Rainer Fromm

„Vampirismus“ in Deutschland - Fortsetzung

Bestandsaufnahme einer Subkultur

Zum Beginn dieses Beitrags gelangen Sie hier: Artikel - EZW (ezw-berlin.de)


„Vampirismus“ als Subkultur: Von Dark Wavern und Modernen Vampiren

Vampirismus wird im jugendsubkulturellen Kontext als „eine Nebenströmung des Gothic“ definiert.70 Da die Bewegung noch recht jung ist, gibt es keine gesicherten Untersuchungen, wo die Trennlinie zwischen Lebensstil, subkultureller Prägung und okkult-pseudoreligiösen Ansätzen verläuft. Typisch für die Szene sind unter anderem Vampirzähne, okkulte Accessoires, weißes Corpespainting (Leichenblässe), Blut-Trinken, Friedhofsrituale, Selbstverletzungen, Im-Sarg-Schlafen, aber auch ein Graubereich zur Rollenspielszene.

In diesem Zusammenhang taucht immer wieder der Begriff der „Real Vampires“ oder der „Modernen Vampire“ auf. Diese Gruppe von zumeist Jugendlichen versucht den Lebensstil des Vampirismus, der ihnen aus Kinofilmen und Romanen präsent ist, nicht nur zu kopieren. Sie empfinden eine „echte vampirische Identität“, „vampirische Gefühle und Handlungen werden real ausgeführt“.71 Sind die historischen Gewänder und der aristokratische Stil meist noch recht anmutig anzusehen, sind andere Insignien der „Real Vampires“ wirklich gefährlich. Zu den extremen Auffälligkeiten der Szene gehört das Trinken von Blut.72 In den USA gründeten ehemalige Rollenspieler Anfang der 90er Jahre eine erste sog. „reale Vampirgemeinschaft“ mit dem Namen „das Sanguinarium“. Ihre Mitglieder bekennen sich als „Bluttrinker“, „Energie-Vampyre“ und „Fashion-Vamps“. Den geistigen Überbau liefert die „Scroll of Elorath“.73 Auch in Deutschland existiert eine kleinere Gruppe sog. „Real Vampires“, die sich virtuell und real austauscht. Neben diesem „harten Kern“ der Szene kokettiert auch eine erheblich größere Zahl von zumeist Jugendlichen innerhalb der Gothic- und Dark Wave-Szene mit dem Vampirismus.

Die Literatur differenziert derzeit vier Untergruppen des jugend-synkretistischen Vampirismus:

(1) Der alternative Vampir: Er fühlt sich von der Szene angesprochen, ohne ihr anzugehören. Hier ist die Trennung zwischen Lifestyle und Subkulturzugehörigkeit kaum möglich.

(2) Der sanguine Vampir: Er ist Szenemitglied und ordnet seinen Lebensstil seiner Subkultur unter, soweit es sein bürgerliches Leben erlaubt.

(3) Die sog. Vamps stellen die sinnlichen, körperbetonten und sexuell versierten Mitglieder der Szene dar. Für sie spielen auch Blut und die damit verbundenen Rituale eine hervorgehobene Rolle.

(4) Hinzu kommt eine Gruppe der „normalen“ Szeneangehörigen, die die stilvolle Kleidung der Szene, die dem Barock nachempfunden ist, präferieren. Sie genießen die Atmosphäre, die den Mythos Vampir umgibt.74

Beleg für die große Akzeptanz des Vampirismus in der Gothic- und Black Metal-Subkultur sind Bands, die mit dezidiert vampiristischen Bühnenshows und Liedtexten arbeiten. Beispielhaft hierfür steht die italienische Band „Umbra et Imago“, die 1991 von ihrem Bandleader „Mozart“ gegründet wurde.75 Bereits der Name, der sich mit „wesenloser Schatten“ übersetzen lässt, verweist auf den vampiristischen Hintergrund. Die Musikgruppe vereint in ihren Texten und Bühnenshows bewusst Vampirismus und „S/M-Thematik“, für die Musiker „die intellektuellste Ausdrucksform der Sexualität“. In den Bühnenshows, die regelmäßig in Leipzig, Erfurt, München und anderen deutschen Großstädten organisiert werden, verschwimmt die Grenze zwischen Fetisch und dem Kult um Blutsaugerei. Im sog. „Vampirsong“ der Band heißt es:

Deine Zunge fühlt die Angst der Haut

Deine Brüste tanzen den Tanz des Todes

Das Gift Deiner Seele macht süchtig

Der Alptraum wird zum Paradies

Der Biss wird ersehnt wie das ewige Leben

Keine Liebe – kein Leid – keine Sünde

Die Vision der Ewigkeit. (...)

Blut ist Dein Trieb

Der Biss ist Dein Verkehr

Der Biss ist Dein Akt

Immer neues Blut.

Ihr Song „Kleine Schwester“ dokumentiert die Kombination aus Sex und Gewalt in der Vampirlyrik:

Hey kleine Schwester lass uns am Blut des Lebens laben

Hey kleine Schwester lass uns unseren tiefen Frust begraben

Hey kleine Schwester lass uns Sex und Schmerzen teilen

Hey kleine Schwester lass uns in der blut’gen Nacht verweilen.

Andere bekannte Bands mit vampiristischem Bezug sind „Moonspell“ aus Portugal und die ebenfalls italienische Gruppe „Theatres des Vampires“. Fernando Ribeiro, Frontmann der Black-Metal-Band „Moonspell“ bestätigt im Interview seine Affinität zum Vampirismus: „Ich denke, dass der Vampirismus genau wie der Okkultismus und der Satanismus sich zu einer Art sozialen Kommunikation entwickelt hat. Sie können Menschen Energie ein- und aushauchen. (...) Überall auf der Welt kannst du vom Vampirismus der jeweiligen Kulturen lernen.“76

„Vampirismus“ in Rollenspielen

Vampirismus findet heute viele Anhänger in Rollenspielen wie „Vampire – die Maskerade“. Neben dem „Papier- und Bleistift-Rollenspiel“, also dem „Live-Rollenspiel“, existiert auch eine Computerversion von „Vampire“. In dem sog. Action-Rollenspiel „Vampire – die Maskerade“ durchlebt und durchkämpft der Spieler eine Welt der Dunkelheit in der Rolle eines Vampirs. Dabei muss sich der Rollenspieler vom Blut der Sterblichen ernähren, aber so gut es geht, auch die Bestie in sich unterdrücken, um die Vampirkräfte zu verbergen.

Im Kontext des Rollenspiels ist ein eigenes mythologisches Ideengebäude entstanden, in dem die Vampire als Nachkommen Kains dargestellt werden.77 Zur Geschichte heißt es:

„Sie betrachten Kain als ihren Urvater, den ersten Vampir, der, der von Gott verflucht wurde, auf ewig nachts zu wandeln. Kain wandte sich zur ersten Frau Adams, Lilith, und erhielt von ihr das magische (dämonische?) Blut, welches ihm übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten verlieh.

Mit diesem Blut machte er aus Menschen Kreaturen seinesgleichen und diese erschufen wiederum Kinder. (...) Diese spalteten (...) die Vampirgesellschaft in Familien, die sogenannten Clans. Das Blut Deiner Familie wird auch Deine Natur beeinflussen.

Deine neuen Fähigkeiten eröffnen Dir ungeahnte Möglichkeiten, und der Gedanke an Deine Unsterblichkeit, die Du noch kaum fassen kannst, gibt Dir ein Gefühl der Allmacht“.78

Demnach stammen alle Vampire von Kain, dem ersten Mörder in der Bibel ab. Das von Gott vergebene Kainsmal ist demnach der Vampirismus. In dem Rollenspiel muss sich der Spieler in das Seelenleben eines Vampirs versetzen – allerdings mit dem Gefühlsleben eines Menschen. Die Problemstellung des Spiels liegt auf der Hand und wird von einer Vampire-Fanseite im Internet passend beschrieben:

„Der wahre Fluch der vampiristischen Existenz liegt in ihrer Unsterblichkeit begründet. Das Alter der Vampire vergrößert nicht nur ihre Macht, sondern auch ihre Unmenschlichkeit, denn mit dem unsterblichen Blut erben sie auch das ‚Tier‘, das fortan in ihnen wohnt und versucht, immer mehr Kontrolle über (ihren) Körper zu erlangen.

Der Durst nach Blut sichert nicht nur ihr Überleben, es wird zur Sucht, und das Tier treibt sie dazu, ihre Gier im Blutrausch zu befriedigen. Alles was dem Tier entgegensteht, ist ihre Menschlichkeit, ihre Fähigkeit zum Mitgefühl, und ihre Willenskraft.“79

Insgesamt handelt es sich bei „Vampire-Live“ um eine Art interaktives Spontantheater, das von seinen Fans überall gespielt werden kann. Der Schwerpunkt des Spiels liegt auf den Charakteren, die in ihrer fiktiven Vampirgesellschaft in ihren verschiedenen Clans interagieren. Problematisch wird es immer dann, wenn die Identifikation im Rollenspiel mit den Spielfiguren zu groß wird, und Realität und Virtualität ineinander verschmelzen. Belege für diese Übergänge finden sich auf Homepages der Rollenspiel-Fans, die nicht nur zu anderen Spielergemeinden, sondern auch zu okkulten Seiten der Vampir-Szene führen.80 Andere Clans vernetzten bereits auf ihrer Startseite zu sog. Vampir-Toplisten, die wiederum ins Fetisch-Genre des Vampirismus führen.81

Es gibt aber auch Webseiten von Rollenspiel-Clans, die für sich genommen Neugierde am Blut-Fetischismus wecken. Auf einer Homepage heißt es im Aufsatz „Blut – die Substanz des Lebens“:

„Für uns bedeutet Blut nicht nur Nahrung sondern auch Lust und Ekstase. (...) Wenn wir Blut trinken, so trinken wir die Seele, die Erfahrung, die Biographie unserer Opfer. Für einen Moment ist die Seele des Opfer in unserer Seele, für einen Moment absorbieren wir seine Fähigkeiten und Begabungen. Dies ist der Grund, warum gerade Künstler so begehrte Nahrungsquellen sind. Genieße das Blut eines Geigenvirtuosen und für ein, zwei Stunden wirst Du die Geige so meisterhaft spielen, wie Deine Nahrung es zuvor tat.“82

Im Internet ist inzwischen eine riesige Fangemeinde um die Vampir-Spiele entstanden. Beispielhaft hierfür steht die hochprofessionelle Homepage von Nachtvolk, einer „Vampire-Live-Rollenspielgruppe“.83 Die Webseite hat inzwischen 220 registrierte Benutzer und konnte seit dem Entstehen der Internet-Domäne 1999 bis April 2005 insgesamt knapp eine dreiviertel Million Besucher zählen. Verweise setzt „Nachtvolk“ zu zahlreichen anderen Rollenspiel-Clans wie dem „Clan der Verborgenen“, die sich im Netz als „Die Erben Kains“84 präsentieren.

Eine weitere in Deutschland sehr aktive Gemeinde von Rollenspielern ist um die bereits oben erwähnten Vampir-Fans Friedhelm und Ulrike Schneidewind entstanden. Schneidewinds stehen hinter den wichtigen Webseiten des Genres vampyr-journal.de und villa-fledermaus.de. Schneidewinds verarbeiten ihr Interesse am Vampirismus vor allem kulturell-literarisch. Im Rollenspiel-Angebot des Duos geht es um Stärken und Schwächen, Symbolik und Ernährung sowie die Erschaffung von Vampiren. Ein Vampir im Sinne der Spielregeln ist demnach nur „ein blutsaugender Wiedergänger, ein Untoter, der nur existieren kann, indem er das Blut von lebenden Humanoiden trinkt“.85 Ein Vampir kann nach den Regeln nur entstehen, „indem er von einem Vampir dazu gemacht wird.“ Neben „besonderen Fähigkeiten“ hat der Vampir auch „Schwächen“: So „ist er nicht in der Lage zum Vollzug des Geschlechtsakts, kann aber sexuelle Lust beim Biß empfinden“.86 Auch die optische Gestaltung des Live-Rollenspiels soll möglichst authentisch sein, um einen gewissen Realitätsgrad zu erreichen: „Ein Spieler, der einen Vampir spielt, muss extrem, ja unnatürlich blass geschminkt sein; will er beißen, muss er spitze Zähne tragen, seien sie vom Zahnarzt oder ein einfaches Plastikgebiss. Erfüllt er diese Bedingungen nicht, kann er nicht als Vampir akzeptiert werden.“ 87

Ein weiteres Rollenspiel heißt „Dracula – Resurrection“, in dem sich der Spieler in der Figur des Jonathan Harler den bösen Mächten Draculas stellen muss.

„Vampirismus“ als sexueller Fetisch

„Wenn Vlad Tepes pfählte und quälte, dann sollte es die Welt wissen; denn wenn sie es wusste, dann wusste sie auch von seiner Macht, und jeder seiner möglichen Gegner konnte sich ausmalen, was ihm bei Widerspruch bevorstehen würde. Dass der Pfähler darüber hinaus gerne im Angesicht der Gequälten speiste, belegt, dass auch im historischen Dracula das Vampirprinzip vorherrschte: Verschlingungstrieb, Sadismus, Machtgefühle gegenüber den Opfern und Sexus werden sich in diesem Moment in ihm vereint haben.“88

Sog. „realer“ Vampirismus und die den Vampirismus idealisierende Literatur stellen in zweierlei Hinsicht eine besondere Herausforderung für den Jugendschutz dar. Zum einen sind die dem Vampirismus immanenten Rituale extrem brutal und beinhalten oftmals Körperverletzungshandlungen. Zum anderen ist Vampirismus für viele Anhänger nicht nur Mythologie, sondern auch Vorlage für eine relativ verbreitete Form des sexuellen Fetisch. Ernest Bornemann definiert den Fetischismus als „die Verlagerung des sexuellen Ziels von einem lebenden Menschen des anderen Geschlechts auf etwas anderes, was den Menschen ersetzt“.89 Überträgt man diesen Fetisch-Gedanken in die Subkultur des Vampirismus, steht fest, „dass Blut für den Vampir (...) ohne Zweifel einen Fetischcharakter“90 hat.

Der Präsident des deutschen Chapters der Transylvanian Society of Dracula Dr. Mark Benecke schreibt:

„Vampire gibt es. Sie sind lebendig, sehen nicht schlecht aus und denken öfters an Blut und Hälse. (...) Da der Menschen-Biss aber sehr schmerzhaft ist und ebenso tödliche Keime überträgt wie das Maul eines Löwen (...), belassen es Profis bei blood exchange mittels Kanüle. Das Dumme am nadligen Geschäft ist, dass die energiehungrige Person ihren Donor (auch Kitra oder Source genannt) zunächst abschleppen muss. Dazu gehört Charisma (...). Allerdings gilt, das selbst steril abgezapftes Blut nicht maßlos genossen werden soll. Um keine Krankheiten zu übertragen, soll der Vampir überdies in seinem feeding circle bleiben.

Ausschweifender geht es bei den reinen Blut-Vergießern und -verschwendern zu, weil die Blood Player sich weder mittels Millimeter-Messungen noch medizinischem Murks zügeln müssen.“ 91

Auf den Webseiten der deutschsprachigen Vampirszene unterscheiden die Autoren zwischen der Hämatodipsie und der Hämatophilie. Bei der Hämatophilie, der sog. „Liebe zum Blut“, geht es um die angeblich unbedenklichere Variante des Blutfetisch. Diese umfasst „harmlose Anwendungen“ und betrifft Menschen, die auf freiwilliger Basis „regelmäßig zu zweit oder in Gruppen dem Blutzapfen und -trinken frönen“92 oder ihren Fetisch in Träumen und sexuellen Vorstellungen wahrnehmen. Dem entgegen sei die „weitaus schlimmere Form“, über die „der Begriff des Vampirs ganz ‚seriös‘ Fuß gefasst“ habe, die Hämatodipsie. Bei diesen Menschen stelle sich sexuelle Erregung nur noch beim Sehen, Hören oder Schmecken von Blut ein.93 Auch auf anderen Seiten, die sich mit Fetischen im Allgemeinen beschäftigen, wird auf die Hämatodipsie hingewiesen. Im sog. „Sex-Lexikon“ heißt es: „Andere Bezeichnung für ‚Vampirismus’. Praktiken bei denen der Partner sexuelle Befriedigung daraus zieht, das Blut des anderen aus zugefügten Wunden zu kosten.“94 Eng verwandt mit der Hämatodipsie ist das sog. „Cutting“ (von engl. to cut – schneiden), unter dem eine SM-Praktik beschrieben wird, bei der dem passiven Partner Schnittwunden zugefügt werden.

Borrmann beschreibt die Hämatodipsie als den „erotischen, unstillbaren Blutdurst“. Blut würde für die Anhänger des Fetischs, die Borrmann als die „lebenden Vampire“ klassifiziert, zum „alleinigen Lebensinhalt“ und zum Ersatz für „jede Art von Geschlechtsverkehr“.95 In der medizinischen Literatur wird der „Vampirismus“ als eine der „Paraphilien“ eingestuft. Eine „Paraphilie“ bezeichnet „abweichende sexuelle Präferenzen“, die sich im sog. „DSM-IV-Katalog“ wiederfinden.96 Das Berliner Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin sieht im „Vampirismus“ eine an „nicht-menschliche Objekte“ gebundene „seltene Paraphilie“, in deren „erotischem Fokus“ das Blut steht. Eine „mögliche Überlappung zu anderen Paraphilien“ sieht das Institut zwischen „Vampirismus“ und „sexuellem Sadismus“.97

Insgesamt werden in der Literatur fünf Hauptgruppen von Blutfetischisten differenziert98:

1. die Sadisten, die dem Partner beim Geschlechtsverkehr Wunden beibringen wollen, um Blut fließen zu sehen;

2. die Masochisten, die in entsprechender Weise ihr eigenes Blut fließen lassen wollen;

3. die Menomanen, die ausschließlich an Menstruationsblut interessiert sind;

4. die Blutsauger oder „lebenden Vampire“, die sadistisch orientiert sind;

5. die Kannibalen, die Menschenfleisch essen und das Blut als Teil dieses besonderen Nahrungsmittelfetischismus betrachten.

Gerade die Hämatodipsie wird auf den sog. Vampirseiten breit beschrieben, weil sie die mythen- und legendenhafte Vampirwelt mit realen Versatzstücken füllt. Hier werden Serien- und Massenmörder als „lebende Vampire“ dargestellt und so zu „Blutzeugen“ der Vampirsubkultur. Bekannte Beispiele sind neben den bereits erwähnten historischen Namen wie Vlad Dracul, Gilles de Rais und Elisabeth Bathory, die zum Teil eine regelrechte Idealisierung erfahren, auch andere Mörder. Beispielhaft hierfür ist die auf Vampirseiten regelmäßige Thematisierung des italienischen Frauenmörders Verzini, der die Genitalien seiner Opfer stets unberührt ließ, aber sie am Hals aufschnitt und ihr Blut trank. Nach seiner Verhaftung berichtet er: „Es genügt mir völlig, den Hals der Frau zu schlitzen und Blut zu saugen“.99 Genauso häufig taucht auf den Vampir-Homepages der Name des 1824 hingerichteten französischen Serienmörders Antoine Léger auf, der junge Mädchen tötete und vergewaltigte. Danach riss er seinen Opfern das Herz heraus und trank das Blut.100 Bei seinem Prozess erklärte er, „er habe unter unstillbarem Durst gelitten“, wie eine bekannte Vampirseite schreibt.101 Spricht ein Teil der Vampir-Bewegung wie das bereits zitierte „Vampyrjournal“ den Mördern eine Authentizität als „echte“ Vampire ab, bleiben viele Homepages bei der aufwendig deskriptiven Darstellung. Andere Seiten überhöhen gar die Serienmörder. So beschreibt eine Autorin die „Blutgräfin“ Elisabeth Bathory als „eine der grauenhaftesten Menschen der Geschichte, aber auch eine der faszinierendsten“.102

In der Literatur ist der Blutfetisch als Teil einer psychischen Störung zahlreicher Sexualstraftäter dokumentiert. In der Nacht vor seiner Hinrichtung schrieb der sog. „Vampir von London“, John Haigh, seine Beichte nieder und bekennt, dass Blut seit seiner Kindheit eine große Faszination auf ihn ausgeübt habe. Bereits als Kind habe er sich selbst Wunden zugefügt, um das Blut auszusaugen. Als sein Blutdurst immer stärker wurde, ermordete er Menschen beiderlei Geschlechts. In seinem Atelier tötete er seine Opfer und trank das Blut aus ihrer Kehle. Später sagte er über sich selbst, er gehöre zur „Familie der Vampire“.103

Auch der sog. „Vampir von Düsseldorf“, Peter Kürten, der wegen seiner grausamen Morde 1931 in Deutschland hingerichtet wurde, beschrieb seinen Blutfetischismus. Nach seiner Verhaftung erklärte er dem Arzt: „Das Blut kann ich hören (...). Das Blut ist ausschlaggebend in den meisten Fällen, das bloße Würgen genügt meist nicht, um zum Samenerguß zu kommen.“

Die allgegenwärtige Thematisierung und Idealisierung historischer Serienmörder ist bedeutsam, weil sie die Übergänge zwischen Virtualität und Realität dramatisch schrumpfen lässt. In einer Szene, die sich unentwegt mit realen Körperverletzungen, Blutfetischismus und historischen Mördern samt ihren schrecklichen Taten befasst, ist von einer Habitualisierung der Gewalt auszugehen. In diesem Umfeld wirken die im „Buch Noctemeron“ beschriebenen Gewalt- und Blutriten geradezu normal, das heißt der Szene immanent. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Anhänger des „Blutfetisch“ erheblich niedrigere Hemmschwellen haben, die im Buch beschriebenen blutigen Vampirriten in die Realität umzusetzen als modisch interessierte Gothic-Fans mit einem Hang zu Vampirfilmen und vampiresker Literatur. Gerade auch die Vielzahl der Im World Wide Web präsenten „Vampir-Fetischseiten“ dokumentiert, dass das „Buch Noctemeron“ über ein breites Feld subkultureller Andockpunkte verfügt.

Beispielhaft für spezialisierte Vampir-Fetisch-Webseiten steht die Homepage „Fetish-Vampires“, die sich als „Gothik Erotik Fetisch Foto Kalender“ präsentiert.104 Auf der Homepage werden hauptsächlich Erotik-Fotos eines Vampir-Kalenders präsentiert – darunter auch hoch bedenkliche Gewaltbilder, auf denen einer Frau beispielsweise ein Pflock in den Brustkorb gerammt ist. Eine andere Vampir-Fetisch-Seite mit eigenem Kontaktmarkt heißt „Gothic-Erotica.de“.105 Im Internet existieren inzwischen auch spezialisierte „Toplisten“ von sog. Vampirfetischseiten.106 Die hier vernetzten Webseiten heißen „Topliste: 50 kleine Fetisch-Vampire“, „Kreaturen der Nacht“, „The Horror 100“, „Vampir Top 50 Sites“ oder „Winterherz gothic top 100“.

Gefährdungspotentiale im subkulturellen und historischen Kontext der Vampirszene

Insgesamt lässt sich der Vampirismus kulturgeschichtlich in verschiedene Epochen einteilen. Experten sprechen von einem Prozess „fortlaufende(r) Sublimierung“, der vom „hässlichen Dämon und wilden Tier“ bis zum heutigen „charismatischen Übermenschenvampir“ reicht.107 Dieser Verwandlungsprozess hat den Archetypen des Vampirs, den emotionslosen Menschen mordenden Untoten und Wiedergänger früherer Tage, zum modernen Sympathieträger werden lassen. Dies beginnt bei trivialen Vampirgestalten wie Graf Count aus der Sesamstraße oder der beliebten Figur aus der Kinderbuchliteratur „Der kleine Vampir“ von Angela Sommer-Bodenburg und reicht bis zum Vampir als positiver Identifikationsfigur in Kinofilmen.

Die geistige Auseinandersetzung in der Vampirszene mit ihren Idolen geht weit über das historische und modische Interesse hinaus. Der Vampir ist auch zum emotionalen Leitbild einer gesellschaftlich relevanten Szene geworden, die alleine in Deutschland zu Zehntausenden die Webseiten, Gästebücher, Foren und Chats besucht. Natürlich erreichen Autoren wie Frater Mordor, der die Vampirgestalt als angeblichen „Triumph des Geschlechtlichen über den Tod, des Fleisches über den Geist“108 und als „erotischen Übermenschen“ idealisiert, nur eine Teilmenge der Vampirfans. Selbes dürfte für den „Vampirforscher“ Frater Piarus gelten, der den Vampir als den „Gott gewordene(n) Menschen“ überhöht.109

Bei der Betrachtung möglicher Gefährdungsmomente ist also mit einer numerisch relevanten Zielgruppe eine erste Voraussetzung unzweifelhaft erfüllt. Die Existenz von sog. „Vampir-Toplisten“ im Internet, Gästebucheinträgen und Forendiskussionen ergibt eine beachtliche Bandbreite von Menschen, die sich heute selbst als Vampire empfinden oder ausgeben. Das Spektrum umfasst sog. „Vampyre“, die sich mit Dracula und Co. seelenverwandt fühlen, bis hin zu Anhängern eines Blutfetisch, die ihre sexuellen Fantasien bei der Diskussion über Blutbeschaffung und Blutaufnahme von Dritten befriedigen.

Unzweifelhaft sind Gewalt und die Gefahr eines signifikanten Realitätsverlustes integrale Bestandteile des Genres. In der Vampirszene ist es völlig selbstverständlich, sich über Formen der freiwilligen und unfreiwilligen Blutgewinnung durch Dritte auszutauschen. Die häufige Integration von Serienmördern in den Vampirismus bei gleichzeitiger – zum Teil völlig unkritischer bis idealisierender – Wiedergabe ihrer Taten trägt zu einem Gewöhnungsprozess von Gewalt bei. Diese Habitualisierung von Mord wird durch eine Art Entmenschlichung der Opfer vampiristischer Gewalt verstärkt, die schlicht als „Beute“, „Donors“ „Source“ oder von Frater Mordor auch als „Vieh“110 bezeichnet werden.


Rainer Fromm


Anmerkungen

(Die meisten der nachfolgenden Quellen-Links sind Stand 2024 nicht mehr zielführend)

 70 Vgl. http://toonorama.com/encylopedia/V/Vam-pirismus/

 71 Vgl. www.sanktuarium.de

 72 Vgl. http://lexikon.eventax.de/vampir/

 73 Vgl. www.sanktuarium.de

 74 Vgl. http://toonorama.com/encyclopedia/V/Vampirismus/

 75 Vgl. www.umbraetimago.de

 76 Vgl. www.interregnummusik.de/int_moonspell.html

 77 Vgl. http://lexikon.eventax.de/vampir/

 78 Vgl. http://nachtfolk.ccb-projekt.net/

 79 Ebd.

 80 Vgl. www.vampire-the-dark-ages.de/links.php

 81 Vgl. www.nachtvolk.de

 82 Vgl. http://arcor.de/moonlight-shadowcastle/blut.htm

 83 Vgl. http://nachtvolk.ccb-projekt.net

 84 Vgl. www.erben-kains.de

 85 Vgl. www.vampyrjournal.de/larp.htm

 86 Ebd.

 87 Ebd.

 88 Norbert Borrmann, Vampirismus, 161.

 89 Ernest Bornemann, Sexuallexikon, Frankfurt a. M. / Wien / Zürich 1976.

 90 Norbert Borrmann, Vampirismus, 205.

 91 Vgl.www.benecke.com/vampirsubkultur.html

 92 Vgl. www.vampyrjournal,de/leb-vamp.htm#echt

 93 Ebd.

 94 Vgl. http://sadorado.com/free/specials/sm_lexikon/haematodipsie/

 95 Norbert Borrmann, Vampirismus, 206f.

 96 Vgl. www.charite.de/ch/swsm/forschung/forschung_dissex.php, 1 .

 97 Ebd., 4.

 98 Norbert Borrmann, Vampirismus, 207.

 99 Ebd., 116.

100 Vgl. www.vampyrjournal.de/leb-vamp.htm#echt .

101 Vgl. www.vampires.at/Vampires/History/Timeline/Timeline.html

102 Vgl. http://home.arcor,de/isabellas/Elisabeth%20Bathory.htm .

103 Norbert Borrmann, Vampirismus, 116.

104 Vgl. http://home.tiscalinet.de/fetish-vampires .

105 Vgl. www.pussygames.de/gothic-erotika.htm

106 Vgl. http://home.tiscalinet.de/fetish-vampires/Deutsch/deutsch/deutsch.html  (21.4.2005).

107 Norbert Borrmann, Vampirismus, 42.

108 Frater Mordor, Das Buch Noctemeron, 19.

109 Frater Piarus, Vampire und Blutrituale, Leipzig 2003, 107.

110 Frater Mordor, Das Buch Noctemeron, 28.