Wittenberger „Judensau“ darf hängen bleiben - vorerst

An der Wittenberger Stadtkirche befindet sich an der Außenwand der Kirchenmauer ein Relief, das eine sogenannte Judensau darstellt, die Juden sowie ihre Lehr- und Auslegungstraditionen diffamiert und Ausdruck eines frühen Judenhasses ist. Sie ist eine von noch knapp 30 verbliebenen Judensäuen in Deutschland. Dem Wittenberger mittelalterlichen Relief aus dem 13./14. Jahrhundert wurde im Jahr 1570 die Inschrift „Schem Ha Mphoras“ hinzugefügt. Sie nimmt Bezug auf den in der jüdischen Tradition ausgelegten Gottesnamen und erinnert zugleich an die zutiefst antijüdische, in ihrer Zeit verhafteten Polemik Martin Luthers „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ (1543). Damit wurde der bildsprachlichen Verhöhnung des Judentums eine textsprachliche hinzugefügt. Bereits in den 1980er Jahren gab es eine intensive Debatte darüber, wie mit diesem schwierigen historischen Erbe umzugehen sei. Im Ergebnis wurde in Abstimmung mit dem Zentralrat der Juden eine Bodenplatte vor der Plastik eingelassen, das auf die Folgen von Judenhass und Antisemitismus mit Blick auf den Holocaust verweist.

Am 4. Februar 2020 befand das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg, dass das mittelalterliche Steinrelief weiterhin Bestandteil der Kirche sein darf. In seiner jetzigen Einbettung in ein Mahnmal, so das OLG, stelle es keine Beleidigung in einem juristischen Sinne mehr dar. Der Kläger, Michael Dietrich Düllmann, der früher Theologie studierte und später zum Judentum konvertierte, sieht allerdings genau dies darin: eine Beleidigung seines jüdischen Glaubens und einen Verstoß gegen seine Persönlichkeitsrechte. Der Bonner ist der Meinung, die Schmähplastik an der Wirkungsstätte Luthers und im Kernland der Reformation gehöre in ein Museum, symbolisiere sie doch den immer noch vorhandenen alltäglichen Antisemitismus in der Kirche und der Gesellschaft und befördere diesen.1 Auch die Beklagte, die Evangelische Stadtkirchengemeinde Wittenberg, problematisiert die Plastik, bevorzugt jedoch einen öffentlichen Diskurs und die gesellschaftliche Auseinandersetzung am Originalplatz. Dafür setzt sie sich im Rechtsstreit ein. Die Kirchengemeinde distanziert sich ausdrücklich von der Bildaussage der „Judensau“. Das erwähnte Mahnmal, das dem Relief 1988 hinzugefügt wurde, soll – wie der Stadtkirchenpfarrer Johannes Block betont – zukünftig weiterentwickelt und so die Erinnerungskultur gestärkt werden.2 Das Angebot, daran mitzuwirken, lehnte der Kläger ab. Allerdings steht Block dazu im Gespräch mit dem Zentralrat der Juden. Zudem wird in Kooperation mit der Stiftung Leucorea (Universität Halle-Wittenberg) an einem Projekt gearbeitet, das sich mit Gedenkkultur und der Geschichte der Schmähplastik auseinandersetzt.

Zahlreiche Historiker vertreten die These, dass Luthers Antijudaismus maßgeblich zur Ausbildung des Antisemitismus in Deutschland beitrug. Im derzeit zu beobachtenden Streit wird daher nicht zuletzt eine Verbringung des Reliefs in das Lutherhaus in Wittenberg gefordert. Inwieweit es sich hier um eine Engführung der eigentlichen Geschichte der Plastik und ein Abschneiden der öffentlichen Auseinandersetzung handeln würde, bleibt weiter zu diskutieren. Ebenso wie die Frage, ob in der Konsequenz alle historischen antisemitischen Symbole aus dem öffentlichen Raum entfernt oder besser vor Ort historisiert und kritisiert werden sollten. Hierin zeigt sich die Gesellschaft gespalten. So trat beispielsweise der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung Felix Klein für eine Abnahme der Plastik von der denkmalgeschützten Fassade der Wittenberger Stadtkirche ein.3 Zudem sind, wie auf der religionswissenschaftlichen Mailingliste Yggdrasill, Stimmen zu hören, die die Judensau mit anderen symbolischen Manifestationen von Diskriminierung, Rassismus und menschlicher Unterdrückung vergleichen, bei denen – wie bei den Statuen von Robert E. Lee, General des konföderierten Heeres im Amerikanischen Bürgerkrieg, in den amerikanischen Südstaaten – auch verlangt wird, dass sie entfernt werden, weil sie als Zeichen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit noch immer Wirkmacht entfalteten. Als Argument wird hier angeführt, dass im Umgang mit Symbolen mit zweierlei Maß gemessen werde.

Demgegenüber akzeptiert der Präsident des Zentralrats der Juden Josef Schuster das juristische Urteil und sprach sich für eine stärkere historische Kontextualisierung und kritische Auseinandersetzung am konkreten Ort aus. Die letztgenannte Position vertreten beispielsweise u. a. renommierte Historiker wie der Leibniz-Preisträger Thomas Kaufmann4 oder der deutsch-jüdische Historiker Michael Wolffsohn5. Wolffsohn formulierte es in einem Interview mit dem Deutschlandfunk wie folgt: „Was geschehen ist, ist geschehen, kann nicht ungeschehen gemacht werden, und man muss sich damit inhaltlich auseinandersetzen. Insofern wäre es völlig unaufrichtig, diese ‚Judensau‘ zu beseitigen.“ Darin zeigt, sich die grundlegende Position, dass Geschichte niemals abgeschlossen ist und sie, wie auch ihre Bewertung, sich in einem fortwährenden Prozess befindet. Eine Generation kann nicht für die Verfehlungen ihrer Vorgänger haftbar gemacht werden, aber sie kann sich zur Gegenwart positionieren. Jede Generation wählt dann ihren eigenen Zugang und historisiert auf ihre spezifische Weise. Pluralismus findet sich demnach nicht allein innerhalb einer Gesellschaft, sondern auch über Epochen hinweg. Eine Musealisierung würde folglich auch zu einer Musealisierung des Diskurses führen.

Obgleich die Standpunkte verschieden sind, vertreten sie doch beide die Einsicht, dass die wissenschaftliche und gesellschaftliche Beschäftigung mit Antisemitismus nicht abgeschlossen ist und auch nicht sein darf, sondern weiterhin eine kritische Aufarbeitung und ein vehementes Nein gegenüber modernem Antisemitismus zu formulieren ist.

Der 9. Zivilsenat des OLG Naumburg ließ eine Revision vor dem Bundesgerichtshof zu, womit das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Bereits zuvor hatte Düllmann angekündigt, den juristischen Weg fortzusetzen, notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Angesichts des Gesagten ist allerdings deutlich zu bezweifeln, ob es die Aufgabe von Gerichten sein kann und sein soll, über den verantwortungsvollen Umgang mit höchst problematischem kulturellem Erbe zu entscheiden. Dies kann nur in einem gesamtgesellschaftlichen und fortwährenden Dialog erfolgen und nicht letztlich entschieden werden.


Jeannine Kunert, 12.03.2020
 

Anmerkungen

  1. Position des Antisemitismusbeauftragen der EKD, Christian Staffa, zu Antisemitismus in der Kirche: „Judenhass ist Unglaube“, in: Jüdische Allgemeine vom 25.2.2020, www.juedische-allgemeine.de/politik/judenhass-ist-unglaube-2 ; Evangelische Akademien in Deutschland (Hg.): „Antisemitismus und Protestantismus – Impulse zur Selbstreflexion“, Berlin 2019.
  2. Vgl. „Das Judentum auf so drastische Weise anzugreifen, ist eklig“, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.2.2020, www.sz.de/1.4778274  (Abruf der Internetseiten: 9.3.2020).
  3. Vgl. z. B. „Kontrolle der Kirche hat versagt“, in: pro – Christliches Medienmagazin vom 11.6.2018, www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/kirche/2018/06/11/kontrolle-der-kirche-hat-versagt .
  4. Vgl. „Mit den Spannungen leben“, „Tag für Tag“ vom 20.2.2020, www.deutschlandfunk.de/umgang-mit-judensau-darstellungen-mit-den-spannungen-leben.886.de.html?dram:article_id=470639 .
  5. Vgl. „Eine perverse Sauerei‘“, „Tag für Tag“ vom 5.2.2020, www.deutschlandfunk.de/michael-wolffsohn-ueber-die-wittenberger-judensau-eine.886.de.html?dram:article_id=469556 .