Jehovas Zeugen

Wirksames Führungsinstrument: Bezirkskongresse der Zeugen Jehovas

Auch im Sommer 2008 fanden an verschiedenen Wochenenden zwischen Juni und August die Bezirkskongresse der Zeugen Jehovas statt. Wie in den letzten Jahren wurden neben den einschlägigen Großveranstaltungen in Hamburg, Berlin, Leipzig, Braunschweig, Dortmund, Stuttgart, Nürnberg und München mit jeweils zehntausenden Teilnehmern auch zahlreiche fremdsprachige Kongresse in Deutschland durchgeführt. Außer in Deutsch wurde das weltweit einheitliche Programm an unterschiedlichen Orten in ganz Deutschland auch in der Gebärdensprache sowie in Chinesisch, Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Kroatisch/Serbisch, Persisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Tamil und Türkisch dargeboten. Besonders in den Königreichssälen der Großstädte werden mittlerweile regelmäßig fremdsprachige Gottesdienste der Zeugen Jehovas angeboten, deren Teilnehmerzahlen offenbar wachsen. Gerade bei Migranten scheint das Angebot streng verbindlicher Gemeinschaft und klarer Führung auf fruchtbaren Boden zu fallen.

In Deutschland wurden die dreitägigen Kongresse nach Veranstalterangaben von insgesamt etwa 200 000 Teilnehmern besucht. Die Teilnahme an dem jährlichen Höhepunkt dieser Glaubensgemeinschaft dürfte eine willkommene Abwechselung für die Mitglieder sein – angesichts der berechenbaren Inhalte von Bibelstunden, Gottesdiensten und Zeugendiensten. Während sich die Gläubigen im letzten Jahr zum Thema „Folgt dem Christus nach!“ unterweisen ließen, lautete das Thema 2008: „Geleitet von Gottes Geist!“

Schon im Einführungsvortrag im Berliner Velodrom wird unmissverständlich klargestellt, dass der Geist Gottes keine eigenständige Person sei, sondern der Wirkmacht von Gott Jehova entspreche. Damit wird von Anfang an dem christlichen Glaubensbekenntnis widersprochen und das eigene Glaubensprofil gestärkt. Auffällig ist die Disziplin, mit der sich die Zuhörer drei Tage lang viele Facetten des Themas beleuchtet lassen. Der Kongress beginnt täglich pünktlich um 9.20 Uhr mit eingespielter Geigenmusik, die eigens für diesen Kongress komponiert worden sein soll und deren amerikanischer Ursprung deutlich hörbar ist – die schluchzenden Geigen erinnern an Filmmusik aus den fünfziger Jahren. Erstaunlich viele junge Familien befinden sich unter den Zuhörern. Die Kleinen sind dabei zu bedauern, sind doch für die kommenden drei Tage Ruhe und Disziplin angesagt, weil die Eltern den etwa 30 Vorträgen lauschen wollen, die im Laufe des Kongresses vorgetragen werden. Ein wenig Abwechslung bietet der gemeinsame „Lobpreis“: drei Lieder im Verlauf des Vormittags, drei Lieder nachmittags. Das Singen dient auch der Gesundheit: „Bitte alle aufstehen! Das ist wichtig für den Kreislauf. Und denkt daran, genug zu trinken!“ Es wird wieder Streichmusik eingespielt, die Teilnehmer schlagen ihre Liederbücher auf und stimmen in die getragene Melodie ein. In der Mittagspause verteilen sich die Teilnehmer in den geräumigen Vorhallen und verzehren ihren in der Regel selbst mitgebrachten Imbiss. Die Konzentration lässt in den Nachmittagsstunden deutlich nach, und Erleichterung ist bei so manchem spürbar, wenn das Tagespensum an Belehrung um 16.50 Uhr endet.

Eine willkommene Abwechslung zu den Vorträgen boten neben der Aufführung einer theatralischen Schauspielszene die Erfahrungsberichte, die ab und zu in das Programm eingestreut wurden. In Berlin gaben Teilnehmer freimütig ihre persönlichen Erlebnisse weiter, wie sie die Führung des Geistes Gottes erlebt haben. Die in Interviewform dargebrachten Beiträge klangen spontan und lebendig, auch wenn davon auszugehen ist, dass alles gut einstudiert war (und manche verstohlen auf ihren Merkzettel schauten). In allen Beiträgen wurde auf die unterstützende Hilfe der Brüder hingewiesen. Zum Teil gab man auch persönliche Verfehlungen zu und machte Mut, noch intensiver und entschlossener dem Willen Jehovas zu folgen – „sich von Gottes Geist leiten lassen wie ein ehrenvoller Sklave“. Manche berichteten euphorisch davon, wie sich ihr Leben zum Positiven gewendet habe, seitdem sie in den Vollzeitdienst gegangen seien. Die persönliche Berichtform ist ein geschicktes Mittel, um wichtige Inhalte wie die Gewinnung neuer Mitarbeiter zu transportieren.

Die beiden Höhepunkte der Bezirkskongresse bilden die Massentaufen am Samstag und die Anerkennung der jährlichen Resolution, die von der Wachtturm-Gesellschaft für die Bezirkskongresse vorbereitet wird. Mit letzterem Instrument kann die Leitung gezielt Veränderungsprozesse steuern und wirkmächtige Impulse setzen. Die Resolution wird am letzten Kongresstag in den Stadien verlesen und soll von den anwesenden Zeugen Jehovas mit einem lauten „Ja“ angenommen und bekräftigt werden. Das stärkt das Gemeinschaftsgefühl und hilft, den Herausforderungen gegenüber der „bösen Welt“ in der nächsten Zeit besser standzuhalten.
Die Zeugen Jehovas sind eine unscheinbar wirkende christliche Sondergemeinschaft, deren Entschlossenheit und Radikalität erst bei genauerem Hinsehen deutlich wird. Auch wenn die jährlichen Bezirkskongresse harmlos wirken, sind sie doch ein bewährtes und einflussreiches Führungsinstrument, das nach wie vor gut zu funktionieren scheint.


Michael Utsch