Michael Nüchtern

Schöne Verweltlichungen. Biblische Gestalten in der Literatur

Michael Nüchtern, Schöne Verweltlichungen. Biblische Gestalten in der Literatur, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 2010, 96 Seiten, 14,90 Euro.


Michael Nüchtern hat in den Monaten vor seinem viel zu frühen Tod am 7. Juli 2010 dieses Buch noch abschließen können. Es dokumentiert zentrale Anliegen seiner Theologie in gut verständlicher und konzentrierter Sprache. Es zeigt ihn als leidenschaftlichen Brückenbauer zwischen Kirche und Welt, zwischen Religion und Kultur, zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Mit Säkularisierung wird oft jener Prozess beschrieben, der in der europäischen Neuzeit „zu einer immer größeren Selbständigkeit und Autonomie der Lebensgestaltung gegenüber kirchlichen und religiösen Normen und Sinngebungen geführt hat“ (9). Michael Nüchtern versteht in diesem Buch Säkularisierung als etwas zu Begrüßendes. Es geht ihm um „Schöne Verweltlichungen“, wie es im Buchtitel heißt. Sie unterscheiden sich von dem, was unter Säkularisierung meist verstanden wird. Sein Augenmerk ist nicht auf den Bedeutungsverlust der christlichen Religion im Alltagsleben vieler Menschen gerichtet, sondern darauf, die weltliche Wirkungsgeschichte biblischer Gestalten aufzuspüren und zu entdecken. Säkularisierung wird also im Sinne der geistigen Umformung „ursprünglich christlicher Motive und Sinngehalte außerhalb des im engeren Sinne religiösen Bereichs“ (9) verstanden.

Mit diesen Überlegungen tritt der Autor einer Gegenwartswahrnehmung entgegen, die vor allem den Abbruch der christlichen Tradition registriert, nicht aber die säkulare Wirkungsgeschichte biblischer Erzählungen und Gestalten. Auch in einer säkularisierten Kultur wird auf biblische Sprachformen, Motive und Gestalten wie Adam und Eva (11-24) vielfältig zurückgegriffen. Gewagte Neuinterpretationen und Verfremdungen werden vorgenommen, etwa bei John Milton, Heinrich Heine und Mark Twain. Als weiteres Beispiel werden weltliche Rezeptionen und Umdeutungen der Josephsgeschichte vorgestellt (25-52), bei Johann Wolfgang von Goethe, Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, Thomas Mann u. a. Auf die Gestalt Hiobs (53-59) wird in Joseph Roths Roman ein neuer Blick geworfen, der den biblischen Stoff in der Gegenwart „veralltäglicht“ (55). Weltliche Wirkungsgeschichten werden im Blick auf Mutter Maria, „die reine Magd“ (61-72), und im Blick auf „Jesus außerhalb der Kirche“ (73-86) aufgezeigt.Im Ausblick des Verfassers ist seine zentrale Absicht noch einmal zusammengefasst: „Biblische Motive und Geschichten leben in der Neuzeit in der Kultur vielfältig fort. Sie erfahren hier eine eigenständige Weise der Bearbeitung und erinnernden Vergegenwärtigung“ (88). Die säkulare Welt, in der wir leben, kann man nicht begreifen, ohne die zahlreichen Verweltlichungen der christlichen Tradition in ihr wahrzunehmen. In bemerkenswerter Entdeckerfreude und Konzentration beschreibt der Autor, dass biblische Stoffe „im nichtkirchlichen Zusammenhang Material für ‚eigentheologische’ Anstrengungen geworden sind“ (88f). Die Entdeckungsreise des Autors ist nicht absichtslos. „Niemand säkularisiert biblische Gehalte ohne die zumindest mögliche Nebenwirkung, dass die Kraft des Urbilds sich durchsetzen kann“ (24). Für die Weitergabe des christlichen Glaubens in einer durch fortschreitende Säkularisierungsprozesse geprägten Welt geben die einzelnen Beiträge wichtige Impulse. Michael Nüchtern hat das theologische Nachdenken in den Dienst kirchlicher Verantwortung gestellt.


Reinhard Hempelmann