Auroville

Vor fünfzig Jahren, am 28. Februar 1968, wurde nahe Pondicherry im Südosten Indiens (seit 2006 Puducherry) mit großen Feierlichkeiten eine neue Planstadt namens „Auroville“ eröffnet. An der Einweihungszeremonie der in Form eines galaktischen Spiralnebels angelegten Wüstenstadt nahmen neben dem indischen Präsidenten Vertreter aus 23 indischen Staaten und 124 Nationen teil. Visionär – die Stadt ist nach l’aurore (Morgenröte) benannt, nicht nach Aurobindo – wurde hier der Geburtsort einer neuen Menschheit ausgerufen, die als Lebensgemeinschaft höhere Stufen des menschlichen Bewusstseins anstrebt. Sie will den Evolutionsprozess der Menschheit fördern und neue Antworten für eine global ausgerichtete Gesellschaft erarbeiten. Im Zusammenleben soll der Aufstieg in eine höhere Wesensform verwirklicht werden. Heute gilt Auroville als eine der größten spirituellen Gemeinschaften der Gegenwart. Sie ist ein von der UNESCO bestätigtes multikulturelles Experiment mit aktuell 2800 Mitgliedern aus 54 Nationen.

Der Integrale Yoga nach Aurobindo

Der Mentor der Gemeinschaft ist der Philosoph und Literaturprofessor Aurobindo Ghose (1872 – 1950) aus Kalkutta. Sein Vater, ein in England ausgebildeter atheistischer Arzt, schickte ihn als Siebenjährigen zusammen mit seinen beiden älteren Brüdern auf ein Internat in England, um seine Söhne vom Einfluss der verachteten indischen Kultur fernzuhalten. In der insgesamt 14 Jahre dauernden Schul- und Universitätszeit machte sich der begabte junge Mann mit dem westlichen Denken vertraut. Einige Jahre war er ein führender Aktivist der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Während einer einjährigen Zeit in Untersuchungshaft in einer Einzelzelle las er in hinduistischen Quellen und übte intensiv Yoga. Nach seiner Freilassung gab er seine politischen Tätigkeiten zugunsten seiner spirituellen Lehrtätigkeit auf. Heute gilt er als der wichtigste neohinduistische Denker des 20. Jahrhunderts.

Er bezeichnete seinen Yoga-Weg als „integral“, weil darin klassische Yoga-Übungen miteinander verknüpft worden sind. Auf diesem Weg der Bewusstseinsschulung soll die Welt nicht abgelehnt oder überwunden, sondern schrittweise mit dem Göttlichen verbunden werden – durch dessen wachsende Offenbarung in allen Bereichen des menschlichen Lebens. Alle Ebenen des Menschen, die physisch-materielle, die vitale, die mentale bis hin zur spuramentalen Ebene, sollen vom Göttlichen durchdrungen werden. Traditionelle Methoden der Yoga-Praxis können nach Aurobindo vorbereitend hilfreich sein, letztlich könne aber nur das Göttliche selbst die Umwandlung bewirken. In einer eigenwilligen Verbindung von der im Westen populären Vorstellung der Evolution und dem hinduistischen Reinkarnationsdenken entwickelte Aurobindo ein visionäres Modell der Bewusstseinsentwicklung.

Das Ziel beim Integralen Yoga besteht in der inneren Weiterentwicklung und Öffnung des mentalen Bewusstseins hin zu einem spirituellen, „supramentalen Bewusstsein“. Durch beständiges Üben werde die menschliche Natur umgewandelt und vergöttlicht. Dazu werden keine herkömmlichen Körperhaltungen oder Yoga-Übungen verwendet, sondern es geht um einen in das Alltagsleben integrierten, immerwährenden Vorgang der inneren Prüfung. Der Integrale Yoga setzt nicht beim Körperlichen, sondern beim Mentalen an. Stufenweise entfaltet sich nach Aurobindo eine immer höhere Bewusstseinskraft, gering ausgeprägt in der Materie, stärker im vitalen Leben, noch prägnanter im menschlichen Bewusstsein (dem „Mentalen“) bis hin zum Supramentalen.

Aurobindos Philosophie des Integralen Yogas basiert nach Rageth (2015) auf vier Grundannahmen: Es gibt erstens eine weibliche, göttliche Kraft, die Aurobindo shakti oder „die Mutter“ nannte. Mira Alfassa wurde von Aurobindo als die Personifizierung dieser divine mother angesehen (s. u.). Zweitens unterliegen alle Wesen kontinuierlicher Evolution und Transformation des Bewusstseins. Dieser Transformationsprozess gipfelt in der Herabkunft eines sogenannten supramentalen, göttlichen Bewusstseins. Das evolutionäre Fortschreiten kann durch das Praktizieren des Integralen Yogas beschleunigt werden. Wenn übendes Meditieren von unten auf die „gnädige“ Herabkunft von oben trifft, entsteht der neue Mensch mit göttlichem Bewusstsein.

Mit dem Konzept eines supramentalen Bewusstseins hat Aurobindo das traditionelle indische Kreislaufdenken aufgebrochen. Was für den traditionellen Hindu der individuelle Yoga-Aufstieg ist – Aurobindo verspottet ihn als „Flaschenzug ins Nirwana“ –, wird bei ihm zur Offenbarung und Herabkunft des höheren, göttlichen Bewusstseins. In beiden Fällen ist die Verwandlung von Materie in Geist das letzte Ziel. Nach Aurobindos Überzeugung besteht die Besonderheit des Integralen Yogas darin, Geist und Leben auf allen Stufen zusammenzuführen. Das Göttliche soll auf allen Stufen des Lebens verwirklicht werden. Wie der Geist schon in der Materie angelegt ist, so ist nach Aurobindo das Göttliche bereits im Menschen verborgen. Dem Yoga-Meister Aurobindo wächst damit eine neue Funktion zu. Indem er heute schon das Bewusstsein von morgen verwirklicht, ist er die Vorwegnahme und der Vorreiter der Evolution. Meditation wird zur Evolutionsförderung.

In Pondicherry sammelte Aurobindo Schüler um sich, um die Idee eines konfliktbefreiten Menschen und einer einheitlich ausgerichteten Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Ab 1926 zog er sich dann aus der Öffentlichkeit zurück und übertrug die Gesamtleitung des Aschrams seiner Schülerin Mira Alfassa. Im November 1926 erlebte er in einer intensiven Meditation nach eigenen Angaben „die Herabkunft Krishnas in das Physische“ (Klostermann, 47), eine wichtige Vorstufe für die Herabkunft des supramentalen Bewusstseins.

Die Gründerin von Auroville

Aurobindo sah in Mira Alfassa die göttliche Mutter und übertrug ihr die Leitung bei der Vorbereitung der göttlichen Transformation. Während sich Aurobindo 1926 in sein Zimmer im Aschram dauerhaft zurückzog (nur Alfassa hatte ständig Zugang zu ihm), kümmerte sich die „Mutter“ um die Organisation des Aschrams. Nach dem Tod Aurobindos verfolgte sie die Idee der Errichtung einer universellen Stadt, die keiner Regierung und keinem Land unterstehen sollte.

Mira Alfassa (1878 – 1973), Tochter eines ägyptischen Vaters und einer türkischen Mutter, wuchs als Jüdin in Frankreich auf. Aus ihrer Jugendzeit wird von telepathischen Begabungen, mystischen Erfahrungen und okkulten Schulungen in Paris und in Nordafrika berichtet. Um die Jahrhundertwende verkehrte sie als Malerin und Musikerin in der Pariser Künstlerszene. Sie war zweimal verheiratet und hatte einen Sohn. 1914 reiste sie nach Indien, wo sie in Pondicherry Aurobindo begegnete. Nach einer unruhigen und wechselvollen ersten Lebenshälfte verließ sie ihre Wahlheimat Indien nicht mehr, nachdem sie 1920 dem Aschram beigetreten war. Sie wurde schnell zur engsten Schülerin Aurobindos. Der Meister betonte, dass es allein die „Mutter“ sei, die seinen Lehren Leben einhauche.

Die Stadt

In Auroville sollten Menschen aus aller Welt an der Umsetzung eines besseren Menschseins arbeiten können. Diese Grundausrichtung drückte Alfassa in der Charta bei der Gründung von Auroville im Jahr 1968 so aus: 1. Auroville gehört niemandem im Besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit. Aber um in Auroville zu leben, muss man bereit sein, dem Göttlichen Bewusstsein zu dienen. 2. Auroville wird der Ort nie endender Erziehung sein, eines immerwährenden Fortschritts und einer Jugend, die niemals altert. 3. Auroville möchte die Brücke sein zwischen Vergangenheit und Zukunft. Indem es sich alle äußeren und inneren Entdeckungen zunutze macht, wird Auroville künftigen Realisationen kühn entgegeneilen. 4. Auroville wird der Ort materieller und spiritueller Forschung sein, für eine lebendige Verkörperung einer wahren menschlichen Einheit. Allerdings zeigte sich, dass diese hohen Ideale nur mühsam umzusetzen waren.

Im Zentrum der Stadt, die großzügig für 50000 Einwohner konzipiert wurde, befindet sich ein von Alfassa entworfener Tempel, das Matrimandir („Tempel der Mutter“). Heute ist dieses Gebäude, das nach knapp vierzigjähriger Arbeit erst vor wenigen Jahren fertiggestellt wurde, ein Touristenmagnet. Von seiner Atmosphäre und Schönheit sind auch säkulare Menschen beeindruckt, auch wenn manche Spötter es als Esoterikversion von Disney World abwerten. Über 100 Kilo Gold wurden für die Außenhaut der 29 Meter hohen Kuppel verarbeitet, die einer Lilie nachempfunden wurde. Im Inneren erwarten den Besucher spektakuläre Lichtspiele.

Auroville stellt sich als ein gesellschaftliches Experiment vor, das die Transformation des Bewusstseins und einer neuen, konfliktbefreiten Gemeinschaft beschleunigen soll. Auroville will die sozialen Bedingungen dafür schaffen, unter denen negative menschliche Haltungen wie Neid, Gier oder Eifersucht nicht mehr nötig sind.

Pläne zur Errichtung einer „Stadt des Zukunftsmenschen“ waren schon lange geschmiedet worden. Eigene Ideen über die Schaffung einer „idealen Gemeinschaft“ hatte Alfassa schon 1912, zwei Jahre vor ihrer Begegnung mit Aurobindo, formuliert. Nach dem Tod des Meisters entstanden weltweit kleine Unterstützergruppen. 1963 wurde von dem Pfarrer Heinz Kappes ein deutscher Zweig der Sri-Aurobindo-Gesellschaft gegründet. Erfolgreich wurden weltweit praktische Arbeitseinsätze zur Unterstützung der Aufbauarbeiten in Auroville organisiert. Heimgekehrte Aurovillianer schlossen sich zu lokalen Freundeskreisen zusammen. Es gelang Alfassa, die Arbeiten zu koordinieren und zielstrebig auf den Weg zu bringen.

Die Umsetzungsprozesse verliefen jedoch weitaus zäher und langsamer als erhofft. Nach dem Tod der „Mutter“ 1973 brachen sofort heftige Konflikte zwischen Teilen des Aschrams und den Bewohnern von Auroville aus. Die kaufmännische Seite des Aschrams beanspruchte auch die organisatorische Leitung der Aufbauarbeiten in Auroville. Es kam schließlich zu einem Rechtsstreit, der zu Ungunsten des Aschrams entschieden wurde. Auch in den folgenden Jahrzehnten flammten immer wieder Konflikte zwischen verschiedenen Interessensgruppen auf. Eine klassische Frontstellung verläuft zwischen älteren, stärker intellektuell ausgerichteten Anhängern und den jüngeren, denen es um konkretes Experimentieren mit neuen Lebens- und Arbeitsformen geht. Heute hat sich ein tolerierendes Nebeneinander zwischen dem Aschram in Pondicherry und Auroville eingestellt.

Immer wieder muss sich die Gemeinschaft auch gegen schlechte Presse zur Wehr setzen. 2008 deckte eine BBC-Reporterin auf, dass ein Pädophiler zu den Mitgliedern zählte. Übergriffe auf Kinder konnten nie nachgewiesen werden, aber ein gewisser sektiererischer Flair haftet der Gemeinschaft dennoch an. Gefördert wird dies durch die Verehrung des Meisters und der „Mutter“ mit omnipräsenten Porträts.

Allerdings wirkt sich der unaufhaltsame Trend zur Individualisierung auch auf die Aurovillianer aus. Weil die Stadt nach der Charta der ganzen Menschheit gehört, ist eine persönliche innere Zuwendung zu Aurobindo und seinem Integralen Yoga keine Voraussetzung für die Aufnahme in Auroville. Es genügt der Wunsch, progressiv zu leben, bereit zu sein, sich von einem höheren Bewusstsein – wie immer man dieses persönlich versteht – leiten zu lassen, und grundsätzlich das Ideal eines kollektiven Zusammenlebens in Einheit zu unterstützen. Deshalb ist es auch kein Wunder, wenn eine aktuelle religionswissenschaftliche Pilotstudie – allerdings auf der schmalen Datenbasis von sieben Interviews – feststellt, dass die Bewohner Aurovilles der zweiten Genration hauptsächlich von den lebenspraktischen Rahmenbedingungen angezogen werden (Rageth 2015).

Ein langjähriges Mitglied der Gemeinschaft fasste beim 40-jähigen Jubiläum zusammen, dass die Gemeinschaft in den drei ersten Jahrzehnten praktisch ausschließlich mit ihrer eigenen schwierigen Anfangsentwicklung beschäftigt gewesen sei. Mittlerweile gingen aber in den Bereichen Stadtökologie und alternative Bauweisen zunehmend Impulse von Auroville in alle Welt aus. Zu den größten Erfolgen Aurovilles gehört die Aufforstung eines ursprünglich völlig ausgedörrten Gebiets. Über vier Millionen Bäume wurden in den einst verkarsteten Boden gepflanzt.

Den knapp 3000 Gemeinschaftsmitgliedern ist heute klar, dass sie die angestrebte Größe von 50000 Mitgliedern wohl kaum erreichen werden. Die Visionen von einst scheinen pragmatischem Unternehmertum gewichen zu sein. Heute stellt sich Auroville als ein Zentrum des globalen New-Age-Tourismus dar. Ein Drittel der Bewohner sind Inder, ein Drittel Franzosen und Deutsche, das letzte Drittel stammt hauptsächlich aus Südamerika und Asien.

Seit den anarchistischen Anfangstagen in der Wüste hat sich viel verändert. Es wird berücksichtigt, dass gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse mühsam und langwierig sind. Seit 1988 hat auch eine indische Regierungskommission mitzureden, nachdem Auroville den rechtlichen Rahmen einer gemeinnützigen Stiftung erhielt. Eigene Organisationen der Verwaltung, eine Bank und eine Öffentlichkeitsabteilung tragen zur Professionalisierung der Sozialstruktur bei. Überall schießen architektonisch bemerkenswerte Bauwerke aus dem Boden. Bemerkenswert sind die zahllosen kreativen Projekte. Von solar betriebenen Kochtöpfen über Elektrofahrräder bis hin zu einem eigenen Radiosender tüfteln die Bewohner an nachhaltigen Lösungen für ein sozial- und naturbewusstes Gemeinwesen. Kreativität und Unternehmertum ist angesagt – „Leben auf eigene Gefahr“ (Eisenschenk 2016). Vieles wird ausprobiert und bei Bedarf wieder geändert. So gab es Zeiten ohne Geld, dann wieder mit Geld, momentan wird nach einem Couponsystem bezahlt.

Merkmale geschlossener Gruppen sind kaum zu finden. Vor allem die Kinder, die in Auroville aufgewachsen sind, liefern dafür den Beleg. Sie werden ermuntert, im Ausland zu studieren und neue Erfahrungen zu sammeln. In Gefolge der 1968er Jahre ist die Verwirklichung der eigenen Lebensphilosophie mit möglichst wenig Regeln und Strukturen das höchste Ziel.

Einschätzung

Auroville ist in mancher Hinsicht ein Sonderfall. Im Gegensatz zu anderen hinduistischen Gurus reisten Aurobindo und die „Mutter“ nicht in den Westen, um neue Anhänger zu gewinnen. Die Botschaft Aurobindos ist ihrem Wesen nach nur für einen kleinen Kreis bestimmt und mit Missionierung nicht vereinbar. Dennoch übt der Ort mit seinem Tempel eine besondere Anziehungskraft gerade auf westliche Sinnsucher aus. Viele der heutigen Bewohner Aurovilles scheinen aber kaum an den spirituellen Inhalten der Gemeinschaft interessiert zu sein. Vielmehr scheinen Aussteiger vom westlichen Leistungsdenken hier Gesinnungsgenossen und Möglichkeiten alternativer Lebensformen zu finden (Rageth 2015).

Im Gegensatz zu anderen spirituellen Gemeinschaftsprojekten hat Auroville den Tod ihrer Gründerfiguren lange überlebt. In den letzten 15 Jahren hat die Mitgliederzahl sogar um ein Drittel zugenommen. Insofern ist die Erwartung Reinhart Hummels, dass „Auroville die teuerste spirituelle Investitionsruine aller Zeiten wird“ (Hummel 1984, 66), nicht eingetroffen. Die sozialutopische Gemeinschaft hat einige ihrer Ideale aufgegeben und überlebt in säkularisierter Form.

Michael Utsch, Februar 2018


Literatur

Herbert Eisenschenk, Experiment Auroville. Leben auf eigene Gefahr, München 2016

Wilfried Huchzermeyer, Sri Aurobindo. Leben und Werk, Karlsruhe 2010

Reinhart Hummel, Gurus in Ost und West. Hintergründe – Erfahrungen – Kriterien, Stuttgart 1984

Michel Klostermann, Auroville: Stadt des Zukunftsmenschen, Frankfurt a. M. 1976

Matthias Pöhlmann / Christine Jahn (Hg.), Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015, 796-797

Nina Rageth, Gemeinschaft in der zweiten Generation. Religiöses Deutungssystem und geteilte Lebenspraxis in Auroville, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 23 (2015), 258-284