Jehovas Zeugen

Verfolgung und Selbstverständnis – Jehovas Zeugen entgehen in Kirgistan dem Verbot von 13 ihrer Publikationen

(Letzter Bericht: 2/2021, 123 – 125) Ein Bezirksgericht in Bischkek (Kirgistan) lehnte am 2.12.2021 den Antrag ab, 13 Publikationen von Jehovas Zeugen zu verbieten. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verbot von elf Büchern, zwei Broschüren und sechs Videobändern gefordert, die im Besitz der ansässigen Zeugen Jehovas waren. Sie begründete dies damit, dass es sich um „extremistisches“ Material handle.1  Damit folgt sie in ihrer Argumentation dem russischen Obersten Gerichtshof; dieser hatte bereits 2017 verlautbaren lassen, dass Jehovas Zeugen „extremistisch“ seien, und sie deshalb verboten.2  Gegen das Verbot der Religionsgemeinschaft hatte die Bundesregierung mit Verweis auf das Menschenrecht der freien Religionsausübung protestiert.3

Die Bücher, Broschüren und Videos wurden 2019 in Kirgistan konfisziert, eine Auswertung soll ergeben haben, dass deren Inhalt ethnischen oder religiösen Hass schüre. Die zuständige Staatsanwaltschaft nahm dies zum Anlass für ihren Antrag, das Material und die Aktivitäten der Religionsgemeinschaft insgesamt zu verbieten.4  Durch das neue Urteil, in dem das Gericht der Staatsanwaltschaft nicht folgte, ist die Gemeinschaft nun zunächst vor einem Verbot in Kirgistan geschützt.

Damit sind Kirgistan und Kasachstan derzeit die einzigen Länder in Zentralasien, in denen Jehovas Zeugen erlaubt sind. In Russland, China, Iran, Irak, Ägypten und weiteren Ländern ist die Gemeinschaft verboten. In Russland wurden Jehovas Zeugen schon seit 2014 gerichtlich aufgefordert, sich aufzulösen. Amnesty International berichtet von Festnahmen, Inhaftierungen und der Folter von AnhängerInnen.5  Wegen der Repression in Russland haben Jehovas Zeugen 60 Einsprüche beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, so berichtet es Jarrod Lopes, Pressesprecher von Jehovas Zeugen, in der Washington Post.6  Neben dem juristischen Weg versucht die Religionsgemeinschaft, die Einschränkungen durch Briefe an PolitikerInnen abzuwenden, so auch im Fall von Kirgistan.

Auch in der Vergangenheit wurden Jehovas Zeugen verfolgt und versuchten auf verschiedenen Wegen, die Repression abzuwenden. Unter dem Nationalsozialismus verfassten sie sogar einen Brief an Adolf Hitler mit der Bitte, von der Verfolgung abzusehen, was jedoch keinen Erfolg hatte. Keine Option für die Gemeinschaft ist es, ihre Lehre zu verändern und anzupassen, damit der ausschlaggebende Grund der Verfolgung entfällt. So behielten Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus ihre Lehre bei, die es ihnen verbot, den sogenannten Deutschen Gruß zu tätigen.

Allerdings werden auch bloße Kritik insbesondere vonseiten ehemaliger AnhängerInnen oder gar sachliche Darstellungen, die nicht im Kontext einer Verfolgung stehen, von Jehovas Zeugen bisweilen als Angriff verstanden. Sie werden heutzutage wegen ihrer Praxis, ihre ausgeschlossenen Mitglieder zu meiden, immer wieder kritisiert. Ein Gericht in Gent (Belgien) hat das belgische Zweigbüro der Gemeinschaft im März 2021 zu einer Geldstrafe von 96 000 Euro wegen Anstiftung zur Diskriminierung und zum Hass gegenüber ehemaligen Mitgliedern verurteilt.7

Die Verfolgung und Unterdrückung werden in den Publikationen von Jehovas Zeugen immer wieder aufgegriffen. Sie sind jedoch kein Thema, das prominent platziert ist, wie dies beispielsweise im evangelikalen Umfeld gehandhabt wird. Bei Jehovas Zeugen gibt es keine Gebetsaufrufe, Spendenaktionen o. Ä. für die verfolgten Geschwister, auch keine eigene Publikationsreihe, die sich ausschließlich diesem Thema widmet.

Eine Art des Umgangs mit der Verfolgung von Glaubensgeschwistern in der Vergangenheit und Gegenwart ist, dass Glaubensvorbilder – so der innergemeinschaftliche Ausdruck – porträtiert werden. In einem Artikel oder einer ganzen Broschüre werden bedrängte Gemeindemitglieder mit ihrer Geschichte vorgestellt. Die Betroffenen kommen dabei oftmals selbst zu Wort. Gemeinsam ist diesen Darstellungen, dass alle ProtagonistInnen trotz Verfolgung am Glauben festhielten. Eine Abkehr von der Gemeinschaft, um der Verfolgung zu entgehen – und sei es nur zum Schein –, wird nicht in Betracht gezogen. Dieses Narrativ soll diejenigen Zeugen in ihrem Glauben stärken, die selbst Repressalien ausgesetzt sind. In einem Bericht vom 21.11.2021 auf der offiziellen Homepage mit dem Titel „Glaubensvorbilder aus der Vergangenheit stärken russische Brüder heute bei Verfolgung“ beispielsweise schildert ein Russe namens Oleg Folgendes:

„Oleg erzählt: ,Ich denke oft daran, wie meine Verwandten [die auch Jehovas Zeugen waren; M. H.] und andere [Glaubens-]Brüder und Schwestern in der Sowjetunion nicht nur ausharren, sondern dabei sogar freudig bleiben konnten.‘ Er fügt hinzu: ‚Für mich beweist das eindeutig die Macht des heiligen (sic) Geistes. Ich bin überzeugt, dass meine Familie und ich auch ausharren und freudig bleiben können.‘“

Das Porträtieren von Glaubensvorbildern hat einen festen Platz in den Publikationen, Vorträgen und auf den Kongressen der Gemeinschaft und ist nicht nur auf das Themenfeld der Verfolgung beschränkt. Auch werden Figuren aus der Bibel als Vorbilder präsentiert. Auf Jesus wird u. a. als Vorbild für den Predigtdienst oder in Bezug auf seine Demut und Bescheidenheit hingewiesen. Für Jehovas Zeugen gehören Verfolgung oder die Wahrnehmung, dass die Außenwelt ihnen gegenüber missgünstig gestimmt ist, zu ihrem Selbstverständnis. Denn sie sehen sich als einzig wahre Religionsgemeinschaft und Erwählte und gerade deswegen als Angriffsziel des Teufels. Verfolgt zu sein, verstärkt darüber hinaus die ausgeprägte Distanzhaltung und Abwertung der Außenwelt. Ob reale Verfolgung oder auch vergleichsweise harmlose Kritik an Jehovas Zeugen – beides wird unter dem Vorzeichen betrachtet, dass die Außenwelt von der Herrschaft Satans bestimmt ist, was wiederum ihr Selbstverständnis bestätigt, Erwählte zu sein.


Melanie Hallensleben, 13.05.2022

 

Anmerkungen

1  Vgl. Kyrgyz Court Refuses to Recognize Books used by Jehovah’s Witnesses as „Extremist“, Radio Free Europe/Radio Liberty, 3.12.2021, www.rferl.org/a/kyrgyzstan-jehovahs-witnesses-extremist/31592362.html (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 2.5.2022).

2  Vgl. Alexander Marrow: Russia jails Jehovah’s Witness for six years – lawyer, Reuters, 16.12.2020, https://tinyurl.com/bdhupcxu.

3  Vgl. Michael Utsch: Kritik der Bundesregierung am Verbot von Jehovas Zeugen in Russland, in: MdEZW 80/7 (2017), 270.

4  Vgl. Kyrgyz Court Refuses to Recognize Books used by Jehovah’s Witnesses as „Extremist“ (s. Fußnote 1).

5  Vgl. Amnesty International: Zeugen Jehovas weiter in Haft, 25.3.2019, https://tinyurl.com/34c7z4bu; ders.: Zeugen Jehovas gefoltert, 1.3.2019, https://tinyurl.com/4jb69wbb.

6  Vgl. Kathryn Post: Kyrgyzstan is expected to ban Jehovah’s Witnesses publications for „extremism“, The Washington Post, 30.11.2021.

7  Jeroen Desmecht / Hanne Decré: Getuigen van Jehova veroordeeld voor „uitsluitingsbeleid“: boete van 96.000 euro, vrtNews, https://tinyurl.com/3hzz6jjb. Übersetzt von ZJHelp: Zeugen Jehovas wegen Ächtung verurteilt,https://jz.help/zeugen-jehovas-wegen-aechtung-verurteilt.