Martin Fritz

Sündenpredigt oder Sünderhetze?

Zu den Volksverhetzungs-Verfahren gegen den bremischen Pastor Olaf Latzel

Wie bereits das erstinstanzliche Urteil löste nun auch der Spruch der zweiten Instanz gegenläufige Affekte aus – jetzt mit umgekehrten Vorzeichen: Erleichterung und Genugtuung auf der einen, Enttäuschung und Empörung auf der anderen Seite. Am 20. Mai 2022 wurde Olaf Latzel vom Landgericht Bremen von der Anklage der Volksverhetzung freigesprochen.Zuvor war der evangelikale Pastor der bremischen St.-Martini-Gemeinde am 25. November 2020 vom Amtsgericht Bremen schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe in Höhe von 8100 Euro verurteilt worden.Die Verteidigung hatte gegen diesen Schuldspruch Berufung eingelegt.

Grund der Anklage waren Ausführungen bei einem gemeindlichen Ehevorbereitungsseminar im Oktober 2019, die im März 2020 nachträglich, mit Latzels Einwilligung, als Audioaufzeichnung auf dessen YouTube-Kanal (mit knapp 25.000 Abonnenten) veröffentlicht worden waren. Dort hatte der Geistliche herausgestellt, Homosexualität sei eine Abweichung von der göttlichen Schöpfungsordnung und eine „Degenerationsform der Gesellschaft“3. Er hatte Bibelstellen angeführt, die Homosexualität als „ein todeswürdiges Verbrechen“ und als „ein Gräuel“ verurteilen (Lev 18,22; 20,13). Und er hatte vor der „teuflischen Homo-Lobby“ gewarnt: „Überall laufen die Verbrecher rum vom Christopher Street Day. Der ganze Genderdreck ist ein Angriff auf Gottes Schöpfungsordnung, ist teuflisch und satanisch.“4  Latzel hatte sich nach der Anzeige für seine Wortwahl entschuldigt und das YouTube-Audio löschen lassen.

Das Urteil der ersten Instanz

Die Richterin der Erstinstanz, Ellen Best, hielt die Anklage wegen Volksverhetzung nach § 130 StGB für stichhaltig.5  Laut ihrer Urteilsbegründung habe der Pastor mit seinen Aussagen „zum Hass“ gegen Homosexuelle „aufgestachelt“ und subtil „zu Gewaltmaßnahmen aufgefordert“ (vgl. § 130 Abs. 1 Nr. 1). Denn die Bezeichnung der Teilnehmer des Christopher Street Day als „Verbrecher“ könne auch als Appell verstanden werden, „gegen sie aktiv zu werden“. Latzel habe außerdem die Menschenwürde von Homosexuellen verletzt (vgl. § 130 Abs. 1 Nr. 2). So werde mit der Bezeichnung der Homosexualität als „Degenerationsform der Gesellschaft“ suggeriert, Homosexuelle seien nicht als gleichwertige Gesellschaftsglieder anzuerkennen. Im Übrigen beinhalte die Disqualifizierung der Homosexualität als Sünde eine schwerwiegende Abwertung aller Homosexuellen.

Latzel hatte dagegen eingewandt, er verurteile nach biblischer Norm zwar die Homosexualität als Sünde, nicht aber die Homosexuellen, die wie alle anderen Sünder trotz ihrer Sünde anzunehmen seien. Diese Differenzierung ließ die Amtsrichterin nicht gelten. Die sexuelle Ausrichtung eines Menschen sei integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit, daher werde mit der Herabwürdigung dieses wesentlichen Personaspekts auch die Person insgesamt herabgewürdigt. Auch die Einlassung der Verteidigung, es sei im Kontext des Eheseminars allen Teilnehmenden klar gewesen, dass mit den „Verbrechern vom Christopher Street Day“ nicht etwa Homosexuelle generell, sondern die Täter einschlägiger Sachbeschädigungen an Gemeindegebäuden gemeint gewesen seien,6  wertete die Richterin als Schutzbehauptung.7  Eine Befragung von Zeugen aus dem Eheseminar zu diesem Sachverhalt hatte sie abgelehnt.8  Ebenso wenig folgte sie dem Argument, Latzel sei im Moment der betreffenden Äußerungen nicht von einer Veröffentlichung ausgegangen und habe bei der späteren Einwilligung in die Publikation jene Äußerungen nicht mehr im Kopf gehabt, weshalb von einer vorsätzlichen „Störung des öffentlichen Friedens“ – zentrale Bedingung des Straftatbestands „Volksverhetzung“ (vgl. § 130 Abs. 1) – keine Rede sein könne.

Resonanzen

Latzels Verurteilung durch das Amtsgericht erfuhr begeisterte Zustimmung und schroffe Ablehnung. Während sich etwa „DIE LINKE Bremen“ in einem Tweet mit einem ironischen „Thank God!“ vernehmen ließ,9  erklärte Ulrich Rüß, der Vorsitzende der „Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den Evangelischen Kirchen Deutschlands“, es handele sich um „ein politisches Urteil in einem politischen Prozess“10. Ulrich Parzany, Gründer und Vorsitzender des „Netzwerks Bibel und Bekenntnis“, sandte denn auch eine Solidaritätsadresse an den verfolgten Glaubensbruder: „Wir stehen gemeinsam an der Seite von Schwestern und Brüdern, die auf Grund ihres aufrichtigen Bekenntnisses zu Jesus und seinem Wort in Kirche und Gesellschaft unter Druck geraten und angefeindet werden.“11

Aber auch unter differenzierungswilligeren Kommentatoren sorgte das Urteil für Verwunderung.12  Zwar seien die strittigen Äußerungen Latzels in der Tat „eines Pastors nicht würdig“ gewesen, so Friedhelm Maurer, der Vorsitzende des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland; die richterliche Einstufung als Volksverhetzung sei aber wohl doch zu hoch gegriffen. Ähnlich äußerte sich Thomas Traub, Vorstandsmitglied der Vereinigung „Christ und Jurist“. Das Amtsgericht Bremen habe bei seinem Urteil „die Schwelle der Strafbarkeit einer Äußerung als Volksverhetzung sehr niedrig angesetzt“. Ferner wies der Jurist und idea-Redakteur David Wengenroth darauf hin, „dass die Meinungsfreiheit“ laut Bundesverfassungsgericht „auch drastische, zugespitzte und polemische Äußerungen schützt“. Demzufolge sei der Spruch des Amtsgerichts als „glattes Fehlurteil“ zu bewerten.13

Der Tatbestand „Volksverhetzung“

Nachdem die Verteidigung Berufung eingelegt hatte, wurde das Berufungsverfahren am Landgericht Bremen für den Mai 2022 angesetzt (zwischen 9.5. und 20.5.). Zieht man die höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 130 StGB14  heran, waren dabei im Wesentlichen folgende Tatbestandsmerkmale zu überprüfen (die überwiegend zwingend gegeben sein müssen, damit der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist):

  1. Störung des öffentlichen Friedens (zwingend): Waren Latzels Äußerungen geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören; waren sie mithin „ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutgefährdende [d. h. hier: friedensgefährdende; M. F.] Handlungen angelegt“15? Und konnten sie dazu überhaupt eine ausreichend große Öffentlichkeitswirkung entfalten?
  2. Aufstachelung von Hass und Gewalt (nicht zwingend): Waren Latzels Äußerungen geeignet, bei den Hörerinnen und Hörern „eine gesteigerte, über die bloße Ablehnung und Verachtung hinausgehende feindselige Haltung“ gegen Homosexuelle „zu erzeugen oder zu steigern“?16  Und zielten sie „über ein bloßes Befürworten hinaus“ darauf ab, bei ihnen „den Entschluss zu bestimmten [Gewalt-]Handlungen hervorzurufen“?17
  3. Angriff auf die Menschenwürde (zwingend): Waren Latzels Äußerungen geeignet, Homosexuelle nicht nur hinsichtlich einzelner Persönlichkeitszüge, sondern „im Kern ihrer Persönlichkeit zu treffen“, indem sie darin „unter Missachtung des Gleichheitssatzes als minderwertig dargestellt“ wurden und indem ihnen „das Lebensrecht in der Gemeinschaft bestritten“ wurde,18  und dies „durch ein gesteigertes Maß an Gehässigkeit und Rohheit“19  sowie in böswilliger und feindseliger Gesinnung?
  4. Teile der Bevölkerung (zwingend): Richteten sich Latzels aggressive Äußerungen auf die Homosexuellen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Neigung vom Rest der Bevölkerung unterscheiden, oder richteten sie sich lediglich auf die begrenzte Gruppe von militanten Homosexuellen-Aktivisten, die die St.-Martini-Gemeinde und ihren Pastor mutmaßlich mehrfach angegriffen hatten?
  5. Bedingter Vorsatz (zwingend): Hat Pastor Latzel im Moment der Äußerungen oder auch bei ihrer nachträglichen Veröffentlichung bewusst in Kauf genommen, sie könnten öffentlich zu Hass und Gewalt gegen Homosexuelle aufstacheln bzw. deren Würde herabsetzen?

Das Urteil der zweiten Instanz

In Anbetracht dieser Liste von Bedingungen erscheint es auch für juristische Laien und selbst für theologisch und/oder ethisch entgegengesetzt Orientierte nachvollziehbar, dass der vorsitzende Richter Hendrik Göhner schließlich zu dem Urteil kam, der Tatbestand der Volksverhetzung sei im Fall Olaf Latzel nicht erfüllt. Das gilt jedenfalls, wenn man in Rechnung stellt, dass die Bewertung der Homosexualität als Sünde – ob man dies beklagt oder nicht – innerhalb des evangelikalen Christentums nach wie vor mehrheitsfähig ist.20  Unter dieser Voraussetzung wird man die Bemerkungen Latzels eher als polemisch zugespitzte (und daher durchaus mit aggressiver Schärfe vorgetragene) Bekräftigungen seines Glaubensstandpunkts beurteilen denn im Sinne einer hochgradig hasserfüllten und in gesteigerter Böswilligkeit und Feindseligkeit vorgebrachte Aufwiegelungsrhetorik mit dem Ziel oder unter Inkaufnahme friedensgefährdender Gewalttaten.

Dies trifft erst recht dann zu, wenn man vor dem Hintergrund der Orientierung evangelikaler Christen am Vorbild Jesu die Beteuerung Latzels für authentisch hält, im Lichte des Evangeliums seien auch und gerade die Sünder in Liebe anzunehmen. Dieses Grundmotiv scheint doch den fraglichen Invektiven wieder etwas von ihrer Schärfe zu nehmen – so unangemessen, unmoralisch und unappetitlich, so toxisch man sie nichtsdestoweniger finden mag –, zumindest so viel, dass dem Gesamteindruck nach der vom Strafgesetzbuch geforderte Verschärfungs- und Aggressionsgrad und das damit verknüpfte Friedensgefährdungspotenzial dezidierter Volksverhetzung nicht erreicht werden. Dementsprechend fiel auch die (mündliche) Urteilsbegründung von Richter Göhner aus.21  Pastor Latzel habe glaubhaft machen können, dass eine Veröffentlichung der nichtöffentlichen Rede ursprünglich nicht geplant gewesen sei und dass sie ihm bei der Zustimmung zur Veröffentlichung im Einzelnen nicht mehr gegenwärtig gewesen sei (Punkt 1 und 5). Auch sei, wie nunmehr die Anhörung zweier Zeugen gezeigt habe, den ursprünglichen Hörerinnen und Hörern der Bezug gewisser Aussagen auf die Urheberinnen oder Urheber der Störungen und Sachbeschädigungen an Gemeindeeigentum bewusst gewesen (Punkt 4).

Die Verurteilung der Homosexualität gründe außerdem in einem bestimmten, durchaus geläufigen Bibelverständnis; sie sei daher nicht in erster Linie Resultat einer hassgetriebenen Diffamierungsabsicht, sondern Ausdruck des eigenen Glaubens und stehe daher unter dem Schutz der Glaubensfreiheit (Punkt 3). Zudem sei auch Latzels Unterscheidung von Sünde und Sünder glaubwürdig. Daher fehle der theologischen Disqualifizierung der Homosexualität zumindest die eindeutige Diffamierungsabsicht gegenüber Homosexuellen (Punkt 3 und 5), wenn es auch durchaus möglich sei, die betreffenden Aussagen als Herabwürdigung der nämlichen Menschengruppe zu verstehen.22  Es sei aber insgesamt nicht erkennbar, dass Latzel einen nachhaltigen und gesteigerten Hass gegen Homosexuelle aufstacheln oder gar zu Gewalthandlungen aufrufen wollte (Punkt 2).

Unabhängig von dieser rechtlichen Beurteilung wollte sich Richter Göhner aber doch zum Schluss auch einer moralischen Bewertung von Latzels Sündenrhetorik nicht enthalten. „In gesellschaftlicher Hinsicht“ und angesichts seines besonders „verantwortlichen Amtes“ seien seine sprachlichen Ausfälle „mehr als befremdlich“; trügen sie doch kaum zu einem Klima bei, „in dem alle Menschen gut miteinander auskommen“.

Resonanzen

In den Reaktionen auf den Freispruch war die Unterscheidung von Recht und Moral nicht immer in gleicher Weise präsent – auf beiden Seiten der Bewertungsskala. So teilte Robert Dadanski vom Vorstand des Christopher Street Day in Bremen mit, er sei „fassungslos“23, Santos Blume vom Bremer „Bündnis Queerlobby“ bezeichnete die Entscheidung des Landgerichts als „skandalös“24. Die Theologin Isolde Karle, die am Prozess als Gutachterin beteiligt war, dann aber wegen Befangenheit ausgeschlossen wurde,25  zeigte Verständnis für solche Empörung: Das Urteil bestärke alle, die Homosexualität als Sünde einstuften und Homosexuelle diffamierten.26  Emphatisch positive Resonanzen fand der Freispruch vornehmlich in den Kommentarspalten einschlägiger Internetmedien. Neben Stoßgebeten des Dankes27  wurde das Urteil dort als Sieg für die Religionsfreiheit, auch für konservativ Fromme, gefeiert, und es wurde Latzels Standhaftigkeit hinsichtlich seiner bibeltreuen Lehre gepriesen. Aber es fanden sich auch unter den religiös und theologisch Sympathisierenden nachdenkliche Stimmen: „Es ist gut, dass er freigesprochen wurde. Aber ich wünsche ihm, dass Gottes Geist ihn zu mehr Toleranz gegenüber Menschen führt, selbst wenn er sie nicht mag. Die geistige Erweckung, die wir brauchen, ist eine der Liebe, nicht der Selbstgerechtigkeit und des Hasses.“28

Causa finita? Der Fall Latzel als Problemanzeige

Mit dem rechtlichen Freispruch vom Vorwurf der Volksverhetzung ist die religiöse, theologische und moralische Problematik der vor Gericht verhandelten Äußerungen sowie der ihnen zugrunde liegenden Position nicht vom Tisch. Das Urteil besagt, dass dem Geistlichen Olaf Latzel kein Vorsatz zur Gefährdung des öffentlichen Friedens, zur öffentlichen Aufstachelung gesteigerten Hasses oder zur Aufwiegelung handfester Gewalt sowie zur öffentlichen, gesteigert boshaften Verächtlichmachung Homosexueller nachgewiesen werden konnte. Das ist alles andere als eine vollständige Exkulpierung. Trotz der erfolgten Entschuldigungen muss es namentlich Latzel selbst, aber auch allen religiös und moralisch Sensiblen unter den Evangelikalen zu denken geben, dass von ihm – im Übrigen nicht zum ersten Mal29  – aggressive Ausführungen überliefert wurden, die überhaupt eine Prüfung des besagten Tatbestandes herausforderten und die sogar von einer deutschen Amtsrichterin diesem Tatbestand subsumiert werden konnten.

Der Fall Latzel ist ein prominentes Beispiel für eine aggressive Erhitzung des evangelikalen bzw. konservativ-christlichen Diskurses, die vermutlich einer allgemeinen Polarisierung der Debatten und einem wachsenden Marginalisierungsbewusstsein aufseiten konservativer Christen geschuldet ist – die aber gleichwohl tiefe Schatten auf die christliche Gesinnung der fraglichen Protagonisten wirft.30  Sicher, der Schmähtitel „Hassprediger“ wird von manchen Zeitgenossen schnell verliehen. Sobald aber die Tonlage von Predigten tatsächlich plausiblen Anlass zu seiner Verleihung gibt, wird davon unweigerlich auch deren christliche Liebesbotschaft tangiert. Wer sich zu einer solch aggressiven Verschärfung seines Christentums hinreißen lässt, verzerrt dessen Wesen, entstellt dessen Geist, unterhöhlt dessen Glaubwürdigkeit. Evangelikale Pastoren und Leiter sollten sich daher ernsthaft den angesprochenen Verschärfungstendenzen und der Frage nach den Formen und Folgen ihres Kampfes gegen den vermeintlich gottlosen Zeitgeist stellen – in ihrem eigensten Interesse.

Dies gilt auch und insbesondere beim Thema Homosexualität. Die Amtsrichterin Best mag mit ihrem Urteil insgesamt falsch gelegen haben; ihr Argument, die Disqualifizierung einer sexuellen Neigung sei von der Bewertung der betroffenen Menschen nicht zu trennen, ist nicht leichthin von der Hand zu weisen. Die Unterscheidung zwischen (zu verurteilender) Sünde und (anzunehmendem) Sünder ist nur eine theologische Scheinlösung, weil zumal der aggressiv vergegenwärtigte Zorn über die Sünde immer auch die vermeintlichen Sünderinnen und Sünder trifft – in diesem Fall für eine Veranlagung, die sie nicht selbst gewählt haben. Von den destruktiven Wirkungen solcher Sündenpredigt erzählen die Geschichten zahlreicher Betroffener, die in der Atmosphäre „bibeltreuer“ Sexualethik schwere persönliche Wunden davongetragen haben. Wer nicht die Augen und Ohren vor diesen Menschen verschließt, wird kaum leugnen, dass die verbreitete Ablehnung der Homosexualität, zumindest aber der pädagogische Umgang mit dieser Ablehnung, ein gravierendes moralisches und folglich auch ein gravierendes religiöses Problem darstellt – nicht nur, aber auch und gerade innerhalb des evangelikalen Christentums.31  Seit einiger Zeit beginnt man dort auch, sich mit diesem Problem intensiv zu befassen. Der Fall Latzel zeigt, wie dringend diese Auseinandersetzung ist. Nicht zuletzt an ihrem Ausgang dürfte sich die Frage entscheiden, ob die evangelikale Bewegung den Weg in eine enger werdende Isolation beschreitet oder ob sie auch künftig eine vitale Quelle des Christentums bleibt.

Die Staatsanwaltschaft kann das Urteil des Landgerichts Bremen in einer Revision überprüfen lassen. Sobald das Urteil rechtskräftig ist, hat die Bremische Evangelische Kirche in ihrem während des Prozesses ruhenden Disziplinarverfahren über die dienstrechtlichen Konsequenzen der Affäre zu entscheiden.


Martin Fritz, 13.07.2022

 

Anmerkungen

1  Aktenzeichen: 51 Ns 225 Js 26577/20.

2  Aktenzeichen: 96 Ds 225 Js 26577/20.

3  Vgl. epd-Zentralausgabe vom 25.11.2020, Nr. 229, 2. Vgl. zum Folgenden Martin Fritz:
Vorwurf Volksverhetzung: Der bremische Pastor Olaf Latzel und die Grenzen der Toleranz,
in: MdEZW 83/5 (2020), 367–371 (dort auch die weiteren Einzelnachweise der Aussagen).

4  Vgl. epd-Zentralausgabe vom 25.11.2020, Nr. 229, 2.

5  Der einschlägige Absatz 1 von § 130 StGB lautet wie folgt: „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe [oder] gegen Teile der Bevölkerung … zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe [oder] Teile der Bevölkerung … beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Die folgenden Absätze 2 bis 7 betreffen die Weiterverbreitung volksverhetzender Inhalte anderer sowie Äußerungen über den Nationalsozialismus, insbesondere die Leugnung des Holocaust. – Siehe dazu den Wikipedia-Artikel Volksverhetzung mit ausführlichem Kommentar und Verweis auf weitere Kommentare: https://tinyurl.com/y92tuk5t (Abruf der Internetseiten 25.5.2022). Vgl. zum Folgenden epd-Zentralausgabe vom 25.11.2020, Nr. 229, 2f; idea-Pressedienst vom 25.11.2020, Nr. 246, 2f.

6  Unter anderem wurden die Gebäude mit Parolen („god is gay“ u. a.) beschmiert; in einen Schriftenständer wurde Farbe gekippt, und es wurden Reifen von Mitarbeitern zerstochen. Vgl. Fritz: Vorwurf Volksverhetzung (s. Fußnote 3), 368.

7  Vgl. Reinhard Mawick: Freispruch für Pastor Olaf Latzel. Bremer Landgericht spricht Pastor der St.-Martini-Gemeinde vom Vorwurf der Volksverhetzung frei, zeitzeichen-online vom 20.5.2022, https://zeitzeichen.net/node/9759.

8  Vgl. epd-Zentralausgabe vom 25.11.2020, Nr. 229, 2.

9  Vgl. www.queer.de/detail.php?article_id=37599.

10  Vgl. idea-Pressedienst vom 25.11.2020, Nr. 246, 3.

11  Zit. nach idea-Pressedienst vom 27.11.2020, Nr. 248, 2.

12  Vgl. zum Folgenden idea-Pressedienst vom 27.11.2020, Nr. 248, 2f.

13  David Wengenroth: Ein glattes Fehlurteil. Das Amtsgericht Bremen hat Olaf Latzel wegen Volksverhetzung verurteilt, in: idea-Pressedienst vom 26.11.2020, Nr. 247, 14.

14  Siehe Fußnote 5.

15  BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2018, Az. 1 BvR 2083/15 Rn. 27, NJW 2018, 2861 Rn. 27; zit. nach Wikipedia, Art. Volksverhetzung (s. Fußnote 5), Anm. 177.

16  BGH, Urteil vom 15. März 1994 - 1 StR 179/93, NStZ 1994, 390 (391) = BGHSt 40, 97 (102); zit. nach Wikipedia, Art. Volksverhetzung (s. Fußnote 5), Anm. 133.

17  BGH, Beschluss vom 28. Juli 2016, Az. 3 StR 149/16 Rn. 19 = NStZ-RR 2016, 369 (370); zit. nach Wikipedia, Art. Volksverhetzung (s. Fußnote 5), Anm. 136.

18  BGH, Urteil vom 27. Juli 2017, Az. 3 StR 172/17 Rn. 31, BeckRS 2017, 127495 Rn. 31; weitgehend übereinstimmend mit BVerfG, Beschluss vom 6. September 2000, Az. 1 BvR 1056/95 Rn. 37, NJW 2001, 61 (63); zit. nach Wikipedia, Art. Volksverhetzung (s. Fußnote 5), Anm. 164f.

19  BGH, Urteil vom 3. April 2008, Az. 3 StR 394/07 Rn. 18, BeckRS 2008, 6865 Rn. 18; zit. nach Wikipedia, Art. Volksverhetzung (s. Fußnote 5), Anm. 168.

20  Wunderlicherweise waren zur Klärung dieses Fragekomplexes vom Gericht im Vorfeld zwei theologische Gutachter bestellt worden. Kurios war dieses Verfahren zum einen, weil die juristisch einzig relevante Frage, ob es sich bei der betreffenden Bewertung der Homosexualität um einen Ausdruck individueller Böswilligkeit oder um eine geläufige Glaubensposition handelt, nicht anhand religionskundlicher Allgemeinbildung oder Internetrecherche beantwortet, sondern als wissenschaftliche Fachfrage behandelt wurde. Kurios war daran zum anderen, dass diese Fachfrage als Frage wissenschaftlicher Bibelauslegung betrachtet wurde: Die Gutachter sollten beantworten, ob man die Bibel im Sinne der betreffenden Sündenaussagen interpretieren könne oder nicht. Aber wer hätte angesichts der Millionen von Zeitgenossen, die die Bibel genau in dieser Weise interpretieren, gleichsam „gerichtsfest“ die absolute Illegitimität selbiger Lesart nachweisen sollen? Es wäre stattdessen angemessen gewesen, irgendeinen einigermaßen religions- oder konfessionskundlich bewanderten Beobachter der Gegenwart nach den Grundprinzipien und Grundlehren der evangelikalen Bewegung zu befragen. Man hätte sich dann auch das Hin und Her erspart, im Zuge dessen zuerst der (evangelikale) Theologe Christoph Raedel von der Freien Theologischen Hochschule Gießen zum Gutachter bestellt, dann aber wegen Befangenheitsverdächtigungen davon wieder entbunden wurde (vgl. idea-Pressedienst vom 5.10.2021, Nr. 205, 2), bevor Analoges der (demgegenüber sehr liberalen) Theologin Isolde Karle von der Universität Bochum widerfuhr (vgl. idea-Pressedienst vom 13.5.2022, Nr. 97, 2). Am Ende verdankte sich die Einsicht in die Möglichkeit der zur Debatte stehenden Bibelauslegung dem katholischen Exegeten Ludger Schwienhorst-Schönberger (Wien), dessen Gutachten ganz im Einklang mit dem Katechismus der katholischen Kirche stand.  – Der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig hat schon im Vorfeld „Befremden“ über die Anforderung theologischer Gutachten in dem Prozess bekundet (evangelisch.de, 1.9.2021; https://tinyurl.com/kz2pazu6): „Was die Bibel ‚wirklich‘ sagt, ist im säkularen Rechtsstaat nun wirklich keine sinnvolle Frage für ein Gerichtsgutachten“, so Heinig im epd-Gespräch. Dem ist selbstverständlich vorbehaltlos zuzustimmen. Allerdings ging es dem Gericht wohl auch nicht um diese Frage, sondern eben um die Frage der überindividuellen Vertretbarkeit der betreffenden Position. Aber dazu hat die Bibelwissenschaft nichts zu sagen, weil sie am Faktum der nichtwissenschaftlichen Bibelauslegung völlig vorbeigreift – wobei Letztere gleichwohl unter dem Schutz der Religionsfreiheit steht. Im Übrigen hat die Farce der bibelwissenschaftlichen Gerichtsgutachten einem Missverständnis des Verfahrens Vorschub geleistet, dem etwa die Kirchenpräsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche, Susanne Bei der Wieden, aufsaß, die verlauten ließ: „Das Bremer Urteil gibt einseitig einem platten Biblizismus recht“ (zit. nach epd-Zentralausgabe vom 23.5.2022, Nr. 99, 1). Natürlich wurde in dem Verfahren überhaupt keinem Bibelverständnis recht gegeben, vielmehr vergewisserte man sich mit groteskem Aufwand des Umstandes, dass die fragliche biblizistische Lesart nicht selten vertreten wird.

21  Vgl. zum Folgenden Dieter Sell: Freispruch für Bremer Pastor Latzel vom Vorwurf der Volksverhetzung. Landgericht der Hansestadt betont Religions- und Meinungsfreiheit, in: epd-Zentralausgabe vom 20.5.2022, Nr. 98, 1f; idea-Pressedienst vom 20.5.2022, Nr. 102, 2; ferner Mawick: Freispruch (s. Fußnote 7).

22  Vgl. Benno Schirrmeister: Christlich hassen ist legal. Bremer Landgericht kassiert die Verurteilung des Martini-Pastors Olaf Latzel: Er hatte auf biblischer Grundlage gegen Homosexualität gehetzt, taz-online vom 20.5.2022, https://taz.de/Freispruch-fuer-Olaf-Latzel/!5853386.

23  Zit. nach Sell: Freispruch (s. Fußnote 21), 2.

24  Zit. nach Schirrmeister: Christlich hassen (s. Fußnote 22).

25  Vgl. idea-Pressedienst vom 13.5.2022, Nr. 97, 2.

26  Vgl. epd-Zentralausgabe vom 25.5.2022, Nr. 101, 2.

27  Vgl. www.facebook.com/search/top/?q=Freispruch%20latzel; vgl. auch https://christliches forum.info/bremen-pastor-olaf-latzel-freigesprochen; www.kath.net/news/78448; https:// jungefreiheit.de/politik/deutschland/2022/latzel-freispruch-bremen.

28  www.facebook.com/search/top/?q=Freispruch%20latzel.

29  Siehe dazu Fritz: Vorwurf Volksverhetzung (s. Fußnote 3), 367.

30  Vgl. Martin Fritz: Im Bann der Dekadenz. Theologische Grundmotive der christlichen Rechten in Deutschland, EZW-Texte 273, Berlin 2021, bes. 87–101.

31  Die angedeuteten Wirkungen stellen grundlegende ethisch-theologische Anfragen an jede sexualethische Applikation des Sündengedankens. Überhaupt sind damit weitreichende Probleme der christlichen Sündenlehre berührt.