Rainer Liepold

Virtuelle Grabmale und Chats mit dem verstorbenen Freund

Ein kritischer Blick auf die Digitalisierung der Trauer

Nach dem Tod eines geliebten Menschen sind die Hinterbliebenen in besonderer Weise vulnerabel. Dadurch werden sie zur Zielgruppe von Begleitungsangeboten, die sowohl einen karitativ-zivilgesellschaftlichen als auch einen kommerziellen Hintergrund haben können. Die Anbahnung und die Pflege von Beziehungen erfolgen heute dabei immer öfter über das Internet. Zu diesem Zweck ist eine wachsende Zahl digitaler Plattformen für Trauernde entstanden. Deren zunehmende Verbreitung und Inanspruchnahme führen dazu, dass ca. 60 % der Todesfälle in Deutschland inzwischen einen digitalen Nachhall haben. Doch was sind das für Angebote? Welche Motive verfolgen die Seitenbetreiber? Wie verändert sich dadurch unsere Trauerkultur?

Im Folgenden werden zunächst die derzeit erfolgreichsten Online-Angebote für Trauernde im deutschsprachigen Raum beschrieben. Danach werfen wir einen Blick auf digitale Innovationen, die uns noch kurios erscheinen, aber in anderen Ländern bereits Eingang in die Trauerkultur finden. Hierbei zeigt sich, dass die Digitalisierung dabei ist, den Umgang mit dem Tod in einer grundsätzlichen Weise zu ändern. Sie schafft und verbreitet neue kulturelle Paradigmen, wie wir mit unserer Sterblichkeit umgehen. Das erweist sich als eine große Herausforderung für die kirchliche Praxis und für die Theologie, denn wir müssen erkennen: Die von der Digitalisierung forcierten Deutungen des Todes sind oft nicht kompatibel mit den christlichen Glaubensüberzeugungen.

1 Digitale Trauer: Eine Bestandsaufnahme

Die ersten Anbieter von digitalen Gedenkportalen waren die Zeitungsverlage. Seit über zehn Jahren stellen sie die bei ihnen beauftragten Todesanzeigen parallel auch online. Dabei wurden über die papierne Variante hinausgehende neue Interaktionsmöglichkeiten geschaffen: Man kann dort virtuelle Kerzen für Verstorbene anzünden, Kondolenzbotschaften hinterlegen und oft sogar Fotos, Videos und Audiodateien ergänzen.

Ähnlich sehen die Online-Portale der Bestatter aus. Auch in dieser Branche bieten immer mehr Betriebe den Trauernden digitale Foren zur Pflege von Erinnerungen an. Oft sind Fotos, die bei der Bestattung gemacht wurden, der Aufhänger, um die Angehörigen für einen Ausbau einer individuell gestalteten Erinnerungsseite zu gewinnen. Einige freie Trauerredner und -rednerinnen stellen dafür auch die Grabrede – gelegentlich sogar als Video – zur Verfügung.

Weiterhin finden sich im Netz sogenannte Online-Friedhöfe und Gedenkportale. Unter der Domain „www.strassederbesten.de“ entdecken wir aktuell 27 500 Online-Gräber, und auf „www.gedenkseiten.de“ wird an 26 000 Verstorbene erinnert. Beide Seiten werden täglich von ca. 700 Menschen besucht.

In den Sozialen Medien gibt es zahlreiche digitale Trauergruppen. Diese erreichen heute bereits deutlich mehr Menschen als die „echten“ Trauergruppen vor Ort. Dabei bietet sich vor allem Facebook für den Austausch an. Hier gibt es eine Reihe von Gruppen mit mehreren tausend Mitgliedern: 22 500 Menschen gehören zum Beispiel der Gruppe „Trauersprüche und Bilder“ an, 12 500 Mitglieder hat die Gruppe „Trauer“.

1.1 Die Motive der Akteure

Die Bereitschaft steigt, sich auf digitale Angebote für Trauernde einzulassen. Das ist auch den kommerziell motivierten Akteuren nicht entgangen. So lässt sich beobachten, dass einige Angebote, die zunächst aus ideellen Motiven auf den Weg gebracht wurden, inzwischen wirtschaftliche Ziele verfolgen. Zwei der erfolgreichsten Portale – „www.kerze-anzünden.de“ und „www.gedenkseiten.de“ – werden heute von „Convela“ betrieben, einem Online-Warenhaus rund um das Thema Tod. Die Convela GmbH vermarktet Traueraccessoires wie Trauerkarten oder Trauerflors sowie Särge und Urnen.

Auch in den Facebook-Trauergruppen stoßen wir auf Akteure, die Trauernden etwas verkaufen wollen. Zum Beispiel Wahrsagerinnen, Medien, Geistheilerinnen und freie Trauerbegleiter bieten hier ihre Dienste an. Diese Angebote sind ganz überwiegend der Esoterik-Szene zuzuordnen, und es sind häufig die Administratoren der Gruppen selbst, die sich als kommerziell motiviert erweisen. In der Regel outen sie sich mit ihren kommerziellen Intentionen jedoch erst im Verlauf eines längeren Chats. Die normalen Gruppenmitglieder haben zunächst den Eindruck, dass sie sich mit anderen Trauernden austauschen. Erst wenn eine Beziehung hergestellt und Vertrauen aufgebaut wurde, wird ein kostenpflichtiges Angebot unterbreitet, z. B. Kontakt zum betrauerten Verstorbenen herzustellen. Im Selbstversuch musste ich entdecken, dass fast 30 % der Chats irgendwann in kommerzielle Angebote aus der Esoterik-Branche münden.

Dass Zeitungsverlage und Bestatter mit ihren Online-Aktivitäten wirtschaftliche Interessen verfolgen, ist offenkundig. Einerseits verkaufen sie zielgruppenorientiert Werbeflächen, z. B. für Anwaltskanzleien, die auf Erbrecht spezialisiert sind. Andererseits nutzen sie ihre Portale im Sinne einer „customer journey“: Das Interesse an einem Todesfall binden sie so in ihre Webpräsenz ein, dass sie über die Erinnerungsseite ihr gesamtes Angebotsportfolio präsentieren und Kundenbindungen aufbauen und pflegen.

Mit dem Tod lässt sich Geld verdienen und Aufmerksamkeit erzielen. Durch die Dienstleistungen und Produkte für Trauernde wird in Deutschland jährlich ein Umsatz von immerhin acht Milliarden Euro erwirtschaftet. Deshalb haben gewinnorientierte Unternehmen die Digitalisierung der Trauer als Chance entdeckt und entsprechende Formate entwickelt. Die in diesem Bereich aktiven Firmen sind im deutschsprachigen Raum derzeit aber nicht der Digitalbranche zuzuordnen. Aktiv werden vielmehr die Unternehmen, die auch schon in prädigitalen Zeiten kommerziell im Bereich Tod und Trauer tätig waren. Der Bestatter möchte auf die von ihm verkauften Grabpflegeverträge und Vorsorgeversicherungen hinweisen. Die Zeitungsverlage bewerben ihre Online-Abonnements. Über die digitalen Trauergruppen werden kostenpflichtige Trauerberatungen, Séancen bei Wahrsagern und heilsame Amulette angeboten.

1.2 Ein Geschäftsmodell mit Zukunftspotenzial

Doch die derzeitigen Angebote schöpfen die Möglichkeiten, mit der Sterblichkeit Geschäfte zu machen, bei weitem noch nicht aus. In den USA, in Südkorea und China haben die großen Digitalkonzerne und Startups, die originär aus der Digitalbranche stammen, längst den Tod als Geschäftsmodell entdeckt. Dabei gehen sie davon aus, dass man aus den Daten, die die Toten hinterlassen, etwas machen kann. Mit hohem Kapitaleinsatz wird der Plan verfolgt, verstorbene Menschen in Form eines Bots auferstehen zu lassen.

Über diese Möglichkeit wurde in deutschsprachigen Medien erstmals im Jahr 2015 intensiver berichtet. Damals hatte die russische Programmiererin Eugenia Kuyda ein Programm geschrieben, um die WhatsApp-Kommunikation mit ihrem Freund fortzuführen, obwohl dieser bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Die beiden hatten davor tausende Textnachrichten ausgetauscht. Dadurch wurde es möglich, die Sprache, den Humor und die Interessen des Verstorbenen in diesem Programm abzubilden. So konnte Kuyda mit „Go-Roman“ die täglichen Chats fortsetzen und hatte dabei das Gefühl, weiterhin mit dem echten Menschen im Austausch zu sein. Textbotschaften von Toten, die zu Lebzeiten viel gechattet haben, lassen sich heute bereits in erstaunlicher Authentizität klonen. „When your heart stops beating, you’ll keep tweeting“, wirbt das Startup-Unternehmen „LivesOn“, das digitale Klone erstellt.

Doch die zukünftigen technischen Möglichkeiten werden noch deutlich weitergehen: Sie zielen darauf ab, dass die Bots von Verstorbenen immer lebensechter werden. So hat zum Beispiel das koreanische Startup „Vive Studios“ einen digitalen Klon der im Alter von sieben Jahren verstorbenen Nayeon erstellt. Mithilfe einer Virtual-Reality-Brille entstand ein dreidimensionales Bild der Toten, und durch VR-Handschuhe wurde sogar der Austausch von Zärtlichkeiten möglich. 18 Millionen koreanische Fernsehzuschauer waren in einer Live-Sendung Zeugen, wie die Eltern des verstorbenen Mädchens erstmals auf deren digitale Kopie trafen. Nayeons Mutter hatte für diese Begegnung mit ihrer toten Tochter deren Lieblingsessen gekocht. Der Klon konnte sich sofort erinnern und lobte das Gericht überschwänglich. Zwischen Mutter und Tochter-Klon ergab sich ein langer, emotional berührender Austausch. Als die Mutter zu Tränen gerührt war, zückte der Nayeon-Klon ein Handy und fotografierte sie – wie es „echte“ koreanische Kinder in dieser Situation eben auch täten.

Unter den Zuschauerinnen und Zuschauern des Ereignisses gab es danach heftige Diskussionen, ob diese Begegnung für Nayeons Familie wohl eine Hilfe oder ein Hindernis auf ihrem Trauerweg gewesen sei. Dessen ungeachtet war es aber eindrucksvoll zu erleben, wie weit die technischen Möglichkeiten schon heute gehen. Bald wird es möglich sein, digitale Kopien von uns zu erstellen, die den „Turing-Test“ bestehen. Dieser nach dem Computerpionier Alan Turing benannte Test gilt als bestanden, wenn der User nicht mehr sicher sagen kann, ob er mit einem Menschen oder einer Maschine kommuniziert.

Warum geben die Digitalkonzerne für solche Projekte Unmengen Geld aus? Die Antwort lautet wohl, dass wir vor einem Quantensprung mit Blick auf die kapitalistische Bewirtschaftung des Todes stehen. Denn die Bots von Verstorbenen bergen das Potenzial, Werbebotschaften in nie dagewesener Intensität zu vermitteln: Wer ist schon gegen eine Empfehlung immun, die ihm ein innig betrauerter Verstorbener gibt? Könnte Donald Trump nicht auch noch nach seinem Tod die Anhänger der Republikaner mit Wahlkampfreden begeistern? Würden Teenager nicht viel Geld ausgeben, um mit einem jüngst verstorbenen Popstar chatten zu können?

Dabei ist zu beachten, dass die Programmierung der Bots nicht ausschließlich auf eine möglichst lebensechte Kopie des Verstorbenen abzielen muss. Die Digitalkonzerne können vielmehr in die Datencodes der Toten auch externe Anliegen – zum Beispiel die ihrer Werbekunden – einweben. Mein verstorbener Vater redet mir dann ins Gewissen, dass ich mir endlich ein Elektroauto anschaffen soll. Der tote Donald Trump wirbt leidenschaftlich für Steuererleichterungen für die Digitalbranche. Der jüngst verstorbene und von Jugendlichen hoch emotional betrauerte Popstar erzählt von seiner Begeisterung für ein Kosmetikprodukt oder ein Musik-Abo. Was am Ende die Toten zu uns sagen, das bestimmen tatsächlich ja nicht die Toten. Es sind die Unternehmen, die die Bots programmieren, die damit die Macht über die Toten – und so auch über die Hinterbliebenen – bekommen.

1.3 Unsterblichkeit als Marktangebot und Machtfantasie

Vom Erfolg ihrer Innovationen befeuert, träumen viele Superreiche aus dem Silicon Valley inzwischen von einer kompletten Überwindung des Todes. Sie investieren nicht nur viel Geld in Bots, die zumindest ein Weiterleben als digitaler Klon ermöglichen, sondern auch in die medizinische und biologische Forschung zur realen Lebensverlängerung. Ihre Hoffnung ist, dass wir zukünftig die körperlichen Alterungsprozesse so unter Kontrolle bringen und aufhalten können, dass am Ende ein ewiges Leben möglich wird.

Viele der weltbekannten Pioniere aus der Digitalbranche halten es für denkbar, dass sie unsterblich werden. Elon Musk zeichnet sich an dieser Stelle schon fast durch Bescheidenheit aus. Er will sich damit zufriedengeben, das eigene Bewusstsein in eine Cloud zu laden und so für alle Zeiten zu bewahren. Das Erlangen von körperlicher Unsterblichkeit hält er mit Blick auf die Begrenztheit natürlicher Ressourcen nicht für erstrebenswert. Doch das sehen Larry Page und Jeff Bezos anders. Die Gründer von Google bzw. Amazon gehören zu den Großinvestoren in die medizinische Forschung zu Lebensverlängerung.

Ein besonders exponierter Visionär in dieser Richtung ist Peter Thiel. Der 55-jährige Deutschamerikaner war Mitgründer des Internetbezahldienstes PayPal und Investor bei Facebook. Er unterstützt heute die SENS-Stiftung, die sich die Bekämpfung des biologischen Alterns auf die Fahnen geschrieben hat. Jedes Jahr verleiht diese Stiftung den „Methusalem-Maus-Preis“, mit dem sie Forschende auszeichnet, die mit gentechnischen Eingriffen die Lebensdauer von Hausmäusen künstlich verlängern. Thiel geht davon aus, dass sich die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen. Am Ende werde dann unsere Unsterblichkeit stehen. Er rechnet fest damit, dies noch selbst zu erleben.

Thiels Vision von der Unsterblichkeit ist Bestandteil einer umfassenderen Ideologie: Er glaubt an eine Zukunft, in der der technische Fortschritt ganz neue Formen von Freiheit denkbar macht. Dabei will der Milliardär nicht nur die Fesseln der Sterblichkeit abschütteln. Er will zugleich auch frei werden von den Normen, die uns verbinden und das derzeitige soziale Leben prägen. In Thiels Zukunftsvision leben Menschen wie er auf künstlichen Inseln in der Südsee. Und sie leben nicht nur dort, sondern sie werden in gewisser Weise selbst zu Inseln: Jeder ist dann nur noch sich selbst und den eigenen Visionen verpflichtet. Ihre künstlichen Inseln liegen außerhalb aller 200-Meilen-Zonen. So gehören ihre Bewohnerinnen und Bewohner keinen Nationen mehr an. Sie sind schlichtweg von allen Bindungen befreit. Peter Thiel möchte diese Ego-Eilande mit Angehörigen der technischen Elite besiedeln.

2 Trauer: Warum der Markt alleine es nicht richtet

Einer Elite von Ego-Insulanern die Unsterblichkeit ermöglichen? Und das alles erklärtermaßen ohne jegliche Form von sozialer Verantwortung? Thiels Vision von der Unsterblichkeit ist Ausdruck eines entfesselten Egos. Doch das ist nichts wirklich Neues. Schon die ägyptischen Pyramiden und die chinesischen Kaisergräber erzählen davon: Männer, die unbegrenzt Macht hatten, waren nicht willens, den Tod als Grenze zu akzeptieren. Dass weniger privilegierte Zeitgenossen einen hohen Preis für ihre Unsterblichkeitsfantasien zahlen mussten, war ihnen egal.

Wir sehen: Wenn es um den Tod geht, geht es immer zugleich auch um das Leben. Die Art und Weise, wie Menschen mit der Sterblichkeit umgehen, verrät stets auch etwas über ihre Lebenseinstellung. Und die eben skizzierte Entwicklungslinie in der Digitalisierung der Trauer zeigt, dass die Triebfeder der erfolgreichsten Angebote die kapitalistische Bewirtschaftung des Todes ist. Dabei wird der Tod als ein lösbares Problem dargestellt, und die entsprechenden Lösungen werden zum Kauf angeboten.

Heute stoße ich in der Facebook-Trauergruppe auf eine Wahrsagerin, die mir verspricht, ich könne gegen ein Honorar mit einem Toten in Kontakt bleiben. In Zukunft erwerbe ich dann bei einem digitalen Dienstleister einen Klon, der mir die Fortsetzung der Beziehung zum Verstorbenen ermöglicht. Es ist sogar denkbar, dass das Versprechen von Unsterblichkeit als solches zu einem hoch bezahlten Marktprodukt wird. Dabei wird ganz offen eine Agenda verfolgt, die der Philosoph Hartmut Rosa als „Prinzip der unablässigen Reichweitenvergrößerung“ beschreibt.1  Deren innere Triebkraft sei es, „Märkte zu erschließen, Potenziale zu aktivieren, technische Möglichkeiten zu vergrößern, die Wissensbasis zu erweitern, um immer mehr Welt verfügbar zu machen“2.

2.1 Trauer lässt sich nicht allein mit Technik bewältigen

Rosa befürchtet, dass diese Haltung am Ende dazu führt, dass wir uns für die authentischen Erfahrungen blockieren, die unser Leben tatsächlich lebenswert machen würden. Die Wirklichkeit wird in diesem Denken nämlich vorrangig als ein Feind wahrgenommen, der sich der selbstbestimmten Optimierung unserer eigenen Lebensziele in den Weg stellt. Das gilt natürlich in besonderer Weise für die Wirklichkeit des Todes. Gerade weil wir über geliebte Menschen nicht über ihre Lebensgrenze hinaus verfügen können, scheint das Versprechen einer „digitalen Unsterblichkeit“ für Trauernde auf den ersten Blick so verlockend zu sein. Doch werden uns die Bots unserer Verstorbenen dann wirklich über den Verlustschmerz hinweghelfen?

Eine ernüchternde Erfahrung im Umgang mit diesen neuen technischen Möglichkeiten haben die Hörfunkjournalisten Moritz Riesewieck und Hans Bloch dokumentiert. Sie berichten von einem US-Amerikaner namens James, dessen Vater unheilbar an Krebs erkrankt war. Die kurze Zeit, die er noch mit ihm hatte, hat James dafür genutzt, einen „Dadbot“ zu programmieren. In dem Maße, indem er diesen mit den „Originaltönen“ seines sterbenden Vaters fütterte, wurde der Bot immer besser darin, die Lebensgeschichte, den Humor und die persönlichen Eigenheiten des Vaters wiederzugeben. Doch am Ende hat das sterbende Original die digitale Kopie als Konkurrenz empfunden. Während der Bot die Familie zunehmend besser mit lustigen Anekdoten aus der gemeinsam erlebten Geschichte unterhalten konnte, hatte der echte Vater kurz vor dem Tod nicht einmal mehr die Kraft, auch nur ganz einfache Gedanken zu formulieren. Als er sich daraufhin resigniert von seinem dauerredenden digitalen Klon wegdrehte, fragte sich James: „Vielleicht ist der Dadbot ein einziger großer Fehler? Vielleicht sollte ich, statt hunderte von Stunden mit Programmieren zuzubringen, lieber die Hand meines Vaters halten?“3

2.2 Trauernde sind kein Markt, sondern hilfsbedürftige Menschen

Wer aktuell in Deutschland einen sterbenden Vater begleitet, dürfte auf das Dadbot-Projekt von James eher mit Kopfschütteln reagieren. In unserer Gesellschaft haben derartige Innovationen noch keinen Eingang in die mehrheitlich praktizierte Trauerkultur gefunden. Aber trotzdem erleben auch wir bereits eine Verlagerung der Trauer in den digitalen Raum. Die Trauernden landen dabei dann meistens bei Seitenbetreibern, deren Motive kommerzieller Natur sind. Doch gehen diese Anbieter dann auch verantwortungsvoll mit den Menschen um, die Hilfe in diesen Portalen suchen?

Kommerziell motivierte Akteure sind vor allem an der Kundenakquise interessiert. Eine hohe Reichweite zu erzielen und etwas zu verkaufen, ist ihr zentrales Anliegen. Eine fachlich fundierte Begleitung der Trauernden oder gar nachgehende Seelsorge wird auf diesen Portalen durchweg nicht angeboten. Das birgt mit Blick auf die Vulnerabilität der Zielgruppe erhebliche Risiken.

So finden sich zum Beispiel in den Foren immer wieder Posts, in denen eine Suizidabsicht anklingt: „Ich kann und will nicht mehr. Wirklich!!!! So hat mein Leben überhaupt gar keinen Wert mehr und ich will viel lieber tot sein!“, schreibt eine Sandra. Schon nach wenigen Sekunden erfolgt die erste Reaktion: Drei rote Herzen, das letzte gebrochen. Kurz darauf dann die erste verbale Antwort: „Kann dich sehr gut verstehen! Mein Leben ist auch nicht mehr lebenswert!“4 Dieses Feedback aus der Community ist aus fachlicher Sicht für einen Menschen mit Suizidabsicht hoch bedenklich.

„Hallo, ich bin neu hier und suche gerade etwas Unterstützung“, schreibt Martina in ihrem ersten Gruppenbeitrag: „Meine Mama hat am 26.5. einen Termin zur Sterbehilfe. Ich möchte sie begleiten, damit sie nicht alleine ist. Aber mich macht das völlig fertig und ich bin mit den Nerven am Ende. Sie ist seit Jahren ziemlich krank und möchte so nicht mehr weiterleben.“ In diesen Post klingen durchaus Zweifel an der Sterbehilfe an. Aber auch in diesem Fall erfolgt die erste Reaktion sofort und völlig unreflektiert. Ohne mehr über die Hintergründe zu wissen, schreibt eine Ramona: „Finde es ganz toll dass du deine Mama dabei begleitest. Absolut nachvollziehbar dass deine Mama nicht mehr weiterleben möchte denn sie hat wahrscheinlich wenig bis gar keine Lebensqualität mehr. Kenne dieses Gefühl nur allzu gut!“5 Auch hier werden die Grenzen der digitalen Selbsthilfe unter Betroffenen deutlich.

Diese Beispiele lassen erkennen, wie wichtig es wäre, dass die Digitalangebote für Trauernde diese fachlich kompetent begleiten und nicht auf ihr kommerzielles Potenzial reduzieren. Dann hätten solche Angebote tatsächlich ein großes Potenzial, Hinterbliebenen auf einem gesunden Weg durch die Trauer zu helfen.

3 Digitale Trauerangebote bergen große Chancen

Unsere bisherige Tour d’Horizon durch die gegenwärtigen Angebote und zukünftigen Möglichkeiten der digitalen Trauer hat vor allem die Risiken in den Blick genommen. Doch daraus folgt keineswegs ein Plädoyer für eine Verweigerungshaltung. Digitale Kommunikation birgt nämlich auch große Chancen für die gesunde Bewältigung eines Abschiedes.

Der Zugang zu den entsprechenden Foren ist niedrigschwellig und der Ton in ihnen durchgängig um Verständnis bemüht. Das Problem des „Dissenses“ kommt fast nicht vor. In den wenigen Fällen, wo Ungeduld, Missfallen oder Belehrungen geäußert werden, springt die Community dem Kritisierten sofort zur Seite. So erstaunt es nicht, dass viele Menschen dann intensiv und oft über einen längeren Zeitraum hier den Austausch suchen. Dabei werden User, die auf Posts anderer Trauernder reagiert haben, laufend über deren neueste Beiträge informiert. So entstehen innerhalb des großes Netzwerkes kleine Netzwerke von Usern, die in besonderer Weise ein Verhältnis zueinander aufgebaut haben.

3.1 Sich verstanden fühlen und eine Lebensgeschichte erzählen: Das hilft

Der Trauerforscher George A. Bonanno betont, dass es in der Natur des Menschen liege, mit einem Todesfall umgehen zu können: „So furchtbar der erste Verlustschmerz auch sein kann, die meisten von uns sind widerstandsfähig.“6 Zu den Ressourcen unserer Resilienz gehört es, dass wir uns mit anderen Menschen über unsere Gefühle und Erinnerungen austauschen.

„Durch den Austausch mit anderen Eltern habe ich gelernt, dass ich nicht schuld bin am Tod meiner Tochter“, berichtet eine 66-Jährige, deren Tochter an einer Überdosis Heroin verstarb. Die Mutter hatte davor mehrere Jahre lang all ihre Kraft dafür aufgewandt, ihrer Tochter Auswege aus der Suchterkrankung zu ermöglichen – letztendlich erfolglos. „Ich habe andere Eltern kennengelernt, die haben auch ein Kind an die Drogen verloren“, berichtet sie über ihre Erfahrungen in einer Online-Trauergruppe: „Dabei habe ich entdeckt, dass da auch ein Ingenieur und eine Richterin dabei sind, also erfolgreiche, anständige Leute. Aber die haben es auch nicht geschafft, ihr Kind zu retten.“ Sie hat nach dem Tod ihrer Tochter nachts viele Stunden in Trauerforen und auf Gedenkportalen verbracht. „Das Gefühl, nicht alleine zu sein“ und „verstanden zu werden“, habe ihr im Umgang mit der Trauer geholfen, resümiert sie. Sie spricht von dem „intensiven Austausch“, den sie erlebt habe, und beschreibt, dass es ihr leichter gefallen sei, „mich über das Internet auszutauschen und was über meine Gefühle zu erzählen, als irgendwohin in eine Gruppe zu gehen“.7

„Unser Lebensweg hat sich immer wieder entzweit und das manchmal sogar über mehrere Jahre. Aber unser Weg traf sich immer wieder und am Ende war er sogar gepflastert von Liebe, Geborgenheit, Verständnis, Zuversicht und Ehrlichkeit“, resümiert Melo wenige Tage nach dem Tod ihres Vaters. Sie erzählt in der Facebook-Gruppe „Trauersprüche und Bilder“ ausführlich die Lebensgeschichte ihres Vaters und bittet darum, „nicht auf Grammatik und den Mist zu achten“, denn sie habe „einfach drauf los geschrieben“. Die trauernde Tochter hat damit unbewusst etwas getan, was beim Abschiednehmen sehr helfen kann: Sie hat eine Lebensgeschichte erzählt – und das hat sie dann so getan, dass sie selbst in dieser Geschichte gut wegkommt.

Diese Art von Rückblick ist nach Bonanno eine „selbstwertdienliche Verzerrung“, die aber eine „Hinwendung zum Positiven“ ermöglicht. Wenn Trauernde eine Lebens- oder Sterbegeschichte erzählen, ist diese ein subjektives Konstrukt, das dabei hilft, zu einer positiven Deutung der eigenen Rolle zu gelangen. Wir erzählen von den Toten in der Regel so, dass wir mit ihnen und ihrem Tod unseren Frieden machen können. Deshalb tut es Trauernden gut, „ihre Geschichte“8 erst zu komponieren und dann auch zu erzählen. In digitalen Trauerforen und auf Gedenkportalen tun Hinterbliebene dies – und oft auch Menschen, die es ohne die entsprechenden Digitalangebote nicht täten. Ob die in diesen Geschichten vorgenommenen Bewertungen und Gewichtungen einer objektiven Überprüfung standhalten würden, ist gar nicht wichtig. Es ist auch egal, wie häufig diese Geschichten am Ende wirklich gelesen werden. Allein schon die selbstwertdienliche Komposition der Erzählungen hilft bei der Bewältigung eines Todesfalles.

3.2 Lernerfolge und Resilienzrezepte zur Sprache bringen: Das hilft

Trauerwege sind für viele Menschen zugleich auch Lernwege. Nach dem Verlust einer engen Bezugsperson müssen sie sich neu orientieren. Und im Zuge einer Sterbebegleitung machen sie oft sehr intensive Erfahrungen: „Glaube und Natur sind etwas, was mich trägt“, postet Chrabine, Jahrgang 1959. Sie berichtet, wie sie beim Besuch ihrer sterbenden Mutter „klar werden konnte“ und schrittweise gelernt habe zu „ertragen, dass wir endlich sind“.9

„Es wird schon wieder. Zeit heilt alle Wunden. Im Frühling sieht alles besser aus.“ Nein, so einfach ist es nicht! Anja berichtet, dass sie sich durch solche Formulierungen „nicht verstanden, sondern verbal gedeckelt“ fühle. Sie bemängelt, dass „auch Gott zur Phrase werden kann“10, und bekommt daraufhin von über 30 anderen Trauernden eine positive Resonanz. Offensichtlich machen auch andere ähnliche Erfahrungen. Und es hilft ihnen dann zu entdecken, dass sie mit ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen keineswegs alleine sind.

Wie gut, dass das Internet solche Erfahrungen einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellt! Die zitierten Userinnen sind Beispiele dafür, wie heute mehrere hunderttausend Trauernde den digitalen Austausch als hilfreich erleben und sich gegenseitig in einem gesunden Umgang mit der Trauer bestärken.

Mithilfe des Internets finden auch Trauercommunitys zusammen, die einen ausgeprägt zielgruppenspezifischen Charakter haben, z. B. verwaiste Eltern, jung Verwitwete, Angehörige von an Corona Verstorbenen oder Hinterbliebene nach einem Suizid.

3.3 Helfende gut ins Gespräch bringen

Trauer hat heute oft eine hybride Gestalt. Damit ist gemeint, dass Trauernde sowohl analog als auch online kommunizieren. Digitale Angebote können dann „echte“ Begegnungen anbahnen, vertiefen oder nachklingen lassen. Dies birgt Chancen für Hospizvereine und zivilgesellschaftlich motivierte Trauergruppen. Einfach nur mit einer Homepage über ein Angebot zu informieren, reicht dabei aber oft nicht mehr. Einrichtungen, die das Gespräch mit Trauernden suchen, müssen zunehmend auch digitale Angebote machen, die zur Interaktion einladen.

Ein Beispiel, wie dies gelingen kann, ist die „Trauergruppe für jung Verwitwete“ der „Evangelischen Fachstelle für Alleinerziehende in Nordbayern“. Deren Leiterin, Anne-Margret Wild, hat zusätzlich auf Facebook eine geschlossene Trauergruppe für jung Verwitwete mit Kindern gegründet und diese in den sozialen Netzwerken erfolgreich beworben. Sie berichtet, dass darüber eine große Zahl von Menschen für die Teilnahme an der „echten“ Trauergruppe interessiert werden konnte: „Nachdem die Betroffenen durch Facebook auf uns aufmerksam wurden, nehmen sie oft lange Anfahrtswege in Kauf und kommen inzwischen auch aus Bamberg, Hof, Würzburg, Aschaffenburg, Weißenburg zu uns nach Nürnberg.“11

Das Portal „www.gedenkenswert.de“ wurde von der Evangelischen Kirche in Bayern initiiert. Hier können die Hinterbliebenen nach einem Todesfall online Erinnerungen pflegen und sich gegenseitig zu einem gesunden Weg durch die Trauer inspirieren. In diesem Rahmen bringen sich auch Kirchengemeinden, Trauergruppen und Hospizvereine ein: Sie geben Rat, beantworten Fragen und laden zu Veranstaltungen ein. Der Verfasser dieses Artikels ist dafür verantwortlich, dass die Plattform kontinuierlich seelsorglich begleitet wird. Ein Jahr nach dem Launch ist eine Community von über 500 registrierten Usern entstanden. Die Seite wird täglich von knapp 100 Menschen besucht, die im Durchschnitt elf Minuten bleiben.

4 Resümee: Die Digitalisierung verändert den Umgang mit dem Tod

Dass es inzwischen auch nichtkommerzielle Angebote gibt, ist für Trauernde gut. Aber es ändert nichts daran, dass es vor allem die gewinnorientierten Akteure sind, die die Landschaft der digitalen Trauer prägen. Sie erweisen sich dabei oft als Meister der Aufmerksamkeitsökonomie: Wer etwas verkaufen will, verkauft sich am Ende oft besser.

„Ihr seid teuer erkauft“, schreibt Paulus in 1.Kor 7,23 und rät: „darum werdet nicht der Menschen Knechte“. Hier klingt eine fundamentale religiöse Einsicht an, die einen Gegenentwurf zur marktförmigen Erschließung der digitalen Trauer darstellt: Erlösung und Trost sind aus christlicher Überzeugung viel mehr als ein menschengemachtes Marktprodukt. Die Trostverheißungen von kommerziellen Angeboten wie unsterbliche Bots sind aus dieser Perspektive keine Hilfe, sondern eine trostlose Geschäftemacherei. Gerade mit Blick auf die Vulnerabilität der Zielgruppe stellt deshalb das rasch wachsende Feld der digitalen Trauer auch für die Kirchen eine Herausforderung dar.

Christliche Glaubensüberzeugungen, die kulturelle Kompetenz der Kirche im Umgang mit dem Tod und die große Palette von zivilgesellschaftlichen Begleitungsangeboten für Trauernde müssen auch im digitalen Raum erlebbar werden. Sonst laufen wir Gefahr, dass die Digitalisierung die Trauer dahingehend verändert, dass die Trauernden nur noch als Kunden und die Toten nur noch als Datenlieferanten in den Blick genommen werden.

Rainer Liepold, 13.07.2022

 

Anmerkungen

1 Vgl. Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Wien 2020.

2 Ebd., 16.

3 Vgl. Moritz Riesewiek / Hans Bloch: Die digitale Seele, München 2000, 70.

4 Aus dem Chatverlauf der Facebook-Gruppe „Trauer“.

5  Aus dem Chatverlauf der Facebook-Gruppe „Trauersprüche und Bilder“.

6 George A. Bonanno: Die andere Seite der Trauer, Basel 2012, 17.

7 Zitate aus einem vom Verf. durchgeführten zweistündigen Interview mit der 66-Jährigen.

8  Bonanno: Die andere Seite der Trauer (s. Fußnote 6), 93.

9   Aus einem Post auf „www.gedenkenswert.de“.

10  Aus einem Post auf „www.gedenkenswert.de“.

11  Aus Anne-Margret Wilds Abschlussarbeit zur Qualifikation als Trauerbegleiterin (Bundesverband Trauerbegleitung, BVT).