Schiitischer Islam (Schia)

Was unterscheidet Sunniten und Schiiten? Warum tragen die beiden islamischen „Konfessionen“ auf der politischen Weltbühne erbitterte Konflikte aus? Im Jemenkrieg (seit 2015) spielt der eskalierende Wettstreit zwischen dem sunnitisch regierten Saudi-Arabien und dem schiitisch regierten Iran um die regionale Vorherrschaft eine wichtige Rolle. Zugleich haben Schiiten und Sunniten in ihrer alltäglichen Religionspraxis viele Gemeinsamkeiten.

Die große Mehrheit der hiesigen Muslime ist sunnitisch, vor allem türkischer und arabischer Herkunft. In den letzten Jahren werden die Schiiten jedoch sichtbarer und nehmen aktiv an der Gestaltung des islamischen Lebens in Deutschland teil, indem sie zum Beispiel eigene schiitische Organisationen und Einrichtungen etablieren. Der gegen Israel und dessen Existenzrecht gerichtete Al-Quds-Tag in Berlin wird von Schiiten unterstützt, die die vom iranischen Revolutionsführer Khomeini 1979 eingeführte Propagandaveranstaltung auch hier durchführen. Seit einiger Zeit kann man auch in Deutschland Zeuge eigenartiger Prozessionen werden, bei denen sich Männer mit Schwertern ritzen oder den nackten Oberkörper blutig schlagen.

Geschichte

Die Entstehung des schiitischen Islam geht auf einen politischen Konflikt in der Frühzeit des Islam zurück. Religiöse Differenzen kamen später hinzu. Muhammad starb nach schiitischer wie sunnitischer Auffassung im Jahr 632 nach Christus. Unmittelbar nach seinem Tod kam es zur Auseinandersetzung über seine Nachfolge. Der Prophet gehörte zum Clan der Haschimiten vom Stamm der Quraisch, der in Mekka das Sagen hatte. Von einflussreichen Mitgliedern der Quraisch wurde er erzogen. Die Schiiten glauben, Muhammad habe Ali – sein Vetter, Schwiegersohn und Begründer der Schia –, vor seinem Tod als Nachfolger designiert (daher das Ghadir-Khumm-Fest). Indessen wurde noch vor der Beerdigung Abu Bakr zum Nachfolger (Kalif, arab. khalifa) ausgerufen. Auch der zweite (Umar) und der dritte Kalif (Uthman, Osman) waren nach schiitischer Auffassung unrechtmäßig. Uthman gehörte zum Clan der Umayyaden, dem Zweig der Quraisch, der erst sehr spät zum Islam gekommen war und dem man bald Opportunismus und Vetternwirtschaft vorwarf. Die Spannungen zwischen der mekkanischen Stadtaristokratie und deren Gegnern in den Reihen der Muslime traten mit Macht hervor. Nach der Ermordung Uthmans 656 kam Ali als der für die Sunniten vierte „rechtgeleitete“ und für die Schiiten erste anerkannte Kalif zum Zug. Ein Teil der Umayyaden stellte sich unter der Führung von Uthmans Vetter Muawiya gegen Ali und seine Anhänger, die schiat Ali „Partei Alis“ genannt wurden, wovon sich Schia/Schiiten ableitet. Es kam zum bewaffneten Konflikt, der mit einem Schiedsgericht beendet wurde (Siffin 657). Muawiya sah sich gestärkt und ließ sich zum Kalifen erheben – die Spaltung war perfekt. Ali wurde 661 von einem jener ehemaligen Gefolgsleute ermordet, die die Annahme des Schiedsgerichts als Verrat ablehnten. So starb schon der erste Imam – bei den Schiiten der legitime religiöse und politische Führer in der Nachfolge Muhammads – den Märtyrertod.

Alis Sohn Hasan war der zweite Imam, verzichtete aber auf Herrschaftsansprüche und zog sich mit einer finanziellen Abfindung zurück. Zwischen seinem Bruder Husain, dem dritten Imam, und dem „Usurpator“ Yazid, dem Sohn Muawiyas, kam es zur blutigen Entscheidung. Husain wurde von angeblichen Verbündeten im Stich gelassen und bei Kerbela (Irak) mit seiner hoffnungslos unterlegenen kleinen Schar niedergemacht. Der Tag seiner Ermordung bzw. seines Martyriums ist der Aschura-Tag (10. Muharram), der zentrale Tag des schiitischen religiösen Kalenders. Mit dem Umayyaden Yazid setzte sich das dynastische Prinzip durch. Die Schia bestand auf der Blutsverwandtschaft mit Muhammad als Voraussetzung für das Imamat.

In der Auseinandersetzung um das Imamat entstanden verschiedene schiitische Richtungen. Die Zaiditen berufen sich auf Zaid, den Enkel Husains und Halbbruder des fünften Imams, der bei einem gescheiterten Aufstand gegen die Umayyaden ums Leben kam. Besonderheiten ihrer Lehre beziehen sich auf die Anerkennung der ersten beiden Kalifen und darauf, dass der wahre Imam der ist, der sich tatsächlich durchsetzt. Sie kennen keine Endzeiterwartung (Mahdi, s. u.) und haben eine eher pragmatische und rationalistische Auslegung. Zaiditen leben heute vor allem im Jemen und unterscheiden sich kaum mehr von Sunniten.

Der sechste Imam, Dscha‘far as-Sadiq (gest. 765), gilt als der Begründer des schiitischen Rechts, weshalb die Schia in Analogie zu den vier sunnitischen Rechtsschulen auch „dscha‘faritische Schule“ genannt wird. Nach Dscha‘fars Tod erwartete eine Gruppe die Rückkehr seines Sohnes Ismail, der schon vor seinem Vater gestorben war. Die meisten scharten sich jedoch um Musa al-Kazim (der 7. Imam). Diese Gruppierung entwickelte sich weiter zur stärksten schiitischen Strömung, der Zwölfer-Schia (s. u.).

Die Ismailiten hingegen betrachten Ismail als den rechtmäßigen Nachfolger im Imamat, daher werden sie – aus Binnensicht unzutreffend – auch „Siebener-Schiiten“ genannt. Sie nahmen eine eigene Entwicklung, Karim Aga Khan IV. ist heute der 49. Imam der Ismailiten. Ihre Lehre von sechs Propheten und deren jeweiligen „Bevollmächtigten“, die den inneren und eigentlichen Sinn der Religion nur einem Kreis von Eingeweihten offenbaren, ist stark gnostisch und neuplatonisch beeinflusst. Der wiederkommende Mahdi wird die Urreligion des Paradieses wiederherstellen. Charakteristisch ist die Aussendung der „Rufer“ (Da‘i, Da‘wa „Werbung“) zur Verbreitung der Lehren. Die ismailitischen Fatimiden herrschten ab dem 10. Jahrhundert über Ägypten (Gründung der al-Azhar-Universität) und weit darüber hinaus – das große und einzige schiitische Kalifat in der islamischen Geschichte. Aus den Ismailiten gingen die Drusen hervor, später auch die anfangs revolutionär agierenden Nizariten (Assassinen, die sich selbst „Opferbereite“, Fedajin, nannten).

Weitere und entferntere Entwicklungen aus „extremschiitischen“ Milieus (ghulat = „Übertreiber“) stellen die Alawiten und dann die Aleviten dar.

Die Zwölfer-Schiiten

Die Hauptströmung der Schiiten sind die heutigen Imamiten, auch Zwölfer-Schiiten genannt, da sie die Imame bis zum zwölften Imam zählen. Wenn wir allgemein von Schiiten reden – so auch im Folgenden –, ist diese Richtung gemeint, auch was die Zählung der Imame anbetrifft.

Der zwölfte Imam verschwand nach schiitischer Überzeugung im Jahr 874 als Fünfjähriger, er ist seitdem „abwesend“ und hält sich verborgen (ghaiba). Er heißt Muhammad al-Mahdi, „der Rechtgeleitete“; wenn er wiederkommt, wird er die Schiiten zum Sieg über alle Widersacher führen und vollkommene Gerechtigkeit herstellen. Die Erwartung der eschatologischen Rettergestalt hat Parallelen in der jüdischen Messias- und der christlichen Parusieerwartung. Die Verborgenheit des Imams als zentraler Topos der schiitischen Lehre musste enorme Auswirkungen auf die Frage einer legitimen Herrschaft auf Erden haben, die bis zur Wiederkehr des Mahdi der ausdrücklichen Autorisierung bedarf, denn während seiner Abwesenheit herrschen allgemein Tyrannei und Unrecht. Die Schiiten akzeptierten faktisch die Herrschaft der Sunniten und nahmen weithin eine pragmatische unpolitische, ja quietistische Haltung ein. Die Kooperation mit den jeweiligen Machthabern war gleichwohl möglich, auch unter Rückgriff auf die schiitisch weithin geübte Taqiyya (Vorsicht, Furcht), d. i. die religiös legitimierte Verheimlichung des eigenen Glaubens im Fall der Gefahr.

Eine neue Situation entstand, als die Zwölfer-Schia mit den Safawiden im 16. Jahrhundert im Iran Staatsreligion wurde. Die Endzeitnaherwartung verlor ihre Kraft, die Gelehrten konnten mit staatlicher Rückendeckung ihre Auffassungen von islamischer Rechtgläubigkeit vertreten. Schon früh wurden die Weichen für die Rolle des Gelehrtenstandes als kollektiver Stellvertreter des wahren Herrschers (des verborgenen Imams) gestellt. Bis Ende des 18. Jahrhunderts verstärkten die Rechtsgelehrten ihre Stellung.

Eine revolutionäre Umdeutung des Schiismus nahm Ayatollah Ruhollah Khomeini (1902 – 1989) vor. Er entwickelte das politische Konzept der „Herrschaft des Rechtsgelehrten“ (velayat-e faqih) in Vorwegnahme der Herrschaft des endzeitlichen Imam (s. u.). Auch der Märtyrergedanke war davon betroffen. Es sei nicht genug, der schiitischen Märtyrer zu gedenken, vielmehr müssten die Muslime bereit sein, im politischen Kampf zu Märtyrern zu werden. Wegbereiter der Revolutionsideologie war Ali Schariati (1933 – 1977), der zum Kampf gegen die Despotie des Schahs und die „Verwestlichungsseuche“ aufrief und dafür die junge Generation, Linke wie Islamisten, gewann. Die Islamische Republik Iran, das erste islamistische Staatssystem, wurde am 1. April 1979 ausgerufen.

Lehre und Praxis

Die herausragende Stellung Alis und seiner Nachkommenschaft (ahl al-bait) wird mit der ausdrücklichen Designation durch Muhammad begründet und mit verschiedenen Koranversen untermauert (z. B. Sure 5,55; 33,33; 42,23; 2,34.124). Schiiten und Sunniten werfen einander vor, den Koran und die Überlieferungen falsch auszulegen oder Teile unterschlagen zu haben, bis hin zu dem Vorwurf, die Sunniten hätten den Korantext verfälscht. Die Schiiten legen besonderen Wert auf den „inneren Sinn“ (batin) des Korans.

Die zwölf Imame gelten zusammen mit Muhammad und seiner Tochter Fatima (der Ehefrau Alis) als die „Vierzehn Unfehlbaren“. Allein dem Ahl al-Bait wird Reinheit zugeschrieben. Juden und Christen galten über Jahrhunderte (bis in die 1990er Jahre) als kultisch unrein.

Zur Ausübung der gerechten Herrschaft, in der religiöse und politische Führung zusammenfallen, sind nur die Imame in der Lage, da sie allein sündlos und ohne Irrtum sind. Aus der Gerechtigkeit Gottes und dem gerechten Handeln Gottes wird letztlich die Notwendigkeit des Imamats wie auch im Einklang mit mu‘tazilitischen Lehren eine rationale Durchdringung der Schöpfung sowie die Willensfreiheit abgeleitet. Denn nur so können die Gebote Gottes recht erkannt und befolgt werden. Da der Imam abwesend ist, kommt den Rechtsgelehrten eine besondere Rolle zu. Als Interpreten des Imam haben sie gleichsam an dessen unfehlbarer Interpretation Anteil und sind somit die Gerechtesten unter den Fehlbaren. Hier kommt der Idschtihad ins Spiel, die eigene Rechtsfindung der Gelehrten, die viel stärker als im Sunnitentum zur Geltung kommt und – zumindest theoretisch – eine große Freiheit und Flexibilität in der Interpretation mit sich bringt, da der Vernunftgebrauch von zentraler Bedeutung ist. Zugleich tritt eine strenge Scheidung zwischen der klerikalen Hierarchie der Rechtsgelehrten (Mullah, Mudschtahid, Hodschatoleslam, Ayatollah, Mardscha'-e Taqlid „Quelle der Nachahmung“) und den religiösen Laien hervor, welche selbst keinerlei derartige Befugnis haben, sondern der bloßen „Nachahmung“ (taqlid) unterworfen sind und sich einer religiösen Autorität anschließen müssen. Diese Sicht setzte sich geschichtlich durch und sorgte für immer größere Machtfülle der Gelehrten. Besonders fähige und angesehene Geistliche haben auf diese Weise großen, auch politischen Einfluss (heute sind die bedeutendsten Gelehrten Ayatollah Khamenei/Iran, Sistani/Irak und Fadlallah/Libanon). Der Gedanke, der gelehrteste von ihnen verfüge letztlich über die Religionsinterpretation und sei wohl auch zur politischen Führung bestimmt, lag von hier aus nicht mehr fern. So konnte sich Khomeinis Konzept der stellvertretenden „Herrschaft des (höchsten) Rechtsgelehrten“ (velayat-e faqih) durchsetzen, das Grundlage der iranischen Revolution und der heutigen theokratischen Regierungsform im Iran ist.

Die schiitische Religiosität ist aufs Engste mit der Katastrophe von Kerbela verbunden, dem Märtyrertod Husains und damit zugleich dem politischen Scheitern der Schia. Der Verrat an Husain durch seine Parteigänger wird als kollektive, historische Schuld empfunden, weshalb die schiitische Gemeinde bis heute Buße tut. In großen, Passionsspielen ähnlichen Feierlichkeiten wird alljährlich am Aschura-Tag des Leidens gedacht, das den Charakter eines stellvertretenden Leidens und eines Selbstopfers des sündlosen Gerechten für die Muslime angenommen hat. Der Imam nimmt eine Mittlerrolle zwischen Gott und Menschen ein und ist Fürsprecher für die Gläubigen bei Gott, was eine tiefe Heiligenverehrung und ein ausgeprägtes Wallfahrtswesen zur Folge hat. Durch Bußrituale wie Selbstgeißelung u. a. erklären die Gläubigen sich in Trauer und Schmerz solidarisch und selbst zum Martyrium bereit. So kann der Gläubige seine Schuld ablösen und sein Leiden verkürzen.

In der Alltagspraxis und in Rechtsfragen gibt es in vielem grundlegende Gemeinsamkeiten mit den Sunniten. Kleine Unterschiede machen sich bemerkbar und führen immer wieder zu heftiger Polemik. Die meisten Schiiten beten dreimal am Tag, da sie die fünf Gebetseinheiten zusammenlegen. Der schiitische Gebetsruf unterscheidet sich leicht vom sunnitischen. Ebenso hat das Glaubensbekenntnis der Schiiten den Zusatz „Und Ali ist der Freund Gottes“. Schiiten benutzen für die Niederwerfung im Gebet ein Lehmtäfelchen (muhr), das – möglichst – aus der Erde von Kerbela hergestellt ist, da man seine Stirn auf reine Erde legen soll.

Die Zeitehe (auch „Genussehe“, mut'a / sighe) ist bei Sunniten nicht unbekannt, wird aber vor allem von Schiiten befürwortet. Dabei handelt es sich um eine vereinfachte Form der Eheschließung von begrenzter Dauer mit Entlohnung der Ehefrau, die von Muhammad praktiziert worden und daher auch heute erlaubt, ja empfohlen sei. Schiiten legen das Bilderverbot des Islam nicht sehr streng aus, zumindest sind Abbildungen Alis beliebt und häufig auf Halsanhängern o. Ä. zu sehen.

Insgesamt bieten die Betonung der Rationalität der Schöpfung und der Bedeutung der Interpretation durch die Theologen in der Zeit der Abwesenheit des Imams sowie die Leidenstheologie wie auch die Passionsfrömmigkeit interessante Anknüpfungspunkte für den christlich-schiitischen Dialog. Allein schon die Einsicht, dass hier ein in vieler Hinsicht anderes Denken und Fühlen vorliegt als im für uns allgemein bekannteren sunnitischen Bereich, trägt zur Horizonterweiterung bei.

Verbreitung, Schiiten in Deutschland

Geschätzte 15 Prozent der Muslime weltweit sind Schiiten. Sie sind hauptsächlich im Iran, Irak, Libanon, in Afghanistan, aber auch in Bahrain und als kleine Minderheit etwa in Saudi-Arabien beheimatet. In Deutschland leben rund 305000 Schiiten, die meisten davon aus dem Iran und der Türkei, aber auch etwa 80000 aus Afghanistan. Das sind ca. 6-7 Prozent der Muslime in Deutschland.

Der Mittelpunkt des schiitischen Islam und eine der ältesten islamischen Institutionen in Deutschland ist das Islamische Zentrum Hamburg (IZH, Imam-Ali-Moschee, „Blaue Moschee“), das seinerseits eng mit den führenden und regimetreuen schiitischen Zentren des Irans verbunden ist und von einem der ranghöchsten Vertreter des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei in Europa geleitet wird. Das IZH ist Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), in dem Sunniten und Schiiten zusammengeschlossen sind.

Als eigene schiitisch-theologische Ausbildungsstätte wurde 2016 das „Al-Mustafa Institut“ in Berlin gegründet, eine Außenstelle einer religiösen Universität in Qom/Iran. Ihr Leiter ist zugleich der Vorsitzende der Stiftung für Islamische Studien (SIS) und unterrichtet sowohl im IZH wie auch in der Kulturabteilung der iranischen Botschaft in Berlin. Die Dachorganisation für schiitische Gemeinden ist die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS, gegründet 2009), die ca. 175 Gemeinden vereint und sich als Religionsgemeinschaft versteht.


Literaturhinweise

Katajun Amirpur, Der schiitische Islam, Stuttgart 2015
Monika Gronke, Geschichte Irans. Von der Islamisierung bis zur Gegenwart, München 22006
Heinz Halm, Die Schia, Darmstadt 1988


Friedmann Eißler