Johann Hinrich Claussen

Über die Schwierigkeiten, die "Corona-Leugner" zu deuten

Wenig ist so anspruchsvoll wie der Versuch, eine plötzlich auftauchende neue Protestgruppe zu deuten. Niemand hatte sie erwartet. Unbekannte betreten die politische Bühne. Schnell ändert sich die Zusammensetzung. Manche springen auf den Zug auf, andere wiederum springen ab. Alles fließt, dramatisch und laut. Medien eilen herbei, verbreiten sensationelle Bilder, erzählen den Atem raubende Geschichten. Da mag der Theologe nicht beiseite stehen, sondern ist angestachelt, einen Deutungsvorschlag beizutragen. Ausreichend religiöse Assoziationen bieten die Nachrichten ja.

Doch welches Spiel spielt man da mit? Erste Zweifel kommen einem, wenn man es persönlich mit „Corona-Leugnern“ zu tun bekommt. Es sind ja nicht bloß spinnerte Gestalten in irren Kostümierungen, wie man sie aus den Medien kennt. Es ist der alte Studienfreund, der sich innerhalb eines halben Jahres von einem grünen Liberalen in jemanden verwandelt hat, der gemeinsam mit Reichsbürgern auf dem Marktplatz steht. Oder es ist die Verwandte, die sich auf keinen Fall testen oder gar impfen lassen will, was die Planung des nächsten Familienfestes nicht eben erleichtert. Erschütternd schnell gerät man da ans Ende seiner gedanklichen Möglichkeiten. Wie kann man diese verrückt erscheinenden Einstellungen verstehen, sich über sie verständigen? Kann man überhaupt den Kontakt aufrechterhalten? Und wenn man für einen Moment ehrlich ist, wird man sich eingestehen, dass Verschwörungstheorien einen nicht unberührt lassen. An manchen der vielen, langen Corona-Tage hat man ja den Eindruck, es habe sich alles gegen einen verschworen. All dies macht es nicht mehr einfach, sich einen politischen und theologischen Reim auf die Corona-Proteste zu machen.

Mein erster Versuch

Im vergangenen Sommer habe ich es dann doch versucht. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und habe in einem Artikel eine theologische Deutung ausprobiert (Süddeutsche Zeitung vom 28. August 2020). Meine These lautete damals: Auf die Corona-Krise bezogene Verschwörungsgeschichten sind Ausdruck einer apokalyptischen Mentalität.

„Der Apokalyptiker lebt inmitten höchster Bedrängnis und Verwirrung. Sein Heil sucht er in einer eindeutigen, wenn auch höchst geheimnisvollen All-Erklärung: Hinter all den Schrecken steht ein verborgener Plan. Das Gros der Menschheit ist verblendet. Nur der Apokalyptiker als metaphysischer Besserwisser blickt durch. Er ist ein Alb-Träumer und zugleich ein genauer Beobachter. Viele reale Details nimmt er auf, um sie zu einer Wahrheit zusammenzufügen, in der kein Rest Unwissenheit bleibt. Seine negative Aufklärung kann gar nicht verstiegen genug sein. Je verrückter sie auf die Mehrheit wirkt, umso sicherer ist er sich seiner Erwähltheit. So kompliziert sie sich gibt, wirkt in ihr doch ein schlichter Mechanismus: Komplexität wird eliminiert, indem eine finstere Macht für schuldig erklärt wird. Ein religiöses Problem allerdings ist, dass der Apokalyptiker sich mehr für Satan als für Gott interessiert und ungewollt in dessen Bann bleibt. Ein moralisches Problem besteht darin, dass er kein Mitleid für andere entwickeln kann. All die Menschen, die seiner Sonderwahrheit nicht folgen, sind für ihn Verworfene, deren Verdammnis eine gerechte Strafe ist. Die Welt ist geschieden in wenige Gute und viele Böse. Eine Verständigung ist unmöglich. Ein letzter Kampf muss die Entscheidung bringen. Diesen malt sich der Apokalyptiker in bunten Gewaltphantasien aus – manchmal bleibt es nicht beim Malen. Von Aggression ist auch sein Selbstverhältnis geprägt: Er hat anders als die ‚Lauen‘ nicht nur die Kraft, das Martyrium auf sich zu nehmen – nein, er will ein Märtyrer werden. Deshalb hilft es so wenig, ihn zu schmähen oder anzugreifen. Dies bestärkt ihn nur.“

In einem zweiten Schritt habe ich sodann versucht, dem Apokalyptiker eine religiöse Alternative gegenüberzustellen: den prophetischen Glauben.

„In höchster Not erinnern sich seine Anhänger an einen großen Zukunftskünder. Als noch niemand davon wissen wollte, habe er das große Unheil vorhergesagt – ohne Rücksicht auf die Pläne der Obrigkeit oder die Wünsche des Volkes. Dabei habe er nichts erklärt, das schreckliche Nichtwissen ausgehalten und vor Gott gebracht. Die große Warum-Frage habe er nicht beantwortet, sondern lieber auf sich und das eigene Volk angewandt. Schrecklich sei das gewesen, wie der Prophet denen, die unter dem großen Grauen leiden sollten, auch noch die Schuld daran gegeben habe. Der prophetische Glaube hat offenkundig seine eigenen Abgründe, doch vor der Finsternis des Apokalyptikers scheut er zurück. Er spaltet das Böse nicht ab, jagt keine Sündenböcke, raunt nicht von Weltverschwörung, sondern fragt, ob nicht eine eigene Ungerechtigkeit in diese Katastrophe geführt hat. Vom Satan weiß er noch nichts oder interessiert sich nicht für ihn. Er konzentriert sich auf den einen Gott, der fern ist oder schweigt oder sich als zornig erweist und doch die einzige Macht ist, die helfen könnte. Ihm will er sich anvertrauen, so unmöglich das auch erscheint.“

Gleich nach Erscheinen des Artikels hat mich ein freundlicher Neutestamentler streng darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung zwischen Prophetie und Apokalyptik sich exegetisch nicht halten lasse, denn in ihr werde die Prophetie idealisiert und die Apokalyptik dämonisiert. Das leuchtete mir ein. Auch meine ich inzwischen, dass die apokalyptische Mentalität, wie man sie heute etwa in der QAnon-Bewegung findet, sehr viel mehr mit der US-amerikanischen Religionsgeschichte – den Erweckungsbewegungen des 18., den Endzeitbewegungen des 19., dem Evangelikalismus des 20. Jahrhunderts sowie deren Säkularisierungen – zu tun hat als mit den Texten der biblischen Zeit.

An einem Punkt aus meinem Artikel möchte ich aber festhalten: Die weltanschaulich-religiöse Reaktion auf die Corona-Krise entscheidet sich an der Frage „Vertrauen oder Misstrauen?“. Die Antwort hierauf hat handfeste Gründe, folgt aus Erfahrungen mit dem staatlichen Krisenmanagement und der medialen Berichterstattung, wurzelt aber viel tiefer in existenziellen Grundeinstellungen.

Eine hilfreiche Ernüchterung

Dankbar war ich, aber auch peinlich berührt, als ich die erste soziologische Untersuchung zu den Anti-Corona-Demonstrationen las.1  Das Ergebnis verblüfft. Es widerspricht vielem, was vorher in Medien verbreitet worden war. Die überwiegende Mehrheit der Protestierenden sind keine AfD-Wähler, Reichsbürger oder Rechtsextremisten. Es stellt aber auch meinen Versuch einer theologischen Deutung infrage. Die meisten der Demonstrantinnen und Demonstranten sind nicht besonders religiös eingestellt, keine „Christen im Widerstand“. Die erste Befragung ergibt stattdessen, dass die große Mehrheit von Frauen mittleren Alters gebildet wird, die weder hart-rechts noch fundamentalistisch-christlich geprägt sind. Diese Gruppe weist einen höheren Bildungsstand und Sozialstatus auf und ist eher liberal-ökologisch, aber nicht autoritär oder gar rassistisch eingestellt. Die meisten haben bisher die Grünen oder Kleinstparteien gewählt. Ihre Ablehnung der staatlichen Corona-Maßnahmen speist sich stark aus einer Neigung zu alternativen Heilmethoden und zum Teil esoterischen Einstellungen. Eine grundsätzliche Demokratiefeindlichkeit kann man ihnen nicht nachweisen. Eher scheinen sie durch die Krise politisiert worden zu sein, weil sie die Maßnahmen ablehnen, der Regierung und der Berichterstattung nicht vertrauen.

Diese erste soziologische Untersuchung widerspricht den Aufsehen erregenden Medienberichten über die Corona-Demonstrationen. Diese hatten – wie sollte es anders sein? – wirkmächtige Bilder verbreitet: von Fahnen schwenkenden Neonazis und Kruzifixe tragenden Frömmlerinnen. Natürlich waren auch solche Menschen dabei, sie bildeten aber nicht die Mehrheit. Erschreckend an dieser Untersuchung erscheint, wie schnell sich bisher unauffällige Frauen in Demonstrantinnen verwandelt haben, die das politische System selbst infrage stellen. Hoffnungsvoll dagegen stimmt, dass sie keine verfestigte extremistische Mentalität in sich tragen. So wäre zu hoffen, dass man sich irgendwann wieder mit ihnen verständigen kann, wenn es denn gelingt, durch nachvollziehbar sinnvolles Regierungshandeln – und begleitet von einer differenzierten Berichterstattung – echte Erfolge in der Pandemiebekämpfung zu erzielen. Dann könnte aus einem absoluten Misstrauen wieder ein erwachsenes Vertrauen werden.

Eine historische Erinnerung

In England herrschte während des Zweiten Weltkriegs nicht nur der blitz spirit, dieser legendäre Durchhaltewillen. Es ging damals auch anderes um. Man kann dies in den Tagebüchern von Gladys Langford, einer Londoner Lehrerin, nachlesen.2  Da ist zum einen die allgemeine Bedrücktheit: „Mittelalte Menschen fangen an zu sagen: ‚Ich gehe nachts nicht mehr raus. Ich werde keine Freunde mehr besuchen, bevor der Krieg nicht zu Ende ist.‘“ Da ist zum anderen der endlose Maskenstreit. Die Regierung befürchtete deutsche Gasangriffe: Jeder sollte außer Haus eine Gasmaske tragen. Das leuchtete vielen nicht ein, sie verweigerten sich. Sodann war Langford als Lehrerin unmittelbar von den Debatten über das Öffnen oder Schließen der Schulen betroffen: Soll man den Unterricht unter freiem Himmel, in Parks abhalten? Schließlich waren da die verstörenden Gespräche. Häufig traf sich Langford mit einen Freund, der eine ganz eigene Theorie hatte: Der Krieg sei ein Betrug von Diplomaten; die Fliegerangriffe in Schottland neulich seien „fake“ gewesen: Hitler sei einem Attentat zum Opfer gefallen oder werde dies bald tun. Die Sache sei bestimmt bald zu Ende. Merke: Verschwörungsgeschichten sind in Krisenzeiten keine Anomalie. Sie gehören wie selbstverständlich zu dem, was man aushalten muss – wie so vieles andere auch.


Johann Hinrich Claussen, 01.03.2021

 

Anmerkungen

1  Oliver Nachtwey / Robert Schäfer / Nadine Frei: Politische Soziologie der Corona-Proteste, 17.12.2020, https://doi.org/10.31235/osf.io/zyp3f.

2  Patricia und Robert Malcolmson (Hg.): A Free-Spirited Woman. The London Diaries of Gladys Langford, 1936–1940, London 2014.