Islam

Scheich Nazim gestorben

Am 7. Mai 2014 ist in Nikosia (Nord-Zypern) der Sufi-Scheich Nazim Adil al-Haqqani im Alter von 92 Jahren gestorben. Der 40. Großscheich des Naqschbandi-Ordens war wenige Wochen zuvor mit Atem- und Herzproblemen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Als Nachfolger gilt sein ältester Sohn, Scheich Muhammad (Mehmet) Adil.

Die Naqschbandiyya (auch: Nakschibendiye) ist einer der großen Sufi-Orden, der in unterschiedlichen Prägungen (mit Wurzeln in Zentralasien und Indien) weit über den Mittleren Osten und die Türkei hinaus wirkt. In Westeuropa und den USA bilden seine Anhänger die zahlenmäßig stärksten Sufi-Gemeinschaften. Die breiteste Strömung hierzulande folgt den Lehren des zyprischen Meisters und wird deshalb auch Haqqaniyya genannt.

Muhammad Nazim Adil al-Haqqani al-Qubrusi (Nazım Kıbrısi, der „Zypriote“) wurde 1922 in Zypern geboren, studierte zunächst Chemie, wurde dann aber, begleitet von intensiven spirituellen Erlebnissen, Schüler und Nachfolger des Großscheichs Abdullah ad-Daghestani (gest. 1973). Die Verbreitung des Ordens im Westen und in Südostasien ist im Wesentlichen ihm zu verdanken. Seit den 1970er Jahren dehnte er seine intensive Lehrtätigkeit auf viele Länder aus und war unermüdlich auf Reisen. Scheich Nazim hat sich immer wieder politisch eingemischt. Er wandte sich aktiv gegen den Säkularismus in der Türkei. Energisch warnte er vor der saudisch-wahhabitischen Auslegung der islamischen Lehre, fand aber auch gegen Schiiten drastische Worte. Internetvideos belegen andererseits die Nähe des Scheichs zu Harun Yahya alias Adnan Oktar, der sich mit islamisch-fundamentalistischer Wissenschaftskritik hervortut. Bekannt war der Religionsführer für seine apokalyptisch-endzeitlichen Botschaften mit recht konkreten Ankündigungen eines zu erwartenden dritten Weltkrieges und des Weltendes. George W. Bush und Tony Blair erklärte er 2003 zu Heiligen, weil sie – im „Krieg gegen den Terror“ – erfolgreich Tyrannen und Teufel bekämpften.

Die eigentliche mystische Lehre betont die Notwendigkeit, das Ego zu überwinden, die niedere Triebseele (nafs), die den Menschen durch Begierden, die trügerischen Bande dieser Welt und teuflische Einflüsterungen an der vollkommenen Ausrichtung auf die jenseitige Welt hindert. Dazu bedarf es der absoluten Gehorsamsbindung an den Lehrer, von dem eine wirkmächtige, wunderheilende Segenskraft (baraka) ausgeht. Weltentsagung, „Gottesgedenken“, Heiligenverehrung und eine spezielle rituelle Meditationsübung der Herzensbindung an den Scheich sind wichtige Elemente der anspruchsvollen religiösen Praxis. Die Naqaschbandiyya gilt als ausgesprochen schariakonformer Sufi-Orden.

In Deutschland gibt es Schätzungen zufolge über 5000 Mitglieder des Ordens, darunter ein großer Teil Konvertiten. Viele fallen durch malerische Gewänder und bunte Turbane auf. Die „Osmanische Herberge“ in der Eifel wird als Zentrum angesehen. Ihr Leiter Scheich Hassan P. Dyck ist der Stellvertreter des Großscheichs in Deutschland. Der Trägerverein „Haqqani Trust Verein für neue deutsche Muslime“ ist Mitglied im Islamrat und im Zentralrat der Muslime in Deutschland. In Freiburg gibt es eine größere Gruppe um Scheich Burhanuddin Herrmann; im Verlag von Salim und Hagar Spohr werden zahlreiche Bücher und Schriften Scheich Nazims übersetzt und vertrieben. Auch auf Esoterikmessen sind gelegentlich Naqschbandis zu sehen, in dieser Richtung tun sich besonders esoteriknahe Vereine wie „Der wahre Mensch e. V.“ (Berlin) hervor.

Ein Abkömmling der Naqschbandiyya ist die Sufigemeinschaft des türkischen Gelehrten Süleyman Hilmi Tunahan (gest. 1959), die sich in Deutschland 1980 als Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) organisierte und den Schwerpunkt auf Korankurse und religiöse Lehre legt. Said Nursi (gest. 1960), der Begründer eines weiteren „ferneren Verwandten“, der Nurculuk-Bewegung, löste sich bald von der Naqschbandiyya und ging eigene Wege der Versöhnung von Islam und Moderne. Dies wiederum führt auf eigene Weise das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen fort. Diese Gruppierungen verstehen sich selbst allerdings dezidiert nicht als Sufi-Orden; einige sufische Lehren, die enge Lehrer-Schüler-Bindung und die regelmäßigen Lehrunterweisungen (sohbet) erinnern an die Herkunft.


Friedmann Eißler