Reinhard Hempelmann / Gerhard Duncker

Wie Christen und Muslime miteinander leben können. 77 Fragen und Antworten

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2021, 112 Seiten, 15,00 Euro

Das gedeihliche Miteinander von Menschen unterschiedlichen Glaubens ist keine Naturgegebenheit. Es bedarf, wie im Falle des Miteinanders von Christen und Muslimen, über eine allgemeine Aufgeschlossenheit dem Anderen gegenüber hinaus ein paar grundsätzlicher Klärungen zum „Wie“ des Miteinanders, Antworten auf Fragen, die sich im konkreten Kontext dieses Miteinanders ergeben. Solche in Kirchengemeinden und diakonischen und pädagogischen Einrichtungen häufig gestellten Fragen sind es, die Reinhard Hempelmann, ehemaliger Leiter der EZW, und Gerhard Duncker, ehemaliger Referent für Grundsatzfragen im christlich-islamischen Dialog der Evangelischen Kirche von Westfalen, zu ihrem kleinen Dialogratgeber mit „77 Fragen und Antworten“ veranlasst haben. „Grundsatzfragen des christlich-muslimischen Dialogs“ spielen dabei, wie das Vorwort gleich zu Beginn betont, … nur im Hintergrund eine Rolle“ (5), werden aber in der angefügten Dokumentation zu Veröffentlichungen der EKD, der Ökumene („MissionRespekt“) und der EKBO („Dialog wagen – Zusammenleben gestalten“) aufgegriffen und thematisiert.

Die Einführung (vgl. 9 – 12) erinnert an die im Dialog nicht zu trennenden Ebenen von Zusammenleben, Dialog und Zeugnis, stellt die Notwendigkeit einer differenzierten, wertschätzenden und nicht vorurteilsbestimmten Wahrnehmung der unterschiedlichen Gesichter und Gestalten des Islam in Deutschland heraus und markiert das dialogische, ein missionarisches Zeugnis aber nicht von vornherein ausschließende Eingehen auf den religiös Anderen als Implikat der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus.

Nach der im ersten Abschnitt (Gute Nachbarschaft) des in insgesamt 13 Abschnitte gegliederten Büchleins vorgenommenen Klärung grundlegender Fragen zu Begrüßung, gegenseitigen Besuchen und Gelegenheiten zur Begegnung (Moschee- und Kirchenführungen, Stadtteilfeste usw.) führt Abschnitt II in die „Islamische Vielfalt und muslimische Organisationen“ ein und macht darauf aufmerksam, dass in den unterschiedlichen Haltungen des Glaubens (liberal, säkular, konservativ, fundamentalistisch, extremistisch) „soziokulturelle und religiöse Prägungen … eng miteinander verbunden“ sein können.

Abschnitt III zum Thema Verkauf und Überlassung von kirchlichen Gebäuden erinnert an die „religiöse Zeichenfunktion eines kirchlichen Gebäudes“ und an das in der Außenwirkung einer Umwidmung mögliche Missverständnis, Islam und Christentum seien „austauschbare Religionen“ (26). Abschnitt IV (Moscheen und Moscheebau) führt in die primär nicht religiös, sondern kulturell begründeten Formen des Moscheebaus (Kuppel, Minarett usw.) ein und sucht den Streitpunkt eines lautsprecherverstärkten Gebetsrufes mit Blick auf eine gedeihliche Konkordanz unterschiedlicher Rechtsgüter von Verfassungsrang zu beantworten. Als „irritierend“ wird die „mit einer andere [Menschen, R. B.] verletzenden Erinnerungskultur verbunden[e]“ Praxis der Benennung zahlreicher Moscheen als „Eroberer“- (Fātiḥ-) Moscheen benannt.

Abschnitt V (Multireligiöse Gebete und Feiern) betont bezüglich der Frage nach einem gemeinsamen Gebet von Christen und Muslimen die sich im christlichen Gebet vollziehende, aus muslimischer Perspektive aber abgelehnte „Hinwendung zum dreieinigen Gott“ (32), möchte aber deshalb von Christen und Muslimen gemeinsam gestaltete religiöse Feiern in der „Suche nach spiritueller Gemeinschaft“ (Christlich-muslimische Ehen), in spezifischen Situationen (Katastrophenfälle usw.) oder Kontexten (Schulanfang, Trauerfeier usw.) nicht ausschließen. Jedoch dürfe dabei „keine Seite … den Eindruck gewinnen, von der anderen Seite vereinnahmt zu werden oder Aussagen und Handlungen mit zu vollziehen, deren Inhalt und Absicht sie nicht teilt“ (35). Abschnitt VI (Kopftuch und Verschleierung) erinnert an die rechtliche Möglichkeit von Einschränkungen der Religionsfreiheit, „wenn etwa im Bereich der Schule Elternrechte und die Rechte von Schülerinnen und Schülern berührt sind“ (38). Der Koran selbst gemahnt in den einschlägigen Versen an die Sittsamkeit auch in Sachen der Bekleidung, das Verschleierungsgebot ist jedoch im Koran nicht ausdrücklich begründet, sondern „eher religiös-kulturellen Traditionen zuzuordnen“ und „in der Diasporasituation immer auch ein Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmal“ (39). Zu Recht konstatiert die Handreichung: „Brennglasartig bündeln sich in Diskussionen über das Kopftuch offene integrationspolitische Fragestellungen“ wie z. B. die nach der weltanschaulichen Neutralität des Staates, der Polysemantik eines Kleidungsstückes als „primär religiöses oder politisches Symbol, Ausdruck des politischen Islam oder Kennzeichen für ein selbstbestimmtes Leben muslimischer Frauen in der Diaspora“ (42).

Abschnitt VII (Konversionen) erinnert an „Missions-, Konversions- und Bekenntnisfreiheit“ als Implikat der Religionsfreiheit (Frage 36), Abschnitt VIII (Seelsorge) an die Notwendigkeit der Etablierung einer muslimischen Seelsorge, die den Seelsorgebedarf unter den muslimischen Mitbürgern aufzufangen in der Lage ist. Zur Sprache kommen aber auch die nicht mit den christlichen Kirchen vergleichbaren Ämter- und Autoritätsstrukturen im Islam, die einer solchen, vertragliche Regelungen voraussetzenden Etablierung von Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen entgegenstehen.

Abschnitt IX (Muslime als Mitarbeitende in kirchlichen Einrichtungen) gibt kurze und prägnante Hinweise dazu, unter welchen Voraussetzungen Musliminnen und Muslime in evangelischen Einrichtungen arbeiten können, erörtert pragmatische Lösungen für den gemeinsamen Arbeitsalltag, aber auch die Notwendigkeit, die Praxis des Glaubens (Fastengebote, Gebetszeiten) und den Arbeitsalltag „in Einklang zu bringen“ (54). Abschnitt X (Kinder und Jugendliche in evangelischen Kindertagesstätten und Schulen) plädiert dafür, „auf die verbindlichen Speiseregeln von Andersglaubenden Rücksicht zu nehmen“ (58) und Speisen bei größeren Veranstaltungen auszuweisen, warnt aber davor, einseitig bestimmten Speiseregeln den Vorrang zu geben. Gleiches gilt für die Berücksichtigung der islamischen Festkultur: Sie dürfe keine Entschuldigung für Regel- und Pflichtverletzungen im Alltag der Schule sein, deren Bildungsauftrag die Religionsfreiheit begrenzt.

Abschnitt XI (Christlich-muslimische Ehen und Familien) gibt zu bedenken, dass nach muslimischer Erwartung „der Mann dem Islam angehört und die Frau diese religiöse Orientierung annimmt“ (65), aus der Perspektive der evangelischen Kirche aber „die Bevorzugung des Mannes im islamischen Eherecht zurückzuweisen“ ist (66). Abschnitt XII (Tod und Bestattung) informiert über das zeitlich begrenzte Ruherecht auf deutschen Friedhöfen und die gängige islamische Bestattungspraxis, der ein solches Ruherecht ebenso unbekannt ist wie die nach islamischer Überzeugung die Ruhe des Toten störenden Grabpflegearbeiten. Bei Nutzung der Friedhofskapelle durch Muslime solle „darauf geachtet werden, dass christliche Symbole, etwa das Kreuz, nicht abgedeckt oder vorübergehend entfernt werden“ (71).

Integration, so heißt es im abschließenden Abschnitt XIII zum selbigen Thema, ist „das langwährende und von Konflikten geprägte Aushandeln von Teilhabechancen in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Zusammenleben angesichts kultureller Verschiedenheit erfordert von allen Seiten die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen“ (72). Lässt sich die Frage nach den „Grenzen der Toleranz“ nur unter Berücksichtigung der zunehmenden Individualisierungstendenz in der modernen Gesellschaft und der bleibenden Priorisierung der Gemeinschaft der Muslime (umma) in vielen islamischen Ländern beantworten, fällt die Antwort auf die abschließende Frage 77, wie Integration gelingen könne, eindeutig aus: „Hilfreich und zukunftsorientiert ist ein realistischer Dialog, der das Strittige nicht von der Tagesordnung verdrängt, Kontroversen zulässt und bestimmt ist von Wertschätzung und Toleranz“ (75).

Es ist das große Verdienst dieses kleinen Büchleins, seiner primären Zielgruppe, Gemeindekirchenrätinnen und -räten, Pfarrerinnen und Pfarrern, Mitarbeitenden in kirchlichen Bildungseinrichtungen und allen im christlich-muslimischen Dialog Engagierten kurz und prägnant grundlegende Kriterien und Handlungsempfehlungen für den Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt in die Hand zu geben. Als Vademecum für all jene, die sich auch jenseits der kirchlichen Handlungsfelder den Herausforderungen des interreligiösen Dialogs im gelebten Alltag zu stellen suchen, dürfte es sich einen noch viel weiteren Leserkreis erschließen.

Rüdiger Braun, 07.11.2022