen, die an eine höhere Macht glauben und als religiös bezeichnet werden können.

Fragt man, wie viele Menschen unabhängig von Kirchenmitgliedschaft an Gott glauben oder sich selbst religiös nennen, so fallen die Ergebnisse recht unterschiedlich aus. So glauben 58 % der Bundesbürger an Gott. Erneut finden wir starke Unterschiede zwischen West und Ost. Während in den alten Bundesländern zwei von drei Befragten an einen Gott glauben (67 %), tut dies im Osten nur jeder vierte (25 %).4

Heute finden wir unterschiedliche Facetten der Konfessionslosigkeit in Deutschland. Im Osten dominieren Fremdheitsgefühle, und die Kirchen werden als etwas Unvertrautes, mitunter gar als etwas Exotisches wahrgenommen. Im Westen Deutschlands haben Entkirchlichung und Konfessionslosigkeit eine andere Gestalt. Hier gehört die Kirchenmitgliedschaft nach wie vor häufig „zum guten Ton“. Es dominiert eine „Kultur der Konfessionsmitgliedschaft“. Selbst wenn man sich innerlich von den Kirchen entfernt, bleibt man formal dabei, man heiratet kirchlich und hält die Kinder an, den Konfirmandenunterricht bzw. die Firmung zu besuchen. Doch wächst auch hier die Distanz, was z. B. der stetig nachlassende Gottesdienstbesuch und die hohen Austrittszahlen zeigen. Als verheerend erweisen sich derzeit auch die Konflikte um sexuellen Missbrauch in den Kirchen und dessen zögerliche Aufklärung.

In Deutschland entsteht eine „Kultur der Konfessionslosigkeit“. Zwar gibt es durchaus Bedarf an Lebenshilfe und Orientierung, auch Interesse an Sinnfragen und spirituellen Themen im weiteren Sinn – aber man erwartet von den Kirchen kaum noch Antworten und benötigt Kirche und Religion auch nicht zur Bewältigung des Alltags. Oftmals werden die Kirchen als fremd und wirklichkeitsfern empfunden. Sucht man mit dergestalt Distanzierten das Gespräch, so hört man den ernüchternden Satz: „Für mein Leben brauche ich keine Kirche, und religiöse Fragen interessieren mich nicht.“

Die Autorin Rita Kuczynski beschrieb vor einigen Jahren Konfessionslose wie folgt: „[Sie machen sich] über ihre Gottlosigkeit gar keine Gedanken.“ Sie „brauchen für ihre persönliche Sinnfindung keinen Gott, brauchen nichts Übersinnliches, nichts Transzendentes. Sie leben im Hier und Jetzt und sehen am Himmel nur Vögel, Flugzeuge und Wolken. Und: Ihnen fehlt nichts!“ (Kuczynski 2013, 13)

Häufig wird in diesem Zusammenhang auch Max Webers Metapher zitiert, wonach manche Menschen „religiös unmusikalisch“ seien. Diese Formel beschreibt das Problem recht gut, da vielen Menschen jeglicher Zugang zur Welt des Religiösen fehlt. Wie ein unmusikalischer Mensch verständnislos auf ein Notenblatt blickt, schaut der „normale Konfessionslose“ ratlos auf die Kirchen und deren Lebensäußerungen.

Die Fremdheit und „Unmusikalität“ vieler Menschen religiösen Themen gegenüber hat jedoch auch einen erstaunlichen Nebeneffekt. Atheismus und radikale Kirchenkritik sind merkwürdig schwach ausgeprägt. Offensichtlich „reibt“ man sich wenig an den Kirchen. Die statistisch erfassbare Konfessionslosigkeit korrespondiert nicht mit engagiertem Atheismus. Zumeist bedeutet Konfessionslosigkeit religiöse Indifferenz, während der engagierte Atheist durchaus Position bezieht. Einem engagierten Atheisten ist das Thema Gott wichtig. Er bemüht sich um eine Widerlegung religiöser Glaubensvorstellungen und will (zumeist) zeigen, dass ein Leben ohne Gott erfüllender und sinnvoller ist als ein religiöses Leben.

Konfessionslosigkeit und Atheismus

Nicht jeder, der aus einer der großen Kirchen oder Religionsgemeinschaften austritt, wird ein entschiedener Atheist. Viele haben lediglich Anstoß an unglücklichen Entwicklungen oder konkreten Missständen genommen und sich innerlich entfernt – sie können dessen ungeachtet in freundlicher Distanz bleiben oder das Kapitel (vorerst?) für sich abschließen. Andere sind nie mit Kirche oder Religion in Berührung gekommen und würden sich vermutlich als „religiös unmusikalisch“ bezeichnen. Schließlich gibt es auch die schwer zu erfassende Größe engagierter Atheisten. Wobei man unterscheiden muss zwischen Atheisten, die vergleichsweise genau wissen, wofür die Kirchen und Religionen stehen und die sich gerade deshalb entfernt haben, und Kirchenkritikern, die in erster Linie Anstoß an der herausgehobenen Stellung der großen Kirchen in Deutschland nehmen und eher die Organisationsformen bzw. die kirchlichen Sonderrechte („Privilegien“) kritisieren als die Glaubensinhalte.

Unstrittig ist jedoch, dass die Zahl der kirchendistanziert eingestellten Personen in den letzten Jahren deutlich steigt. Zumeist spielt bei solchen Haltungen der praktische Atheismus die größte Rolle. Hier wird nicht die Existenz Gottes mit philosophischen Argumenten bestritten, wohl aber seine Brauchbarkeit für den Alltag negiert. Für diesen Atheismus ist Gott nicht tot, sondern überflüssig.

Man könnte erwarten, dass die steigende Konfessionslosigkeit mit einer Zunahme atheistischen Engagements in Deutschland korrespondiere. So haben sich in den letzten 30 Jahren alle freidenkerischen, atheistischen und humanistischen Organisationen neu aufgestellt und ihre Arbeit intensiviert. Dass sie dennoch erstaunlich wenig von der hohen Konfessionslosigkeit profitieren, gehört zu den interessanten Phänomenen unserer Zeit. So haben alle kirchenkritischen und atheistischen Organisationen in Deutschland zusammen heute nicht mehr Mitglieder als vor 100 Jahren. Horst Groschopp, immerhin der beste Kenner der Szene, schreibt: „Insgesamt hat das ‚säkulare Spektrum‘ gegenwärtig ungefähr die gleiche Mitgliederstärke wie 1914: etwa 25-30.000 Personen“ (Groschopp 2016, 142).

Man kann fragen, ob das eine gute Nachricht für die Kirchen ist. Doch was hier auf den ersten Blick entlastend klingt, ist es nicht. Die organisatorische Schwäche der Freidenker und Kirchenkritiker bestätigt indirekt, wie bedeutungslos religiöse Themen in der heutigen Bundesrepublik geworden sind. Um es überspitzt zu formulieren: Kirche und Religion sind derart belanglos geworden, dass sich kaum noch jemand gegen sie engagieren möchte. Diese Beobachtung betätigt erneut, wie wirkmächtig die Konfessionslosigkeit als religiöse Indifferenz inzwischen ist.

Atheismus im Sinne einer öffentlich geäußerten, engagierten Ablehnung Gottes hat in Deutschland nur wenige Sympathisanten. Es gibt eine auffällige Zurückhaltung gegenüber der Selbstcharakterisierung als Atheist – wahrscheinlich auch, weil negative Konnotationen mitschwingen. Denn häufig wird vermutet, einem Atheisten sei nichts wichtig bzw. „nichts heilig“, und er hätte keine moralischen Werte. So wurde vor einigen Jahren beim Streit um den Religionsunterricht in Berlin von den Kirchen und der CDU polemisiert: „Werte brauchen Religion!“ Dieser Slogan ist nicht nur anmaßend, er verkennt sogar die eigentliche Problematik: Die Herausforderung der hohen Konfessionslosigkeit für die Kirchen und Religionsgemeinschaften besteht gerade darin, dass die Konfessionslosen sehr wohl ein an Werten orientiertes, gutes und sinnerfülltes Leben führen. Wenn die Kirchen mit den Konfessionslosen in Kontakt kommen wollen, wozu sie nach Matthäus 28 angehalten sind und was in vielen Reden postuliert wird, müssen sie die Rolle des (moralischen) Besserwissers aufgeben und sich den Wohlwollenden unter den Konfessionslosen auf Augenhöhe zuwenden.

Andreas Fincke, August 2021


Literatur

EKD (Hg., 2014): Engagement und Indifferenz. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover.

Groschopp, Horst (2006): Von den „Dissidenten“ zur „dritten Konfession“?, in: humanismus aktuell 18, 17 – 33.

Groschopp, Horst (2016): Pro Humanismus. Eine zeitgeschichtliche Kulturstudie. Mit einer Dokumentation, Aschaffenburg.

Heinrichs, Thomas (2017): Diskriminierungsrisiko Weltanschauung, Interviews, in: ders.: Religion und Weltanschauung im Recht, Aschaffenburg, 247 – 260.

Kuczynski, Rita (2013): Was glaubst Du eigentlich? Weltsicht ohne Religion, Berlin.

Pollack, Detlef / Rosta, Gergely (2016): Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Bonn.

Smith, Tom W. (2012): Beliefs about God across Time and Countries,      http://www.norc.org/PDFs/Beliefs_about_God_Report.pdf#page=1&zoom=auto,-13,798 (Abruf: 15.6.2021).

Tiefensee, Eberhard (2000): „Religiös unmusikalisch?“ Ostdeutsche Mentalität zwischen Agnostizismus und flottierender Religiosität, in: Wanke, Joachim (Hg.): Wiedervereinigte Seelsorge, Leipzig, 24 – 53.

Wohlrab-Sahr, Monika (2000): Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, in: Pastoraltheologie 90, 152 – 167.


Anmerkungen

1  Vgl. https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeiten-2019 (Abruf: 9.6.2021).

2  Vgl. ebd.

3  In diesem Kontext ist „humanistisch“ eine Chiffre für religionslos und kirchenfern. Es ist nicht Humanismus im Sinne klassischer Bildung gemeint.

4  Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169072/umfrage/glaube-an-gott-in-deutschland (Abruf: 9.6.2021).