Edgar S. Hasse

Selbstbewusste Muslime

Konsequenzen aus dem Hamburger Staatsvertrag

„Die Verträge sind eine Geste“, hieß es in der Hamburger Senatskanzlei im August 2012 nach der Vorstellung der Entwürfe für die Staatsverträge mit drei muslimischen Verbänden und der alevitischen Gemeinde. Das Paragraphenwerk leiste einen „Beitrag zur Integration und zu gegenseitigem Verständnis“. Nach der Ratifizierung des bundesweit ersten Staatsvertrages mit muslimischen Organisationen durch die Bürgerschaft im Juni 2013 demonstrieren die rund 130 000 Muslime in Hamburg, in der von Säkularisierungsschüben geprägten Metropole1, im religionspolitischen Vollzug ein neues Selbstbewusstsein. Zwei wichtige Handlungsfelder sind gegenwärtig:

a) die muslimische Mitarbeit an der Neukonzeption des „Religionsunterrichts für alle“, der bisher in evangelischer Verantwortung durchgeführt wird und als „Hamburger Modell“ bekannt ist,

b) die Strategie, die Errichtung neuer Moscheen zu beschleunigen. Eine Studie über die räumliche Situation in den Hamburger Moscheen und Gebetsräumen hatte Ende 2013 dringenden Handlungsbedarf signalisiert sowie diskriminierende bauliche Zustände beschrieben.2 Im Folgenden wird der gegenwärtige Diskussionsstand auf diesen beiden Handlungsfeldern dargestellt.

Diversifikation muslimischen Lebens in Hamburg

Weil es keine offizielle Religionsstatistik für muslimische Vereine gibt, basieren die Zahlenangaben auf Schätzungen. Experten gehen von rund 130 000 bis 140 000 Muslimen aus, die in Hamburg leben.3 Gut drei Viertel gehören der sunnitischen Glaubensrichtung an; danach folgen Aleviten und Schiiten.4 Die Zuwanderung nach Hamburg begann bereits Ende der 1950er und in den frühen 1960er Jahren, insbesondere aus dem Iran, Afghanistan, Pakistan und der Türkei, sodass die erste Moschee 1957 in Hamburg-Stellingen gebaut wurde. Gritt Klinkhammer5, die das religionswissenschaftliche Gutachten im Kontext des Staatsvertrages vorlegte, weist auf die – im Unterschied etwa zu Köln stärker ausgeprägte – ethnische Vielfalt des Islam in der Hansestadt hin. Die Gläubigen haben ihre familiären Wurzeln in ganz verschiedenen Nationen, die den Iran, Pakistan, arabische Staaten und die Türkei genauso umfassen wie afrikanische Länder und Südostasien.

Staatsverträge hat die Hansestadt Hamburg mit dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), dem DITIB-Landesverband (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) und der Schura (Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg) sowie gesondert mit der alevitischen Gemeinde geschlossen. Dem DITB-Landesverband gehören nach eigenen Angaben rund 3000 ordentliche und 20 000 außerordentliche Mitglieder an; die Aleviten haben rund 30 000 Mitglieder. VIKZ, DITIB und Schura beanspruchen, rund 90 Prozent von 100 000 Hamburger Muslimen zu vertreten. Insgesamt, so die Schätzungen, fühlen sich rund 50 000 Menschen in Hamburg einer Moschee verbunden; hinzu kommen die Muslime ohne Religionsausübung.6

Zur Genese des Staatsvertrags

Die Diskussionsanfänge gehen auf die interreligiösen Gespräche an der Universität Hamburg in den 1980er Jahren und die Gründung des „Interreligiösen Forums“ im Jahr 2000 zurück, die dazu beigetragen haben, in der Metropole mit mehr als 100 verschiedenen religiösen Gemeinschaften ein Klima gegenseitigen Respekts und Vertrauens zu schaffen. Der entscheidende politische Vorstoß kam im Jahr 2006 vom damaligen Ersten Bürgermeister Ole von Beust (CDU); er sorgte wegen seiner Singularität damals für bundesweites Aufsehen. Ein rechts- und religionswissenschaftliches Gutachten7 klärte wenig später die offenen Fragen; die Verhandlungspartner unterzeichneten den Vertrag am 13. November 2012.

Obwohl es sich im Titel des Paragrafenwerks um einen „Vertrag“ (nicht um einen Staatsvertrag) handelt, hat sich sowohl in der Kommunikation des Senats als auch in der gesellschaftlichen (inklusive der muslimischen Wahrnehmung) der Begriff „Staatsvertrag“ etabliert. Einen entscheidenden Impuls dafür kam durch das erwähnte Gutachten von Gritt Klinkhammer und Heinrich de Wall, die explizit den Terminus „Staatsvertrag“ verwenden. Es bleibt bis heute eine Unschärfe in der Sache und in dieser Terminologie, denn das Paragraphenwerk regelt deklaratorisch in weiten Teilen die bereits praktizierte Lage – zum Beispiel, dass muslimische Kinder einen freien Schultag im Falle von religiösen Feiertagen nehmen dürfen. Offenbar bestand das Interesse der muslimischen Verbände und des Hamburger Senats darin, mit der evangelischen Kirche gleichrangig behandelt zu werden. 2005 hatte der Senat mit der evangelischen Kirche einen (lange nicht als notwendig empfundenen) Staatsvertrag geschlossen, der regelt, was bereits gängige Praxis war und ist.

Die Verbände werden im Staatsvertrag den Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht gleichgestellt. Demzufolge wurden keine hoheitlichen Befugnisse und keine besonderen Privilegien wie Steuererhebung, Beschäftigung von Beamten und Befreiung von Gebühren vereinbart. Festgeschrieben sind unter anderem die gleichberechtigte Beteiligung der Religionsgemeinschaften in gemischtkonfessionellen Klassenverbänden (Artikel 6, Absatz 1) und ungeachtet dieser Vereinbarung das Recht der islamischen Gemeinschaften, einen besonderen islamischen Religionsunterricht verlangen zu können (Artikel 6, Absatz 2). Zudem gewährleistet die Freie und Hansestadt Hamburg den islamischen Religionsgemeinschaften das Recht, Moscheen zu errichten und diese mit Kuppeln und Minaretten auszustatten (Artikel 9, Absatz 2). Die Stadt werde den Bedarf an Grundstücken, insbesondere bei der Erschließung neuer Stadtteile, nach Maßgabe des geltenden Rechts berücksichtigen (Artikel 9, Absatz 4).

Zur Situation von Moscheen und Gebetsräumen

Dass die Moscheen an die räumlichen Grenzen ihrer Kapazitäten gelangt sind, macht die Ende vergangenen Jahres vorgelegte Studie „Moscheen und Gebetsräume in Hamburg“8 deutlich. Es handelt sich um die bundesweit erste Untersuchung dieser Art in einer Großstadt. Die Untersuchung wurde im Auftrag von Schura, DITIB und VIKZ im Zeitraum Januar bis März 2010 durchgeführt und mit 4000 Euro vom Senat unterstützt. Es wurden 42 der insgesamt mehr als 50 in Hamburg aktiven Moscheegemeinden zur räumlichen Situation, zur Gemeindegröße und zum Gemeindeprofil befragt. Nicht erfasst sind die alevitischen Cem-Häuser, der Sufi-Orden sowie weitere Gemeinschafen. Außerdem führten die Autoren der Studie persönliche Gespräche in den Gemeinden durch, vor allem mit dem Imam. Das Fazit der Erhebung: „Die Gespräche vor Ort mit den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern machten deutlich, dass fast jede Moschee einen großen Bedarf an zusätzlichem Raum hat ... Viele der rund 50 Gebetsräume und Moscheen in Hamburg fristen ein Hinterhofdasein. Mit der zunehmenden Integration der Gemeindemitglieder in die deutsche Gesellschaft wachsen jedoch auch die Ansprüche an die Räumlichkeiten als Orte der Religionsausübung und des Gemeindelebens.“9 Denn die Moscheen seien nicht allein Stätten des Gebets, sondern hätten multifunktionale Aufgaben wie Kinder-, Jugend-, Frauen- und Bildungsarbeit.

Nach Angaben der Autoren liegen die Moscheen überwiegend in den Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil. Während die Centrum Moschee in der Böckmannstraße (St. Georg) – das Gebäude war früher eine Badeanstalt – mit Minaretten und Kuppel deutlich als muslimisches Bauwerk zu erkennen ist, verzichten die meisten Moscheen bei der äußeren Gestaltung auf derlei Symbolik. Die westafrikanische Rahma Moschee habe nicht einmal ein Schild am Briefkasten. Stattdessen konzentrieren sich die Moscheegemeinden auf die „innere Ausformung der Räume, insbesondere des Gebetsraumes. Hier werden aus der Heimat bekannte Fliesen eingesetzt, Teppiche sowie importierte, aus Holz künstlerisch gestaltete Gebetsnischen oder Kanzeln.“10 Prekär ist die räumliche Situation formal deshalb, weil es sich bei den heutigen Moscheen um früher anderweitig genutzte Gebäude handelt. Oft waren sie Gewerberäume – eine Spielhalle, Läden, Werkstätten, Garagen, Gaststätten, ein Maklerbüro – oder eine evangelische Kirche. Gegenwärtig wird die frühere Kapernaum-Kirche im Stadtteil Hamburg-Horn, 2004 aus Kostengründen stillgelegt, entwidmet und an einen Investor verkauft, von der Islamischen Al-Nour-Gemeinde für 1,5 Millionen Euro zur Moschee umgebaut. Das Kreuz auf dem Kirchturm wird durch den Halbmond ersetzt. Da es sich um ein denkmalgeschütztes Gebäude handelt, sind weitere äußere Veränderungen kaum möglich. Die Al-Nour-Gemeinde traf sich bislang in einer Garage. Die in der Studie untersuchten Moscheen haben eine Gesamtfläche von 23 466 Quadratmetern – das sind im Mittel 559 Quadratmeter pro Moschee.11 Die kleinste Moschee in Kirchdorf umfasst gerade mal 100 Quadratmeter. An den Freitagsgebeten nehmen pro Gemeinde durchschnittlich 291 Gläubige teil; an den großen Feiertagen sind es im Mittel 600.

Bemerkenswert an der Darstellung der Autoren ist, dass sie das religiöse Leben der Muslime in Beziehung zu statistischen Daten der evangelischen und katholischen Kirche setzen. Ihr Fazit: „Die jungen islamischen Gemeinden haben insgesamt zum Freitagsgebet etwa so viele Besucher wie die christlichen Kirchen zum sonntäglichen Gottesdienst.“12 Die Moscheen seien freilich mehrfach überbelegt, die Gläubigen beteten auch auf Fluren, in Kellern, Höfen und Vorgärten. An den beiden großen Feiertagen Fastenbrechenfest und Opferfest nähmen in den analysierten Gemeinden 25 220 Gläubige teil – doppelt so viele wie am Freitagsgebet. Insgesamt, so das Fazit, könne man „durchweg von einem akuten Raummangel“13 sprechen.

„Religionsunterricht für alle“

Gegenwärtig arbeiten die protestantischen Kirchen (lutherische, reformierte, freikirchliche) gemeinsam mit den muslimischen Verbänden, der alevitischen und der jüdischen Gemeinde an der Weiterentwicklung des dialogischen „Religionsunterrichts für alle“, der im Klassenverband stattfindet, eine geringe Abmeldequote aufweist und bisher von der evangelischen Kirche verantwortet wird. Nach Ansicht von Sprengelbischöfin Kirsten Fehrs ist es noch offen, ob in den kommenden Monaten tatsächlich ein funktionierendes Modell entwickelt und schließlich von Gutachtern positiv bewertet werden wird.14

Strategie der gemischten Kommission ist es, zuerst die Inhalte (Unterrichtseinheiten) zu entwickeln und danach über die didaktische und personelle Umsetzung zu entscheiden. Erste Erprobungen sollen im Schuljahr 2014/2015 an zwei Hamburger Schulen durchgeführt werden; die Unterrichtsinhalte werden von den beteiligten Religionsgemeinschaften und der Schulbehörde verantwortet. Einigkeit herrscht auch darin, dass es künftig eine universitäre Ausbildung von islamischen und alevitischen Religionslehrern geben soll. Bischöfin Fehrs wies in ihrem Sprengelbericht zudem auf verbreitete Ängste vor möglichen Indoktrinationen hin, wenn Lehrer aus nichtchristlichen Religionen im „Religionsunterricht für alle“ tätig werden.

Nach Ansicht von Beobachtern ist ein islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zunächst ausgeschlossen. Die katholische Kirche hält derweil weiterhin an ihrem eigenen konfessionellen Religionsunterricht fest.

Neues Selbstbewusstsein – die Konsequenzen

1. Mit Hinweis auf den Staatsvertrag kündigen die islamischen Verbände den Bau neuer Moscheen an.15 Der Senat verspricht, die Suche nach Grundstücken konstruktiv zu begleiten. Außerdem fordern die Verbände, die Errichtung von Moscheen künftig in die Stadt- und Standortplanung einzubeziehen und dafür in der Stadtentwicklungsbehörde sowie in den Stadtbezirken einen Moscheebau-Beauftragten zu installieren.16 Allerdings gibt es offenbar nach Ansicht von muslimischen Vertretern immer noch Probleme mit behördlichen Genehmigungen für Neubauten.17

2. Die muslimischen Repräsentanten betrachten es als Prestigegewinn, endlich an der Weiterentwicklung des Religionsunterrichts für alle mitzuarbeiten. „Die durch den Staatsvertrag erweiterten Integrationsmöglichkeiten stellen die Muslime in Hamburg allerdings vor große personelle Herausforderungen. Für die Mitarbeit an der Neukonzeption des Religionsunterrichts sind sie auf sachkundige und didaktisch versierte ehrenamtliche Mitarbeiter angewiesen – und die fehlen häufig.

3. Das neue Selbstbewusstsein der Muslime muss daher durch weitere Professionalisierung in den einzelnen Verbänden ergänzt werden. Die im Staatsvertrag festgeschriebene Integration sollte im praktischen Vollzug mit stärkerer religionspädagogischer Kompetenz (Religionsunterricht) und mit besserer Transparenz sowie Kooperationsbereitschaft (Moscheen und Gebetsräume) einhergehen. Das friedliche Zusammenleben der Menschen kann nur gelingen, wenn der Neubau von Moscheen von den Anwohnern in den einzelnen Stadtteilen weithin akzeptiert und interessiert begleitet wird. Das setzt eine Öffnung und Offenheit der muslimischen Moscheegemeinden voraus. Noch immer werden zu wenige Freitagsgebete ins Deutsche übersetzt.


Edgar S. Hasse, Hamburg


Anmerkungen

  1. Vgl. Edgar S. Hasse, Christliche Säkularität. Was glauben die Hamburger?, in : MD 7/2013, 250-255.
  2. Vgl. Marion Koch/Joachim Reinig, Moscheen und Gebetsräume in Hamburg. Untersuchung der räumlichen Situation (im Auftrag von Schura, DITIB und VIKZ), Hamburg 2013.
  3. Vgl. Riem Spielhaus, Die Entstehung der Schura in Hamburg, in: dies., Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Zuschreibung, Würzburg 2011, 111.
  4. Vgl. dazu die bundesweiten Zahlen in der 2009 vorgelegten Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu Muslimen in Deutschland. Danach bilden Sunniten (72 Prozent) die Mehrheit; Aleviten stellen 14 Prozent und Schiiten 7 Prozent der Muslime.
  5. Vgl. www.hamburg.de/contentblob/3620004/data/download-religionsgutachten.pdf  (Abruf: 15.1.2014).
  6. Vgl. Marion Koch/Joachim Reinig, Moscheen und Gebetsräume in Hamburg, a.a.O., 11.
  7. Vgl. Gritt Klinkhammer/Heinrich de Wall, Staatsvertrag mit Muslimen in Hamburg. Die rechts- und religionswissenschaftlichen Gutachten, Bremen 2012.
  8. Vgl. Marion Koch/Joachim Reinig, Moscheen und Gebetsräume in Hamburg, a.a.O.
  9. Ebd., 7f.
  10. Ebd., 16.
  11. Vgl. ebd., 18.
  12. Vgl. ebd., 7. Die Studie geht von 17 000 sonntäglichen Gottesdienstbesuchern in Hamburg aus. Die-
    se Zahl beziehen sie auf „alle Christen“ in der Hansestadt.
  13. Vgl. ebd., 27.
  14. Vgl. www.nordkirche.de/pressestelle/pressemitteilungen/detail/gottes-wort-in-herz-und-hand-kraftspendend-und-lebensnah.html (Zugriff 19.01.2014).
  15. www.abendblatt.de/hamburg/article121036653/Muslime-planen-Moschee-Neubauten-in-Hamburg.html  (Zugriff 19.1.2014).
  16. Vgl. Marion Koch/Joachim Reinig, Moscheen und Gebetsräume in Hamburg, a.a.O., 30.
  17. Vgl. Edgar S. Hasse, Staatsvertrag mit Muslimen zeigt Erfolg, in: Hamburger Abendblatt, 7.10.2013, 17.