Psychologie / Psychotherapie

Zum Status wissenschaftlicher Psychologie

Immer noch wird die Psychologie als die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten von einigen beargwöhnt – exemplarisch seien zwei typische Vorurteile genannt: Bestätigen ihre Forschungsergebnisse nicht nur das, was der gesunde Menschenverstand sowieso schon weiß? Und lassen sich angesichts der Vielfalt menschlicher Entwicklungsverläufe überhaupt allgemeingültige Aussagen machen?

Der Wissenschaftsrat, das wichtigste wissenschaftspolitische Beratergremium hierzulande, richtete 2016 eine Arbeitsgruppe ein, die sich mit den Perspektiven der Psychologie in Deutschland beschäftigen sollte. Anlass war die Feststellung, dass die Psychologie heute zu den beliebtesten Studienfächern zählt, jedoch vor großen inhaltlichen und strukturellen Herausforderungen stehe. Ende Januar 2018 hat nun der Wissenschaftsrat einen Abschlussbericht vorgelegt, in dem eine detaillierte Standortanalyse der Psychologie vorgenommen wird und konkrete Empfehlungen herausgearbeitet werden (www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/6825-18.pdf). Besonders hervorgehoben werden in der Stellungnahme der zunehmende gesellschaftliche Bedarf an psychologischen Erkenntnissen, die nötige Ausdifferenzierung des Studienangebots auch außerhalb der Universitäten und die bevorstehende Reform des Psychotherapeutengesetzes.

Bemerkenswert ist der Appell zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Hierzu stellt der Wissenschaftsrat fest, dass die Psychologie noch aktiver als bisher deutlich machen sollte, dass ihre Erkenntnisse für das Verständnis und die Lösung gesellschaftlicher Probleme essenziell sind. Der Wissenschaftsrat ermuntert die Psychologie daher „dezidiert zu einer stärkeren Öffnung gegenüber der Gesellschaft und zum aktiven Eintreten in die dafür erforderlichen Kommunikationsprozesse“ (82). Dazu gehören etwa Beiträge zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen wie der Migration oder des digitalen Wandels. Nötig sei dafür ein „Austausch mit Partnern aus Politik, Zivilgesellschaft und Kultur, um ein fundiertes Verständnis natürlicher und gesellschaftlicher Veränderungen zu erarbeiten“ (ebd.). Interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie der Transfer psychologischen Grundlagenwissens in praktisches Handeln sollte deshalb nach Meinung des Wissenschaftsrats eine größere Rolle spielen als bisher.

Diese Empfehlung kann man als eine Reaktion auf die beängstigende Zunahme von Polarisierung, Feindbildern und fundamentalistischen Gesinnungen im politischen und religiösen Gewand lesen. Heute ist eine interkulturelle und interreligiöse Verständigung auf Augenhöhe nötiger denn je. Hier werden dringend religionspsychologische Verständigungshilfen gebraucht. Auch wenn der Wissenschaftsrat von dieser Teildisziplin der Psychologie nicht ausdrücklich spricht: Die Religionspsychologie erleichtert die Reflexion der eigenen Weltanschauung und das Verstehen fremder Glaubenshaltungen. Angesichts der fundamentalistischen Versuchung, Fremdes abwehren und Unverfügbares kontrollieren zu wollen, kann sie zu mehr Toleranz und zum Aushalten von Zweifeln und Widersprüchen verhelfen.

Gerade Fachleute für seelische Gesundheit sind geeignet, Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Krisen zu machen und ihr Expertenwissen dazu einzusetzen, besser zu kommunizieren sowie Konflikte präzise wahrzunehmen und zu bewältigen. Der ärztliche Leiter eines großen psychotherapeutischen Weiterbildungsinstituts, ein praktizierender Baha’i, hat kürzlich in einem Zeitschriftenbeitrag einen engagierten Appell an die eigene Zunft gerichtet (Hamid Peseschkian: Transkulturelle Globalisierung, in: Nervenheilkunde 26/2017, 608-615). Besonders nötig sei für Psychotherapeutinnen und -therapeuten die Aufklärung über komplexe Sachverhalte wie Globalisierung, Nationalismus und Integration. Psychologische Mechanismen wie Manipulation, die Auswirkungen von verschiedenen Werthaltungen, kulturellen Eigenarten und Menschenbildern sollten verständlich vermittelt werden, um Vorurteile abzubauen. Die Förderung einer transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie und die Stärkung transkultureller Kompetenz seien dafür unverzichtbar. Dann könnte aus der derzeitigen gesellschaftlichen Umbruchsituation die Chance einer friedlichen transkulturellen Globalisierung erwachsen.

Ausdrücklich weist Peseschkian auf die Bedeutung der Religion als eine große Kraft menschlichen Lebens hin (612). Patienten brächten zunehmend Interesse an spirituellen Themen in der Behandlung mit, und viele Migranten forderten die Integration religiöser Themen ein. In einer Zeit, in der Menschen „vom religiösen Fanatismus und von Institutionen als auch vom Materialismus häufig enttäuscht“ seien (ebd.), könne die Psychologie zu einem besseren Verständnis beitragen, welche Rolle der Glaube in einer globalen Gesellschaft haben kann und vielleicht auch muss.


Michael Utsch