Neue religiöse Bewegungen

Shinchonji und das Coronavirus

(Letzter Bericht: 11/2019, 418) Shinchonji liebt Massenauftritte. Noch im November 2019 postete die koreanische Neureligion stolz Fotos einer riesigen Abschlusszeremonie, nachdem angeblich 100 000 Absolventen eine Prüfung bestanden hatten. Ihre Abschlusszeugnisse erhielten sie von Lee Man-hee, dem 88-jährigen verheißenen Pastor der Endzeit, der sich selbst als unsterblich bezeichnet. Das Motiv tausender dicht an dicht gedrängter, in einheitlich schwarze Roben gekleideter Mitglieder ging Anfang 2020 um die Welt. Allerdings nicht als gefeierter Bericht von der Abschlusszeremonie selbst, sondern im Zusammenhang der Corona-Pandemie. Denn nun standen vor dem Hauptquartier Shinchonjis in Daegu unter dem riesigen Werbeplakat Polizisten, die den Eingang absperrten, und in Schutzkleidung gehüllte Einsatzkräfte, welche die Umgebung desinfizierten.

Wie war es dazu gekommen? Am 20. Februar wurde das erste Mal berichtet, dass vor allem eine 61-jährige Shinchonji-Anhängerin nach einer China-Reise in der koreanischen Stadt Daegu für die Ausbreitung des Coronavirus verantwortlich sei. Sie wurde als sogenannter „Super-Spreader“ bezeichnet, also als eine Person, die besonders viele Menschen in ihrem Umfeld angesteckt habe. Ausgangspunkt war, dass sie zwar alle Symptome der Krankheit aufwies, sich jedoch zunächst trotz ärztlichen Rats nicht testen ließ, sondern weiter sowohl Shinchonji-Zusammenkünfte besuchte als auch in anderen Gemeinden missionierte. Es ist davon auszugehen, dass dies andere Shinchonji-Mitglieder ebenfalls taten.

Die Zahlen der Corona-Infizierten schnellten, ausgehend von Daegu, in Südkorea enorm in die Höhe. Der Staat ergriff schnell drastische Maßnahmen und untersagte alle Veranstaltungen und Versammlungen von Shinchonji im gesamten Land, zumal bekannt wurde, dass der Bruder Lee Man-hees verstorben war und bei seiner Beisetzung eine große Anzahl führender Shinchonji-Mitglieder aus der ganzen Welt anwesend gewesen waren.

Die Berichterstattungen in koreanischen Medien überschlugen sich in dieser Zeit, so wurde etwa davon berichtet, dass Lee Man-hee das Virus als „Werk des Teufels“ bezeichnet habe, der „in die Welt getreten sei, um die rasante Ausbreitung von Shinchonji zu stoppen“. Kurz darauf habe er seinen Mitgliedern geraten, „vermehrt andere Gottesdienste und Gemeinden aufzusuchen“. Dann hieß es wieder, Shinchonji kooperiere mit den Behörden und habe Mitgliederlisten weitergegeben. Kurz darauf erhoben aber Kritiker in der Öffentlichkeit den Vorwurf, Shinchonji arbeite eben nicht transparent mit staatlichen Einrichtungen zusammen, sondern gebe nur einen Teil der Daten heraus und betreibe „Untergrundmissionen“ und geheime „Bible-Study-Orte“ weiter. Angeblich sollte sogar der für die Bekämpfung der Virusausbreitung in Daegu zuständige Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Shinchonji-Mitglied gewesen sein, dies verheimlicht haben und später seines Amtes enthoben worden sein. Im Land machte sich zunehmend eine gereizte Stimmung bezüglich Shinchonji breit, in einer Petition forderten über eine Millionen Menschen vom Staat, gegen Shinchonji wegen „unmoralischer Lehre“ vorzugehen, denn die Anhänger seien Hauptverbreiter des Virus in Südkorea. Die Situation wurde dramatisch und auch medial unübersichtlich – es fällt schwer, hier noch Fakt von Fiktion und besonders Realität von wutgetränkter Berichterstattung mancher konfessionell geprägter Medien in Südkorea zu unterscheiden.

Auch in Deutschland wurden alle Shinchonji-Filialen, Einrichtungen und Missionen geschlossen. Allerdings wurden insbesondere die Anhänger in den Bibelkursen nicht über den eigentlichen Grund der Schließung informiert. In Berlin wurde ihnen etwa gesagt, die Räumlichkeiten seien wegen „Grundreinigung“ geschlossen, in Frankfurt hieß es, es fänden „Brandschutz- und Renovierungsarbeiten“ statt. Diejenigen, die die Bibelkurse in diesem Stadium bei sog. Fassadenorganisationen von Shinchonji besuchen, wissen in der Regel noch nicht, dass es sich um Missionierung der Neureligion handelt und bringen daher die Geschehnisse rund um Corona auch nicht mit Shinchonji in Zusammenhang. Alle weiteren Aktionen von Shinchonji, die Bibelkurse, Belehrungen, Prüfungen und Gottesdienste, finden weiterhin online statt.

In dieser unübersichtlichen Lage sticht ein Termin besonders hervor: Am 2. März gab Lee Man-hee eine denkwürdige Pressekonferenz vor dem Tor zu seinem Anwesen. Begleitet von wütenden Protestrufen Angehöriger und von Betroffeneninitiativen trat er vor die Kameras und entschuldigte sich für seine Religionsgemeinschaft. Er habe nie gedacht, dass so etwas passieren würde. Er kniete zweimal vor der Öffentlichkeit nieder. Diese Geste ist insofern bemerkenswert, als sie so gar nicht zu den sonstigen machtvollen Auftritten Lee Man-hees passt. Sie zeigt, in welch prekärer Situation sich die Neureligion befindet und wie sehr sie sowohl in der öffentlichen Kritik steht als auch Druck von staatlicher Seite bekommt. Denn vorausgegangen war eine Anklage der Stadt Seoul gegen Lee Man-hee und zwölf weitere Führungsmitglieder wegen Mordes. Begründet wurde diese Anklage damit, dass die Führung Shinchonjis nicht ausreichend mit den Behörden kooperiert habe, immer wieder falsche oder unzureichende Informationen weitergegeben habe und dadurch Menschen an Covid-19 hätten sterben müssen, weil sie nicht rechtzeitig behandelt werden konnten. Lee Man-hee wies diese Vorwürfe auf der Pressekonferenz zurück, gestand aber Versäumnisse ein und sicherte umfangreiche Kooperation mit den Behörden zu. Später wurde jedoch auch von anderen Führungsmitgliedern gesagt, dass zum einen Mitglieder nun eingeschüchtert seien und sich daher nicht öffentlich bekennen würden, und zum anderen sei es Privatsache der jeweiligen Menschen, wie sie sich verhalten würden.

Die Undurchsichtigkeit dieser Situation spiegelt sich übrigens auch in den schrittweise öffentlich gewordenen Mitgliederzahlen von Shinchonji wider. Der Staat hat ein komplettes Screening aller Anhänger angeordnet, was allein schon durch die unterschiedlichen Mitgliedschaftsstadien sehr schwierig ist. Zählt man nur die versiegelten Mitglieder oder auch diejenigen, die noch in Fassadenorganisationen aktiv sind und das selbst gar nicht wissen? Erstere werden mit ca. 266 000 in Südkorea angegeben, gemeinsamen mit letzteren spricht man von 310 000 Anhängern. Für den Rest der Welt liest man Zahlen von ca. 30 000 bis 40 000.

Mittlerweile wurden diverse internationale und deutsche Medien auf die Rolle Shinchonjis aufmerksam und berichteten in unterschiedlicher Qualität. Ebenso kann man dies auch für weitere Rezeptionen etwa aus dem religionswissenschaftlichen Bereich sagen. Die Einordnungen und Berichterstattungen schwanken von unreflektiert-reißerischen („Sekte soll Corona-Verbreitung nicht gestoppt haben – Mordermittlungen gefordert“) über differenzierte Berichte („Wie eine koreanische Sekte das Coronavirus verbreitete“) bis hin zu völlig unkritischen Darstellungen mithilfe ausschließlich eingeholter Primäraussagen oder Gesprächen mit Führungspersonen der südkoreanischen Neureligion, die teilweise eklatante Fehler aufweisen.

Ich will das Dilemma beispielhaft an einem Punkt deutlich machen: So wurde Shinchonji vorgeworfen, dass die Neureligion zur Ausbreitung des Virus beigetragen habe, weil die Anhänger in den Zusammenkünften eng auf dem Boden beieinander knien. Ja, das fördert eine Verbreitung des Virus, aber nicht nur bei Shinchonji-Veranstaltungen. Besucht man etwa charismatische Megachurches in Südkorea, findet man tausende Gläubige dicht an dicht beieinander Gottesdienste feiernd – das ist kein Alleinstellungsmerkmal von Shinchonji. Auf der anderen Seite agiert Shinchonji nachweislich intransparent, mit Tarnung und Täuschung, und lügt bewusst als Teil der Missionsstrategie. Dass Fassadenorganisationen von Shinchonji etwa in Deutschland mit dem Namen „Bible Center“ oder „Main Skylife“ überhaupt keinen Hinweis auf die eigentliche Zugehörigkeit zu Shinchonji geben und diese verschleiern, ist nicht tragbar. Und eine solche Grundhaltung ist in einer Situation wie der Corona-Pandemie absolut inakzeptabel und gefährlich.

Wichtig erscheint mir in diesem Kontext vor allem eine differenzierte Sicht der Dinge. Shinchonji-Mitglieder sind Opfer und Täter zugleich, und sie bedürfen einer besonderen seelsorglichen Zuwendung gerade in dieser heiklen Lage, in der ihnen nicht nur in Südkorea schwere Vorwürfe gemacht werden. Die Führungsriege der Neureligion jedoch muss sich nun mit schon lange im Raum stehenden schweren Vorwürfen auseinandersetzen. Ob ein wahrer „verheißener Pastor der Endzeit“ wohl wirklich in dieser Art und Weise agieren würde, müssen sich die oft doch sehr fanatischen Mitglieder fragen. Eine ehrliche Antwort darauf könnte ein ganzes Glaubenssystem mächtig ins Wanken bringen.


Oliver Koch, Frankfurt a. M., 06.05.2020