Warum Abgesänge auf die Kirchen falsch sind

In bestimmten Milieus gehört es vor Weihnachten zur „political correctness“, sich in Sachen Religion kirchenapokalyptisch zu äußern. Litaneiartig sind manche Zeitungen und Illustrierten damit befasst, den bevorstehenden Untergang der Kirchen zu prognostizieren. Unterstützt werden sie nicht selten von frustrierten medienpräsenten Theologinnen und Theologen. „Die Leute laufen den Kirchen weg.“ „Mit den zentralen Verkündigungsinhalten der Kirche können viele Menschen nichts mehr anfangen.“ „Die wirkliche Jesusgeschichte wird in den Kirchen unterdrückt, sie muss ganz anders erzählt werden.“ „Religiöse Alternativangebote werden immer attraktiver: Buddhismus, Esoterik, Schamanismus.“ Solche Sätze sind Muster der Berichterstattung. Der Erfolg neuer religiöser Bewegungen wird den sich leerenden Kirchen gegenübergestellt.

Auf den ersten Blick scheint eine solche Wahrnehmung nicht ganz falsch zu sein. Die Mitgliedszahlen der großen Kirchen gehen zurück. Grundlegende Kirchenreformen werden immer dringlicher. Eine neue Religionsfaszination scheint sich auszubreiten. Menschen sind offen für Transzendenz und außergewöhnliche Ergriffenheitserfahrungen. Sie suchen nach Sinn, nach Erlebnissen kosmischer Einheit. Weltanschauliche Alternativen gewinnen an Attraktivität. Das Motto „Religion ja – Kirche nein“ ist verbreitet. Insbesondere junge Menschen und junge Erwachsene machen es sich zu eigen. Es kann weiter präzisiert werden: „Selbstbestimmte Religiosität: ja – kirchlich genormter Glaube: nein.“

Gleichzeitig verschafft sich ein neuer, aggressiver Atheismus Aufmerksamkeit, der gewissermaßen das Gegenbild zu kreationistischen Diskursen darstellt, die in den Sommermonaten die Feuilletons unserer Zeitungen füllten. Treten fundamentalistische Formen von Religion, eine militante Religionslosigkeit und eine unverbindliche Religionsfaszination an die Stelle, die bisher die Kirchen innehatten?

Der Wandel der kirchlichen und religiösen Landschaft in Westeuropa ist unverkennbar. Der gesellschaftliche demographische Wandel betrifft auch die Kirchen. Die über Jahrhunderte selbstverständliche Verknüpfung von Volkszugehörigkeit und Kirchenmitgliedschaft lockert sich. Religionsfreiheit, Migration, Globalisierung verstärken kulturellen und religiösen Austausch. Das bisher Übliche wird begründungspflichtig: der Religionsunterricht, die Sonntagsruhe, die christlich geprägte Feiertagskultur. Religiössein und Christsein treten deutlicher auseinander. Und wer christlich religiös ist, kann dies in sehr verschiedener Weise sein. Der zunehmende religiöse Pluralismus stellt die christlichen Kirchen zweifellos vor neue Herausforderungen. Deuten solche Entwicklungen darauf hin, dass die großen Kirchen ihren prägenden Einfluss einbüßen, dass ihre Zeit bald abgelaufen ist, wie dies schadenfroh und mit Häme propagiert wird?

Ich glaube nicht. Das prognostizierte Ende der Kirchen ist realitätsfernes, kirchenkritisches Wunschdenken einiger Journalisten. Die Menschen verlassen nicht nur die Kirchen, sie fragen nach der Botschaft der Kirchen, und manche kommen zurück. Vieles, was als religiöse Alternative vorgestellt wird, berührt die Menschen nur oberflächlich. Eine unbestimmte Religionsfaszination vermittelt noch kein Orientierungswissen und hat keine Kraft zur religiösen Identitätsbildung. Könnte es nicht sein, dass sich die Kirchen zu hervorragenden Konkurrenten auf dem religiösen Markt entwickeln? Ist es ausgeschlossen, dass sie mit Kreativität und Professionalität bei den Menschen sind? Ist es realitätsfern anzunehmen, dass sie neuen Mut finden, „allem Volk“ die Botschaft von der sich selbst mitteilenden Liebe Gottes zu erzählen, die in Jesus Christus konkrete Gestalt gewonnen hat und die sich auf den ganzen Menschen bezieht, auch auf seine leiblichen, seelischen und sozialen Bedürfnisse? Die Gestalt der Kirchen wird sich ändern, der Auftrag, die unverbrauchte Güte Gottes zu bezeugen, bleibt.


Reinhard Hempelmann