Charismatische Bewegung

Darstellung

Der „pfingstliche“ Impuls, der am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Entstehung der pfingstkirchlichen Bewegungen geführt hatte, erfasste Anfang der sechziger Jahre die historischen Kirchen. Anders als die pfingstlerischen Bewegungen wollte dieser „zweite Ansatz“ zu keinen neuen Kirchenspaltungen führen, sondern das Leben der Kirchen von innen erneuern.

In deutschsprachigen Bereich entstanden Charismatische Erneuerungsgruppen in den evangelischen Landeskirchen (Geistliche Gemeindeerneuerung [GGE] in den evangelischen Landeskirchen) und im Bereich der römisch-katholischen Kirche (Charismatische Erneuerung in der katholischen Kirche), ebenso in den Freikirchen.

Neben der Ausbreitung charismatischer Frömmigkeit in den historischen Kirchen vollzog sie sich seit den 70er Jahren auch in „konfessionsunabhängigen“ Gemeinden und Missionswerken, die theologisch nicht selten eine Nähe zur Pfingstbewegung aufweisen. Zu diesem Bereich gehören verschiedene Zentren (Christliches Zentrum Frankfurt, Christliches Zentrum München, Christliches Zentrum Karlsruhe, Jesus Gemeinde Dresden ...), Gemeinden (Gemeinde auf dem Weg, Berlin; Biblische Glaubens Gemeinde, Stuttgart) und Werke bzw. Gruppierungen (Jugend mit einer Mission, Geschäftsleute des vollen Evangeliums – Christen im Beruf, Fürbitte für Deutschland etc.), die sich als „überkonfessionell“ verstehen.

Die zentralen Anliegen der Charismatischen Bewegung kommen gleichermaßen in den innerkirchlichen Gruppenbildungen wie in den konfessionsunabhängigen Gemeinden und Werken zum Ausdruck. Sie lauten: Anbetung, Lobpreis, Seelsorge, Evangelisation, Heilungsdienste, das Erfasst- und Erneuertwerden des ganzen Menschen wie auch der Gemeinde. Dabei wird eine auf den Heiligen Geist und die Charismen (vor allem Heilung, Prophetie, Zungenrede/Glossolalie) bezogene erfahrungsorientierte Frömmigkeit akzentuiert. Diakonische Dienste werden in enger Zuordnung zum Evangelisationsauftrag praktiziert. Die Sozialformen, in denen sich die Bewegung konkretisiert, sind u.a. Haus- und Gebetskreise, Glaubenskurse und Einführungsseminare, Anbetungs-, Heilungs- und Segnungsgottesdienste, Kongresse.

Die Charismatische Bewegung zielt auf der individuellen Ebene auf die Erneuerung des Einzelnen durch die Bitte um das Kommen des Heiligen Geistes mit seinen Gaben, auf der gemeinschaftlichen Ebene vor allem auf die Erneuerung des Gottesdienstes, der nach dem Vorbild von 1. Kor 14,26 eine neue Gestalt finden soll. Zentrum und Kristallisationspunkt sowohl der individuellen wie der gottesdienstlichen Erfahrung ist das Getauft- bzw. Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist. Hier konzentriert sich sowohl charismatisches wie auch pfingstlerisches Selbstverständnis. Während für viele Pfingstler bis heute gilt, dass das Zungenreden das anfängliche Zeichen der Geistestaufe ist, hat die charismatische Bewegung in vielen ihrer Ausprägungen diese Konzentration und Fixierung gelockert und vielfältigere Wege der Initiation geschaffen. Neben der Glossolalie dürfte im Kontext charismatischer Frömmigkeit heute das Ruhen im Geist (verbunden mit Umfallen – oft nach dem Segnungsgebet einer Person, der besondere Vollmacht zugeschrieben wird) das zentrale Initiationserlebnis sein, mit dem sich der Eintritt in die charismatische Erfahrungswelt vollzieht. Die angestrebte Geistestaufe bzw. Geisterfüllung ist häufig verbunden mit enthusiastischen und ekstatischen Erfahrungen (Umfallen, Lachen, Zittern). Sie setzt eine persönliche Glaubensentscheidung voraus und wird vor allem als Bevollmächtigung zum christlichen Zeugnis verstanden.

Im deutschsprachigen Kontext ist die Charismatische Bewegung vergleichsweise schwach ausgeprägt. Seit den 80er Jahren haben religiöse Pluralisierungsprozesse auch das Erscheinungsbild der Charismatischen Bewegung verändert. Nicht mehr die landeskirchliche bzw. freikirchliche Ausprägung, sondern freie charismatische Zentren und neue Gemeinden stehen im Vordergrund. Ein großer Teil der Charismatischen Bewegung geht den Weg zu neuen Gemeinde- und Kirchengründungen und damit den Weg der pfingstkirchlichen Bewegungen, die den innerkirchlichen Charismatikern schon seit langem vorhalten, nur eine reduzierte Form charismatischer Erneuerung zu praktizieren, weil sie in ihren Kirchenstrukturen bleiben. Auch inhaltlich hat sich der Ansatz charismatischer Frömmigkeit im Akzent verschoben: Die Herbeirufung des Geistes wird nicht allein auf die Charismen als Dienstgaben zur Auferbauung der Gemeinde bezogen, sondern auf besondere Geistmanifestationen und ekstatische Erfahrungen.

Einschätzung

Die vielfältigen Ausdrucksformen charismatischer Frömmigkeit nötigen zu differenzierter Beurteilung. In ihnen begegnen die vergessenen Themen der eigenen Glaubensorientierung. Zugleich sind sie ein ambivalentes Phänomen. Sie schaffen Verbindungen und Brücken zwischen Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen, verursachen aber auch Spaltungen. Sie sind eine Hilfe zum Glauben an Christus, können aber auch Flucht in eine vermeintlich heile Welt sein. Das christliche Zeugnis, das von ihr ausgeht, ist anzuerkennen und zu würdigen. Zugleich sind kritische Auseinandersetzungen nötig, wenn etwa die Wirksamkeit des Heiligen Geistes auf bestimmte spektakuläre Manifestationen des Geistes konzentriert und damit faktisch eingegrenzt wird, wenn die Vorläufigkeit und Gebrochenheit christlichen Lebens unterschätzt wird, wenn eine seelsorgerlicher Verarbeitung von bleibenden Krankheiten und Behinderungen verweigert wird, wenn ein dualistisch geprägtes Weltbild für den Frömmigkeitsvollzug beherrschend wird und sich mit problematischen Praktiken und Lehren im Bereich des Kampfes gegen Geister und Dämonen verbindet.

Reinhard Hempelmann, Oktober 2005


Literatur

Oskar Föller, Charismatische Bewegung, in: Panorama der neuen Religiosität, hg. von R. Hempelmann u.a., Gütersloh 22005, 480-499

Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft – Situation – Ökumenische Chancen, Göttingen 1997

Peter Zimmerling, Die charismatischen Bewegungen, Göttingen 2001