Hermann Brandt

„The Sound of Silence“. Zwischen Prophetie und Wellness

Die akustische Inszenierung der Stille

Den Anstoß zu den folgenden Betrachtungen verdanke ich – Gerhard Polt! Wenigen ist bekannt, dass dieser „urbayerische“ Kabarettist Skandinavistik studiert hat und fließend Schwedisch spricht. Am 5. Mai 2007 sendete das Bayerische Fernsehen im Dritten Programm ein „Porträt zum 65. Geburtstag des Kabarettisten und Autors Gerhard Polt“. Es wurde u.a. ein Ausschnitt eines Programms gezeigt, das Polt auf Einladung der schwedisch-deutschen Handelskammer in Stockholm gegeben hatte und das von ihm in einem späteren Interview kommentiert wurde. Das Fernsehen hatte nicht nur Polt als den Star des Abends gezeigt, sondern auch den im Publikum anwesenden schwedischen König und seine deutsche Ehefrau, die beide Polts Pointen offensichtlich genossen.

Aber Polt hob weniger die durchaus bemerkenswerte Tatsache hervor, dass sogar der König die Vorstellung mit seiner Gegenwart beehrt hatte, sondern vor allem, dass dieser kein einziges Wort sagte. Der König schwieg. Und eben dies, dass der König schweigend anwesend war, habe das Besondere dieses Abends ausgemacht, sagte Polt. Gerade die Anwesenheit des schweigenden Königs habe der Vorstellung einen einzigartigen Charakter verliehen. Das Schweigen des Königs sei durch das Kabarettprogramm sozusagen noch verstärkt worden. Polt erläuterte dies – als Filmemacher und Schauspieler – anhand der Art und Weise, wie die Stille inszeniert wird, auf der Bühne, der Leinwand oder auch in der katholischen Messe.

Die tiefe Stille werde gleichsam hörbar gemacht: Es tropft ein Wasserhahn, es tickt eine Uhr, und in der Messe wird der Höhepunkt, die Wandlung, während der alle knien und schweigen, durch den Ton eines Glöckchens angezeigt. Die Stille kann gehört werden. In solchen Inszenierungen durchbricht ein Laut die Stille nicht, sondern verstärkt sie und macht sie als solche wahrnehmbar. Soweit Gerhard Polt. – Es gibt einen „Stillen“ (= friedlichen), „Pazifischen“ Ozean, es gibt eine Beredsamkeit des Schweigens (im Portugiesischen: eloquência do silêncio), es gibt einen „sound of silence“.

Beispiele aus Literatur und Zen-Buddhismus

Das erste Kapitel von Orhan Pamuks Roman „Schnee“ trägt die Überschrift „Die Stille des Schnees“, die des 19. Kapitels heißt „Und wie schön fiel der Schnee“. Die Stille des Schnees charakterisiert die inneren Empfindungen von Ka, der Hauptperson des Romans. Eine beschneite Straße verliert sich in der Dunkelheit: „weiß und geheimnisvoll.“1 Diese Stille ist kein absolutes Schweigen. Sie löst Empfindungen aus, sie hat Farben, sie ist schön und enthält Geheimnisse. Häufig begegnen in der Literatur Beschreibungen der winterlichen Stille wie: „Es war so still, dass ich den Schnee fallen hören konnte.“ Diese Stille ist nicht laut, aber sie lässt sich „verlauten“. Indem wir den Schnee fallen hören, wird die Stille noch leiser, als sie ohne den hörbaren Schneefall sein würde. Auch die ersten, zaghaften Vogelgesänge in der Morgendämmerung stören ja die frühe Stille nicht, sondern vertiefen sie und machen sie erfahrbar.

„Sound of silence“ – auf die Frage, wie dies zu übersetzen sei, komme ich noch zurück – ist wohl doch mehr als ein Oxymoron, d.h. mehr als ein nur „scharf-dummer“ rhetorischer Ausdruck, in dem Unvereinbares oder Widersprüchliches miteinander verbunden wird (wie „hölzernes Eisen“).

Solche Verbindungen von Gegensätzen haben keineswegs nur eine Bedeutung für Lyrik und dichterische Prosa, wie bei Wikipedia zu lesen ist. Sie bringen z.B. eine charakteristische Intention des Zen-Buddhismus prägnant zum Ausdruck. Man könnte „sound of silence“ mit „Klang der Stille“ übersetzen und hätte damit den Titel einer – sehr empfehlenswerten – Einführung in den Buddhismus.2 Gleiches gilt von dem Titel „Das Klatschen der einen Hand“3.

Ziel der Zen-Meditation ist es, einen Zustand der Selbstvergessenheit zu erreichen, in dem alle Dualität – etwa zwischen meinem Selbst und den mich umgebenden Dingen – überwunden ist. Hierzu leiten die so genannten Koans an, die im Zen eine alte Tradition haben. Das Koan ist eine Rätselfrage, die rational nicht aufgelöst werden kann und soll, wie z.B.: „Wie soll die Gans, die als Küken in einer Flasche großgezogen wurde, befreit werden, ohne die Flasche zu zerstören oder die Gans zu töten?“ Oder das Koan fordert eine auf „normale“ Weise undurchführbare Praxis, die die gängige Spaltung in Subjekt und Objekt („ich tue dies“) überwinden und so das Bewusstsein der Einheit der Wirklichkeit meditativ erfahrbar machen soll. Gelegentlich sind solche Koans zwar nicht nach rationaler Logik, wohl aber intuitiv verständlich: So hinterfragt das Koan „Wenn etwas krumm ist, dann ist es gerade“ den Dualismus krumm/gerade. Andere Koans sind so unverständlich und antilogisch, dass sie weder rational noch intuitiv einen Sinn ergeben – und das sollen sie auch nicht. Koans sind gerade darin Meditationsobjekte, dass über sie so lange meditiert wird, bis sie nicht mehr provozierend auf die gängige Logik wirken, nicht mehr „unauflösbar“ erscheinen, sondern sich gleichsam von selbst auflösen. Koans wollen also nicht interpretiert oder erklärt werden, denn alle verstandesmäßigen Lösungen werden als falsch angesehen, weil sie dem Dualismus verhaftet bleiben. Die meditative Praxis des Zen-Buddhismus zielt somit auf die Auflösung der Illusion, die Dinge seien von mir unterschieden und „ich“ hätte eine von ihnen abgegrenzte Existenz.

Das wohl bekannteste Koan „Das Klatschen der einen Hand“ fordert, dieses Klatschen zu erhorchen: „Wenn beide Hände zusammengeschlagen werden, so entsteht ein Ton. Horche auf den Ton der einen Hand!“ Könnten wir übersetzen: Horche auf den „sound of silence“?

Titel und Refrain des Liedes „The Sound of Silence“

„The Sound of Silence“ heißt der wohl berühmteste Song von Simon & Garfunkel. Das Folk-Rock-Duo wurde 1956 von den US-amerikanischen Studenten Paul Simon und Art Garfunkel gegründet und erlebte 1965 mit diesem Song und mit dem kurz danach erschienenen gleichnamigen Album seinen Durchbruch. Genauer gesagt: Der Liedtitel spricht von „The Sound“ im Singular und mit bestimmtem Artikel; der Titel des Albums lässt den bestimmten Artikel weg und verwendet den Plural: „Sounds of Silence“. Noch genauer betrachtet: Die ersten drei Strophen des Songs enden mit dem Refrain „... the sound of silence“, also bestimmter Artikel und Singular, die vierte Strophe schließt mit „In the wells of silence“ („in den Brunnen-Schächten der Stille“). Allein die fünfte, letzte Strophe spricht von „the sounds of silence“, behält also den bestimmten Artikel bei, verwendet aber den Plural. Die letzte Zeile des ganzen Liedes wird wirklich so pianissimo „gewispert“, dass das Schluss-„s“ von „sounds“ nur bei angespannter Aufmerksamkeit zu hören ist.

Nehmen wir die Worte „sound“ und „silence“ für sich, so ergeben sich für die Übersetzung vier Möglichkeiten der Kombination. Sound kann Geräusch heißen, in dem Sinn, wie wir vom „sound“ einer Maschine sprechen. Aber eben auch Klang oder Ton (etwa einer Klarinette). Und „silence“ kann nicht nur jene sprechende, lebendige Stille meinen, von der eingangs schon die Rede war, sondern auch das leere Schweigen (silencer ist im Englischen der Schalldämpfer), die Reglosigkeit und Lautlosigkeit, die im Gymnasium früherer Zeiten mit dem Ruf „silentium“ vom Lehrer befohlen wurde. Theoretisch wären also folgende Kombinationen möglich: Geräusch des (toten) Schweigens, Geräusch der (lebendigen) Stille, Klang des Schweigens, Klang der Stille.

Die Einzelanalyse wird noch zeigen, dass vom Liedtext her zunächst die Übersetzung „Klang der Stille“ bzw. – in Bezug auf die letzte Textzeile – „Klänge der Stille“ sinnvoll ist. Auch die Tatsache, dass „The Sound of Silence“ eben nicht bloß ein Text ist, sondern gesungene und gespielte Musik, und dass der Text eine unablösbare Verbindung mit ihr eingegangen ist, spricht dafür, „The Sound(s) of Silence“ mit „Klang (bzw. Klänge) der Stille“ zu übersetzen.

Wie meisterhaft Text und Ton zusammenklingen, sei nur in Erinnerung gerufen. Denn die meisten werden die Melodie im Ohr behalten haben, auch wenn sie sich nicht an jedes Detail des Textes erinnern. Wenn man hier trennen wollte, müsste man sagen: Die Faszination dieses Liedes geht von der Musik aus zum Text, nicht umgekehrt, oder: Die Musik ist der primäre Impuls für die Resonanz auch des Textes.

Die folgenden Beobachtungen können am Text der weiter unten wiedergegebenen Strophen überprüft werden. Noch besser wäre es freilich, sich dazu die entsprechende CD aufzulegen. „The Sound of Silence“ ist ein ungewöhnlich leises Lied. Das heißt aber nicht, dass es gleichtönig leise bleibt. Jede Strophe mit ihren sieben Zeilen beginnt tief und still, in Moll. Die Melodie der ersten vier kurzen Zeilen schraubt sich im crescendo hinauf. Dieser Aufwärtsbewegung entspricht der Wechsel nach Dur. In der fünften Zeile gewinnt die Melodie ihren Höhepunkt, auch dadurch, dass die fünften Zeilen aller Strophen schon durch ihre gleichsam ausbrechende Textlänge einen besonderen Akzent tragen, wobei gerade hier Text und Musik zusammenwirken. Den Kontrast hierzu bildet dann die wieder absteigende sechste Zeile, die nur aus zwei (höchstens vier) Worten besteht, ein verkürztes Echo von Zeile fünf. Die letzte, siebente Zeile, die jeweils mit dem Schlüsselwort „silence“ endet, erreicht dann wieder die Tiefe des Anfangs und verklingt in Moll.

Die fünf Strophen

1. Hello darkness, my old friend,

I’ve come to talk with you again,

Because a vision softly creeping

Left its seeds while I was sleeping,

And the vision that was planted in my brain

Still remains

Within the sound of silence.

Der Song setzt ein mit einem Gruß des Sängers an die Dunkelheit, die er wieder einmal besucht wie einen alten Freund. Es besteht Gesprächsbedarf. Es geht um eine Vision, die sich nicht wieder abschütteln lässt. Die Schilderung dieser Vision wird das ganze Lied ausfüllen. Zunächst aber wird noch nicht ihr Inhalt geschildert, sondern, wie sie sacht und leise herangekrochen kam und ihre Samenkörner oder Keime im Sänger zurückgelassen hat. Das Bild der Saat impliziert: Sie wird wachsen. Es wird also nicht etwa gesagt: „Ich habe eine Vision gehabt“, sondern die Vision ist Subjekt: Sie hat sich bei mir eingenistet, während ich schlief. Dann wird von ihr berichtet, sie sei „in mein Gehirn eingepflanzt“ worden. Wer sie dort eingepflanzt hat, bleibt offen. (Das könnte an die religiöse Praxis erinnern, den „Namen“ nicht auszusprechen, sondern sein Handeln passivisch zu formulieren.) Jedenfalls hat sich die nächtliche Vision nicht verflüchtigt, sondern sie ist geblieben, „inmitten des Klangs der Stille“. Im Rahmen der ersten Strophe ist es zunächst nur diese irritierende, weiter wirkende Gegenwart, das Bleiben der Vision, was den Sänger zu seinem Besuch bei der Dunkelheit veranlasst hat. Und was den „Klang der Stille“ in dieser ersten Strophe betrifft: Er ist hier sozusagen visionsträchtig: Der Klang der Stille als Gefäß einer Vision. Von einem Gesicht in der Nacht bzw. im Traum zu sprechen, hat übrigens religiöse Tradition, vgl. Hiob 33,15, Dan 7,2, Mt 2,12, Apg 16,9 und 18,9. Aber zunächst wird in der Vision von Simon & Garfunkel nichts gesagt oder gehört, sondern es wird nur gezeigt. Was die Vision zeigt, schildern die Strophen zwei und drei.

2. In restless dreams I walked alone

Narrow streets of cobblestone,

‘neath the halo of a street lamp

I turned my collar to the cold and damp

When my eyes were stabbed by the

flash of a neon light

That split the night

And touched the sound of silence.

Der Sänger sieht sich als einsamen Nachtwanderer, der seinen Kragen gegen die Kälte und Nässe hochschlägt. Er ist der Unbill der Natur ausgesetzt. Er geht durch leere, enge Straßen mit Kopfsteinpflaster. Sie werden vom Schein („halo“ ist auch der „Heiligenschein“!) einer Straßenlaterne nur dürftig beleuchtet. Plötzlich „wurden meine Augen vom Blitz eines Neonlichts zerstochen“. Dem Ausdruck „stabbed“ entspricht die Aussage, der Neonblitz „zerriss die Nacht“ – beides gewaltsame Geschehnisse, deren Unheimlichkeit noch dadurch gesteigert wird, dass sie sich ganz lautlos abspielen. Dem Neonblitz folgt kein Donner. Wenn es in der Schlusszeile heißt, der Neonblitz „berührte“ den Klang der Stille, so handelt es sich – wie beim „Zerreißen der Nacht“ – nicht um einen akustischen, sondern um einen optischen Vorgang; alles bleibt still. Die Vision, im genauen Wortsinn des Sehens, bleibt ohne Audition. Gerade so vermittelt sie das Gefühl von Gewalttätigkeit, das schon vorab erweckt wurde durch den Gegensatz zwischen dem – fast mittelalterlichen – Kopfsteinpflaster und dem künstlichen Neonblitz als Produkt moderner Technik. Eine unheimliche Szene, in der zwar gefühlt und gesehen, aber nichts gehört wird. Dazu kommt es erst in der folgenden Strophe.

3. And in the naked light I saw

Ten thousand people, maybe more.

People talking without speaking,

People hearing without listening,

People writing songs that voices never share

And no one dared

Disturb the sound of silence.

Hier wird die Vision zur Audition. Aber gesehen bzw. gehört wird keine transzendente Macht, kein Gott, kein Engel, sondern eine Masse von Menschen. Im Gegensatz (oder in Entsprechung?) dazu steht die Vereinzelung: Keiner kommuniziert mit dem anderen. Alle bleiben stumm und taub. In den drei mittleren Zeilen wird dieser beklemmende Eindruck durch drei Gegensatzpaare verstärkt: Die Menschen reden, ohne zu sprechen, sie hören, ohne zuzuhören, sie schreiben Lieder, die nie gesungen werden (wörtlich: an denen Stimmen niemals teilhaben). Und diese stimmlose Stille, dieser „sound of silence“ hat gar nichts Einladendes, sondern ist bedrohlich. Sie erscheint als Gegnerin echter menschlicher Gemeinschaft. Die Menschen sind wie gelähmt, es gibt keinen Schimmer von Hoffnung, und nicht einer wagt es, diese Stille zu „stören“ und auf den anderen zuzugehen. Alle verharren apathisch in Teilnahmslosigkeit, ohne eine Alternative zu sehen oder gar zu ergreifen. Eine grelle Szene in einem „nackten Licht“ (Zeile 1). Für eine Übersetzung ins Deutsche legt es sich nahe, „silence“ hier mit „Schweigen“ wiederzugeben.

4. „Fools“, said I, „you do not know

Silence like a cancer grows.

Hear my words that I might teach you,

Take my arms that I might reach you.“

But my words like silent raindrops fell,

And echoed

In the wells of silence.

Hier wird der Song zur Prophetie. Die in schweigender Isolation verharrenden Menschen werden aufrüttelnd als „fools“ angesprochen: „Ihr wisst nicht, dass das Schweigen wächst wie ein Krebs.“ Dieser Vergleich nötigt dazu, „silence“ spätestens hier mit „Schweigen“ zu übersetzen. Es ist ein tödliches Schweigen, aus dem die Menschen herausgerufen werden. Der Appell ist ganzheitlich; er wendet sich an unser Hören und an unser Fühlen. Dem „hört meine Worte“ entspricht das „nehmt meine Arme“. Aber vergeblich (die Vergeblichkeit gehört zur Erfahrung der Propheten): Die Worte fallen wie lautlose Regentropfen – nicht auf trockenes Land, das sie zum Grünen bringen könnten, sondern in die Brunnenschächte (des Schweigens, des Verstummens). Wasser fällt von oben ins Wasser unten. Der Prophet richtet nichts aus. Und dass seine Worte im Echo verklingen, gibt dem Eindruck der Vergeblichkeit noch zusätzlich etwas lang Anhaltendes und Quälendes. Übrigens arbeitet das Lied in allen Strophen in der jeweils sehr kurzen vorletzten Zeile auch musikalisch mit dieser Echowirkung; aber hier wird sie wörtlich genannt: „and echoed“.

5. And the people bowed and prayed

To the neon God they made.

And the signs flashed out its warning,

In the words that it was forming.

And the signs said, the words of the prophets

are written on the subway walls

And tenements halls.

And whispered in the sounds of silence.

Im Unterschied zu den vorangegangenen Strophen fehlt in der letzten das „Ich“. Die Vision endet in einem scheinbar distanzierten Bericht und bekräftigt so, dass der prophetische Aufruf (Strophe 4) nichts ausgerichtet hat. Die Menschenmenge verbeugt sich vor und betet zu dem „selbstgemachten Neon-Gott“; hier wird das zuvor erwähnte kalte Neonlicht aufgegriffen und gleichsam dechiffriert. Die Menschen beten sich selbst an, vermittels des von ihnen produzierten Kunstlichts. Und dann ist von dem bzw. den Zeichen die Rede, die sich in Worten ausdrücken. „Zeichen“ – das ist religiöse, auch biblische Sprache, sowohl in bedrohlicher wie verheißungsvoller Bedeutung, vgl. nur die Zeichen an der Wand, das „Menetekel“ (Dan 5) und das „das habt zum Zeichen“ in der Weihnachtsgeschichte (Lk 2). Ob sie Heil oder Unheil ankündigen, wird ausdrücklich nicht gesagt, aber eher doch Unheil, denn sie „warnen“ und verweisen auf „die Worte der Propheten“, die geschrieben stehen, allerdings nicht in der „Heiligen Bibel“, sondern im säkularen Alltag, an den Wänden der U-Bahn und der Hausflure.

Vielleicht ist dieser Hinweis in der längsten, mit der Häufung der Silben den Rhythmus des Liedes sprengenden Zeile der Spitzensatz: Die warnenden Worte der Propheten sind aus der sakralen Sphäre ausgewandert; sie sind überall. Alle könnten sie wahrnehmen. Allerdings wäre dazu ein feines Gehör nötig, um ihr „Wispern“ überhaupt zu bemerken, sie zu hören „in the sounds (hier das einzige Mal im Plural!) of silence“. Diese Botschaft der Propheten ist nicht brachial, kein Donner, sondern ein leicht überhörbares Flüstern, das am Schluss des Liedes leise verklingt.

Die Stille als Kontra-Dimension

Wie auch immer die Analysen der einzelnen Strophen aussehen mögen, entscheidend – auch für die überwältigende Rezeption dieses Liedes – ist doch wohl die Thematisierung der Stille als einer Kontra-Dimension gegen alles Laute, Ohrenbetäubende. Der Klang (bzw. die Klänge) der Stille ist gewissermaßen der Grundton, auf den sich die Einzelstrophen beziehen und in dem sie zusammengefasst werden. Wie in der Mystik die Stille mit der Dunkelheit verwandt ist, so wird der Klang der Stille im Dunkel kommunizierbar (vgl. Strophe 1). Das ist eine uralte Erfahrung, aber sie hat sich im Medium dieses Songs erneuert und den Nerv der Zeit getroffen. Die Stille, einschließlich der nächtlichen Träume, ist eben nicht stumm, sondern eröffnet Visionen und Auditionen, die in der rationalen Welt ausgeschaltet und nicht existent sind. Die Flüstertöne der Stille stehen im Kontrast zum lauten Leben. Dies ist die primäre Botschaft.

Erst danach stellen sich die Fragen nach dem Klang oder den Klängen dieser Stille und auch die nach ihrem Charakter: Ist sie die lebendige Stille oder das stumme – zum Verstummen gebrachte – Schweigen? Sind die Aussagen der Refrains über „the sound(s) of silence“ positiv oder negativ besetzt?

Der Text des Liedes bietet Belege für beides: Einerseits ist die Stille gleichsam der Ort, an dem die Botschaft des Liedes entspringt und aufgehoben bleibt (Strophen 1 und 5), andererseits heißt es, das Stören des Schweigens würde die Menschen aus ihrer Isolation herausreißen (Strophe 3), wenn sie es nur wagten. So bleibt das Lied in einer geheimnisvollen Schwebe. „Silence“ ist mehrdimensional. Sie ist Schweigen und Stille. Sie bedroht und sie bietet Zuflucht.

Möglicherweise ist es manchen meiner Zeitgenossen, die in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts studierten, so gegangen wie mir: Es war vor allem der eingängige und faszinierende „sound“ dieses Songs, der sie durch die Jahrzehnte begleitet hat, aber weniger oder gar nicht der Sinn des Textes. Dass der Song auch eine eminent kritische, prophetische Botschaft vermittelt, habe jedenfalls ich erst sehr viel später wahrgenommen, nachdem „The Sound of Silence“ längst zum Oldie geworden war.

Der ursprüngliche Kontext

Im Jahr 1956 hatten die US-amerikanischen Studenten Paul Simon und Art Garfunkel ihr Folk-Rock-Duo gegründet. Zehn Jahre später verschaffte ihnen ihr Song „The Sound of Silence“ in einer überarbeiteten Version den endgültigen Durchbruch. Anfang 1965 standen Text und Musik fest. Die Single kam im September 1965 auf den Markt. Bereits ein Jahr später erschien das Album „Sounds of Silence“. Nach der (vorläufigen?) Trennung der beiden Musiker gab es einige „Wiedervereinigungen“. Die berühmteste, unvergessliche war ein Benefizkonzert zur Verhinderung der aus finanziellen Gründen geplanten Schließung des Central Parks in New York, am 19. September 1981 ebendort. Eine halbe Million Menschen nahm teil. Das Konzert sollte mit einem Feuerwerk enden, das aber aus Sicherheitsgründen verboten wurde. Zum Schluss wurde „The Sound of Silence“ gesungen und gespielt, vor einem Meer von entzündeten Feuerzeugen. So entstand hier das Ritual, einen Hit im Dunkel zu spielen, das von Tausenden von Lichtern erleuchtet wurde.

Was den zeitgeschichtlichen Kontext betrifft, so genügen zwei Ereignisse bzw. Daten, um ihn zu veranschaulichen: Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy erschossen, und der Vietnamkrieg trat 1965 in die offene Phase und wurde 1975 beendet. Die Fassungslosigkeit über den Mord an Kennedy haben damals auch viele Menschen in Europa erfahren: Sie wissen noch heute, wo und in welcher Situation sie diese schockierende Nachricht erhielten. Was die Reaktionen in den USA betrifft, so lösten sie bei vielen Nordamerikanern ein emotionales Trauma aus, das erst durch das des Terroranschlags vom 11. September 2001 „überboten“ wurde. „The Sound of Silence“ trug dazu bei, die Erschütterung über Kennedys Ermordung zu kanalisieren und die ungelösten Fragen wenn nicht zu beantworten, so doch zu ertragen. Später wurde der Song zum Ausdruck der Friedensbewegung, zum Protest gegen den Rüstungswettlauf und die Kernkraft (1981: Reagans Beschluss, die Neutronenbombe zu bauen) und gegen die allgemeine Verunsicherung durch weitere Attentate (ebenfalls 1981 wurde Anwar el Sadat ermordet und wurden Reagan und Papst Johannes Paul II. angeschossen).

Vor dem Hintergrund dieser Situation repräsentierte „The Sound of Silence“ die Alternative einer ganz anderen Dimension: die der Stille. Angedeutet ist eine Zeitdiagnose: der Verlust zwischenmenschlicher Kommunikation, die Vereinzelung, die Unfähigkeit, auf die anderen wirklich zu hören. Die Stille wird zum Gegenmodell. Allerdings geschieht die Erinnerung an die Dimension der Stille implizit, verschlüsselt. Der Text des Liedes enthält keine direkten Zeitbezüge, keine evidenten kontextuellen Anspielungen wie andere Protestsongs, sondern arbeitet mit einprägsamen Bildern, die vieles offen halten und verschiedene Deutungen zulassen: Die Vision in der Dunkelheit, die Vereinsamung, der Heiligenschein der Straßenlampe, die Erschaffung eines eigenen Gottes, die Vergeblichkeit der Warnung, das bleibende Flüstern der prophetischen Worte. Es war zunächst weniger der Text, es war vor allem die von der Melodie und ihrem Arrangement inszenierte Stille, die faszinierte und innehalten ließ. „Viele, die das Album … kauften, kannten die Worte nicht.“4

„Sounds of silence” als Wellness-Angebot

Machen wir einen Sprung in unsere Gegenwart. Wer im Internet sucht, erhält ein doppeltes Ergebnis. Wer die Autoren und den genauen Titel, also „Simon & Garfunkel The Sound of Silence“, eingibt, kann ca. 461 000 Einträge finden. Bei der Eingabe nur des unbestimmten Plurals „Sounds of silence“ sind es hingegen ca. 2 250 000! Diese Zahlen sprechen für zwei verschiedene Rezeptionen. Die niedrigere (aber doch noch recht hohe) Zahl belegt, wie präsent Simon & Garfunkel und ihr Hit immer noch sind. Die – fünfmal – höhere erklärt sich daraus, dass die „sounds of silence“ sich von den Musikern der 60er Jahre und ihrem berühmtesten Lied abgelöst haben und in einem neuen, aktuellen Bezug stehen: „Sounds of silence“ gehören zu den Angeboten der Wellness-Szene.5

Nur wenige Beispiele: Weltbild.ch wirbt für eine Box mit vier CDs unter dem Titel „Wellness – Sounds Of Silence“. Unter dem Titel das Yin-Yang-Symbol. Der Werbetext ist überschrieben: „Entdecken Sie den wunderbaren Klang der Stille mit sanften Melodien“ und lautet: „Die ideale Hintergrundmusik zum Träumen, Ruhe finden und Entstressen. Ob schon im Auto, auf dem Heimweg von der Arbeit, oder zu Hause auf der Couch, bei einem wohlverdienten Glas Wein. So viel Wellness sollten Sie sich einfach gönnen ... Sanft schmeichelnde Instrumentalklänge hüllen Sie in eine Wolke aus Harmonie und wohliger Wärme. Der perfekte Wellness-Sound lässt Sie auch den Alltagsstress schnell vergessen – und das alles zu einem ganz entspannten Preis.“ Auf den ursprünglichen Song wird keinerlei Bezug genommen. Die Titel der Musikstücke (ohne Worte) sprechen für sich: Dreamwave, Journey To Fantasia, River Of Peace, Little Clouds, Garden Of Eden, Melody Of Silence, Freedom, Ocean Of Dreams, Magic Rain, Far Away, Tenderness. Die Außenwelt ist abwesend bzw. soll ausgeschaltet werden; „Vergessen“ ist ein Schlüsselwort im Werbetext.

Ein anderes CD-Angebot „Wellness with sound & silence“ fordert auf: „Create your environment with positive vibrations“; ein weiteres („sounds of silence“) verspricht ein „sakrales Klangerlebnis, ein intensiv inspiriertes Zusammenspiel der ältesten Instrumente der Erde als zeremonielle Weltmusik“. Ein Hotel in Australien bietet den Touristen ein „Sounds of Silence-Dinner“ mit indigenen australischen Klängen an. Entsprechendes gilt für Wellness-Hotels auf allen Kontinenten. Doch auch außerhalb der Wellness-Hotel-Branche wird „sound of silence“ zum Werbeträger: Ein bequemer Sessel im Möbelhaus heißt so und auch ein Spiegel fürs Badezimmer, der mit Ornamenten versehen ist und die Inschrift „You are so beautiful“ trägt. Wirklich pfiffig ist, dass die Edel-Firma Sennheiser einen „Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung“ unter dem Namen „Sound of Silence“ anbietet.

Aber vom Original, von Simon & Garfunkels Lied, ist hier so gut wie nichts übrig geblieben. Rezipiert wird nur der Titel, nicht die ursprüngliche Musik, nicht der Text mit seinen irritierenden Visionen der Vereinsamung, des selbstgemachten Gottes, der prophetischen Zeichen an den Wänden. Während der Song die Spannung zwischen zwei gegensätzlichen Wirklichkeiten vermittelt, sollen die „sounds of silence“ nun der persönlichen „Ent-Spannung“ dienen. Früher: Zeitdiagnose und warnende Zeitkritik, jetzt: Vermittlung eines wohligen Gefühls durch esoterische Klänge ohne jede gesellschaftliche Relevanz. Die Musik ist wortlos geworden; die Botschaft ist abhanden gekommen; die Stille spricht nicht mehr.

Religionswissenschaftliche Perspektiven

Betrachten wir abschließend das Thema der Stille bzw. des Schweigens in einem weiteren Zusammenhang. Aus heutiger religionswissenschaftlicher Perspektive6 ist von einer Grunddifferenz auszugehen. Der eingangs erwähnte buddhistische Klang der Stille und der „sound of silence“ gehören zu zwei religiösen Systemen, die sich zutiefst voneinander unterscheiden. Das Verhältnis von Wort und Stille bzw. Schweigen wird in asiatischen Religionen, besonders im Buddhismus, anders bestimmt als in der jüdisch-christlichen Tradition. In dieser ist das Schweigen (Gottes!) ein „beredtes Schweigen“. Zwar entzieht es sich dem menschlichen Wort, ist aber doch Wort. Auch wenn Gott schweigt, spricht er und lässt sich ansprechen – mit seinem „Namen“. Dagegen hat das „Schweigen des Buddha“, haben auch die eingangs erwähnten Koans letztlich „nichts“ zu sagen. Das Absolute schweigt und ist selbst das Schweigen schlechthin. Der Buddhismus lebt aus dem namenlosen Grund, der wortlos ist und daher gar nicht angeredet werden kann. Das Christentum dagegen gründet sich auf das Fleisch gewordene Wort (logos), die Offenbarung des göttlichen Wortes. Und selbst wo diese in einer „negativen“, mystischen Theologie (Gott als der Unsagbare, Unfassbare) reflektiert wurde, geschah dies im „Wort“. Lassen sich also „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel der jüdisch-christlichen Position, die wortlos bleibenden Klänge der Stille in den Wellness-Angeboten dem buddhistischen Typus zuordnen?

Überprüfen wir diese Einschätzung, indem wir bis an die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Hier begegnen Interpretationen des Zusammenhangs von Dunkelheit und Schweigen/Stille bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kunst und Religion. Allerdings verbleiben sie im Rahmen des jüdisch-christlichen (und islamischen) Typs, denn sie orientieren sich an der Beziehung zwischen dem „Heiligen“ und der Kunst.

So fragte Gerardus van der Leeuw in seinem Werk „Vom Heiligen in der Kunst“ nach dem „Sprechen Gottes“ in der und durch die Kunst.7 Das Thema „Das Schweigen und Beinah-Schweigen“ findet sich sowohl im 3. Teil „Das schöne Wort“ wie im 6. Teil „Musik und Religion“. Was die Wortkunst betrifft, so bezieht sich van der Leeuw auf „die Kunst etwas zu sagen, indem man nichts – oder doch sehr wenig – sagt“. Es geht ihr um das, „was zwischen den Zeilen steht und unvermutete Tiefen enthüllt“. Als Beispiel zitiert der Autor die erste und die dritte Strophe von Gerhard Tersteegens „Andacht bei nächtlichem Wachen“. Der Text spreche nicht nur von der Stille, sondern sei selbst Stille:8

Nun schläfet man, Und wer nicht schlafen

kann,

Der bete mit mir an Den großen Namen,

Dem Tag und Nacht Wird von der Himmels-

wacht

Preis, Lob und Ehr gebracht! O Jesu, Amen.

Weg Phantasie, Mein Herr und Gott ist hie!

Ich bin sein Sternlein, hie Und dort zu funkeln!

Nun kehr’ ich ein; Herr, rede du allein

Beim tiefsten Stillesein Zu mir im Dunkeln!9

Hier entsprechen sich, wie bei Simon & Garfunkel, die Stille und das Dunkel. Mit van der Leeuw: „Was für Baukunst und bildende Kunst das Dunkel bedeutet, das ist für Wortkunst und Musik das Schweigen.“10 Van der Leeuw erinnert an Hab 2,20: „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel; vor Ihm schweige die ganze Welt.“ Anhand von vielen Beispielen aus der Musik verdeutlicht er das sprechende Schweigen und zitiert den Komponisten Busoni: „Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am nächsten rückt, sind die Pause und die Fermate; – die spannende Stille zwischen zwei Sätzen, in dieser Umgebung selbst Musik, lässt weiter ahnen, als der bestimmte, weniger dehnbare Laut vermag.“ Dieses Schweigen ist nicht „Nur-Schweigen“, denn es fängt an und hört auf und ist so keineswegs etwas Negatives, sondern der negative Ausdruck des Allerpositivsten (der oben erwähnten negativen Theologie vergleichbar).

Belege für dieses sprechende Schweigen der Musik findet van der Leeuw bei Bach11 und bei Beethoven12. Er erklärt den Sinn der Anweisung „laute pianissimo“ so: „die Pianissimi sprechen gerade durch ihre fast gänzliche Unhörbarkeit; ein lautes ‚Pianissimo’ ist ein Paradox13, aber kein Unsinn; der Ausdruck gibt genau den Charakter numinoser Musik wider, die ausdrücken soll, was sich nicht ausdrücken lässt.“14 Dieses sprechende Schweigen der Musik sei, so van der Leeuw, vorgebildet im religiösen Schweigen und Verstummen vor dem Heiligen, dem „ganz anderen“. Gerade das Schweigen vor dem Heiligen ist beredt, denn „es ist nicht das Schweigen eines Menschen, der nie gesprochen hat“; es ist Anbetung. Unter Bezug auf das Werk „Das heilige Schweigen“ von Gustav Mensching15 wird es als sakramentale Stille charakterisiert, „höchste Anbetung und innigste Gottesgemeinschaft zugleich“. Van der Leeuw interpretiert das Schweigen (in) der Musik als ein „Echo der ‚Stille in dem Himmel’“ – unter Bezug auf Offb 1,816, und er nennt es mit Rudolf Otto „numinos“. Deutlich ist in jedem Fall, dass diese Interpretationen der Stille und des Schweigens aus der jüdisch-christlichen Religion erwachsen sind. Die Stille und das Schweigen sind Medium und Reaktion auf die Offenbarung Gottes; sie „sprechen“, weil Gott gesprochen hat.

Um zeitlich noch weiter zurückzugehen: Unübersehbar fußen van der Leeuws Ausführungen auf dem Kapitel „Ausdrucksmittel für das Numinose in der Kunst“ im Klassiker „Das Heilige“ von Rudolf Otto.17 Der Kunst stünden, so hatte Otto geschrieben, nur zwei direkte Mittel zur Verfügung, um das Numinose darzustellen: „Und sie sind bezeichnender Weise selber negativ; sie sind das Dunkel und das Schweigen.“18 Dem (Halb-)Dunkel in Tempeln, Kirchen und Mo­ scheen entspricht in der Tonsprache das Schweigen. Auch die Veranschaulichungen dieser These Ottos hat, wie oben ausgeführt, van der Leeuw übernommen und erweitert. Schon bei Otto begegnet der Hinweis auf Hab 2,20, ebenso die Zitate von Tersteegen, und zwar nicht nur, wie bei van der Leeuw, Tersteegens „Andacht bei nächtlichem Wachen“, sondern auch sein „Gott ist gegenwärtig, / Alles in uns schweige“ und ein weiteres Tersteegen-Zitat: „O hohe Majestät, die du erhaben wohnest / In stiller Ewigkeit, im dunkeln Heiligtum.“19 Ebenso hat schon Otto, wie später van der Leeuw, auf das mystische Incarnatus in Bachs H-moll-Messe hingewiesen. Aber während es van der Leeuw um das Sprechen Gottes selbst in der Kunst ging, verfolgte Otto ein anderes Interesse: Für ihn sind der Psalmensänger, Tersteegen, Bach „und wir selber ... interessante Objekte für religiöse psychologische Analyse“20: Es sind spontane Reaktionen auf das Heilige, das „numen präsens“. Während van der Leeuw dem Sprechen „Gottes“ in der Kunst nachspürte, ist Otto an der Analyse der Reaktionen auf das Heilige mit seiner Kontrastharmonie von mysterium fascinans und tremendum, also religionspsychologisch, orientiert. „Gott“ ist für ihn ein Spätling in der Religionsgeschichte; die Erfahrungen des Heiligen im Dunkel und als Stille, die sich in den angeführten Zitaten spiegeln, gehen allen späteren Konzeptualisierungen, allem Reden von „Gott“ voraus.

Leitmotiv dieser Betrachtung waren die Dunkelheit und das Schweigen und die Klänge der Stille, wie sie von Simon & Garfunkel und in der Wellness-Szene präsentiert werden, einschließlich einiger religionswissensschaftlicher Positionen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Lässt sich aus dem allen, trotz der offenkundigen Disparatheit21, ein Resümee ziehen? Vorsichtiger wäre wohl von einigen Schlussfolgerungen zu sprechen, die sich nahe legen könnten.

Rückfragen und Korrekturen

So erscheint die zunächst vielleicht plausible Zuordnung des Songs von Simon & Garfunkel zum jüdisch-christlich-islamischen Religionstyp und die der Klänge der Stille in den Wellness-Angeboten zum Buddhismus als problematisch, zumindest aus drei Gründen: Einmal sind diese beiden Zeugnisse der „sounds of silence“ von deren ursprünglichen Ausprägungen in den Religionen zeitlich und inhaltlich so weit entfernt, dass sich die Herstellung eines direkten Zusammenhangs wohl verbietet. Gerade als Theologe, aber auch als Religionswissenschaftler läuft man Ge­ fahr, dort Beziehungen zu sehen, wo keine (mehr) bestehen. Zweitens widersprechen die betrachteten Zeugnisse in wesentlichen Punkten den Aussagen des ihnen zugeordneten Religionstyps. So fehlt bei Simon & Garfunkel der Bezug auf die Transzendenz, auf die Offenbarung des Gottes. Wohl geht es um eine Vision aus dem Dunkel, um die Worte der Propheten, aber sie bleiben letztlich doch immanent, wie „das Heilige“ im Heiligenschein der Straßenlampe. Die Dunkelheit wird angesprochen, aber sie antwortet nicht. Und noch weniger entsprechen die Wellness-Klänge der Stille dem Ziel der klassischen buddhistischen Meditation. Während „Wellness unter Neuinszenierung des mutmaßlich omnipotenten Ich“ vermarktet wird22, soll ja die buddhistische Meditation, die Einübung der „Achtsamkeit“, das Ich mit allen seinen Bedürfnissen gerade auslöschen. Von hier aus muss auch, drittens, der Eindruck der Allgemeingültigkeit der religionsgeschichtlichen Aussagen von Otto und van der Leeuw korrigiert werden: Was sie sagen, lässt sich wohl mit jüdischen, christlichen und islamischen Texten belegen, gilt für den Buddhismus aber nicht.

Auch ist Vorsicht geboten, von einer Entwicklung zu sprechen, deren Feststellung häufig mit einer Wertung einhergeht. Das wäre der Fall, wenn, ausgehend vom biblischen Zeugnis (vgl. die Zitate aus Habakuk und der Offenbarung), eine absteigende Linie (des Verfalls, der Verdünnung, der Vernebelung) konstatiert würde. Vielmehr sollte es darum gehen, sowohl „The Sound of Silence“ als auch die Wellness-Szene als eigenständige Phänomene zu würdigen, ohne sie von woanders her abzuleiten.

Nun ließe sich gegen die hier vorgelegte Betrachtung einwenden, dass sie gegen solche Vorsichtsmaßregeln verstößt. Es wurde verglichen, bewertet; Beziehungen und Abhängigkeiten wurden festgestellt. Auch wenn Begriffe wie „religiöse Versatzstücke“, „Restbestände“ oder „Defizite“ nicht verwendet wurden, sind entsprechende Beurteilungen eingeflossen. Dies zuzugeben, ist nichts anderes als das Eingeständnis, dass der Zugang zum Thema (des Schweigens / der Stille) von den eigenen Bedingtheiten und Interessen nicht freigehalten werden kann. Oder im Sinne des Dekonstruktivismus23: Ein Text wird von dem abgelöst, was sein Autor mit ihm gemeint hat oder haben könnte, und aufgelöst in das, was sein Leser aus ihm macht. Unter diesem Vorbehalt sind die vorgelegten Deutungen zwar zu relativieren, aber nicht zu revozieren. Sie reflektieren „meine“ subjektiven Erfahrungen und Einsichten. Ob sie auch die Einsichten anderer sind oder werden können, steht dahin.

Der Klang der Stille als Paradox

Eine dieser Einsichten ist die, dass das englische „silence“ die heterogenen Elemente der Stummheit und der Stille enthält und dass ich mit „Schweigen“ die Isolation, mit „Stille“ hingegen eine Haltung assoziiere, die ich vor einem Gegenüber einnehme und die dieses Gegenüber voraussetzt, sei es ein Mitmensch, die Natur, das Heilige oder Gott. Der Film „Das Schweigen“ des schwedischen Pastorensohnes Ernst Ingmar Bergman von 1963 – er gehört also auch in den Kontext von „The Sound of Silence“ – hat den Originaltitel „tystnaden“, was ebenfalls beide Elemente umfasst. Der Film, der in schwarz-weiß die Einsamkeit, Kälte und Entfremdung menschlicher Existenz ohne jeden Transzendenzbezug ins Bild bringt, trägt eben nicht zufällig im Deutschen den Titel „Das Schweigen“, nicht „Die Stille“. Bei Simon & Garfunkel ist ein Gegenüber im „Klang der Stille“ (noch) gewahrt, lassen sich Spuren der Transzendenz noch vernehmen (das Gespräch mit der Dunkelheit, die Vision, die Worte der Propheten). Die instrumentalen Klänge der Wellness-Angebote kommen ohne ein solches Gegenüber aus; die Menschen, denen sie „wohltun“ sollen, bleiben allein. Hier bleiben die Klänge stumm.

So ist „Klang der Stille“ nur vordergründig ein „Oxymoron“, wie anfangs erwähnt, ein Spiel mit Worten, eine rhetorische Figur; sondern „Der Klang der Stille“ ist, wenn er wirklich zu uns spricht, ein Paradox. Das Paradox ist ein Statthalter der Erinnerung und der Einsicht, dass dem denkenden Verstand die Gottesidee ebenso unaufgeblich wie unerreichbar und unvollziehbar ist: „Das ist denn des Denkens höchstes Paradox: etwas entdecken wollen, das es selbst nicht denken kann. Diese Leidenschaft des Denkens ist im Grunde überall im Denken vorhanden, auch in dem des Einzelnen, insofern er denkend ja nicht bloß er selber ist.“24 Das Paradox öffnet unsere Wirklichkeit. Und wo wir die „Stille“ zu uns „sprechen“ hören, haben wir uns diesem Paradox geöffnet – auch wenn der Einzelne Gerhard Polt heißt.


Hermann Brandt, Erlangen


Anmerkungen

1 Orhan Pamuk, Schnee, München / Wien 2005, 9, 196.

2 Konrad Meisig, Klang der Stille – der Buddhismus, Freiburg i. Br. 21997.

3 Ulrich Dehn, Das Klatschen der einen Hand. Was fasziniert uns am Buddhismus? Hannover 2002.

4 Siehe im Internet unter: Crawdaddy – Classic Vantage – Simon & Garfunkel’s Sounds of Silence, eingesehen am 26.6.2007 (der zitierte Artikel stammt vom 30.1.1966).

5 Vgl. hierzu z.B.: Ulrich Dehn / Erika Godel (Hg.), „Du salbest mein Haupt mit Öl...“ Wellness – Körperkultur oder Sinnfrage, EZW-Texte 183/2006. Auf die musikalischen Wellness-Angebote wird hier allerdings nur sporadisch eingegangen.

6 Das Folgende nach Hans Waldenfels, Art. Schweigen, in: Lexikon der Religionen, Freiburg u.a. 31996, 596f.

7 Gerard van der Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957, 6.

8 Ebd., 148.

9 Dieses Zitat van der Leeuws vermischt Tersteegens 2. und 3. Strophe, vgl. das Original in: Gerhard Tersteegen, Geistliches Blumengärtlein, Neue Ausgabe, Stuttgart 151956, 569f.

10 Van der Leeuw, a.a.O., 239f.

11 Z. B. das Rezitativ der Matthäuspassion „Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille“ oder das „Incarnatus“ und das „Crucifixus“ in der Hohen Messe in h-moll.

12 Beethoven hat in einer Skizze für das Finale der 9. Symphonie angegeben: „...erst pianissimo – einige laute ppmo [pianissimo] – einige Pausen – dann die vollständige Stärke“.

13 Vgl. hierzu den Schluss dieser Abhandlung.

14 Van der Leeuw, a.a.O., 240.

15 Gießen 1926.

16 Zur Deutung dieses Bibelverses siehe Jürgen Roloff, Die Offenbarung des Johannes, Zürich 1984, 92f.

17 Rudolf Otto, Das Heilige, Breslau 31919, 74-77.

18 Ebd., 75.

19 Otto hat die Fundorte nicht angegeben. „Gott ist gegenwärtig“ findet sich im erwähnten Geistlichen Blumengärtlein, a.a.O., 340-342, und steht noch heute in unseren Gesangbüchern; das Zitat „O hohe Majestät...“ ist der Beginn einer Betrachtung zum Propheten Jesaja, Kap. 57,15, Geistliches Blumengärtlein, 223.

20 Otto, a.a.O., 75f.

21 Nicht immer, aber häufig wird im Deutschen das „Schweigen“ von Menschen (und von Gott), hingegen die „Stille“ von der Natur ausgesagt („Stille Nacht“). Andererseits verwendet Matthias Claudius in „Der Mond ist aufgegangen“ „schweigen“ für den Wald und „still“ für die Welt. Vgl. die Belege zu beiden Worten im Grimmschen Deutschen Wörterbuch oder in einer Konkordanz zur Lutherbibel. Am 7.9.2007 gab die Königl. Philharmonie Antwerpen in Herford ein Sinfoniekonzert unter dem Thema „Die Stille in der Musik“. Zum Schweigen und der Stille in christlicher und interreligiöser Spiritualität vgl.: Jan Olaf Rüttgardt (Hg.), Schweige und höre. Erfahrungen aus Meditation und geistlicher Betrachtung, Hannover 1994.

22 Siehe EZW-Texte 183 (wie Anm. 5), 3f.

23 Zur Problematik der dekonstruktivistischen Theorie (in der Rechtswissenschaft) vgl. den Roman von Bernhard Schlink, Die Heimkehr, Zürich 2006.

24 Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken, Ausgabe von E. Hirsch, Gesammelte Werke, 10. Abt., Düsseldorf / Köln 1967, 34-51, 35.