Georg Schmid

Sathya Sai Baba und die absolute Liebe

Sathya Sai Baba, 1926 in Puttaparthi (Andhra Pradesh, Südindien) als Sathyanarayan Raju geboren, ist einer der bekanntesten und zugleich umstrittensten Gurus. Ihm werden angeborene Heil- und Wunderkräfte zugeschrieben, unter anderem die Fähigkeit, verschiedene Gegenstände zu „materialisieren“. Georg Schmid hat im Januar 2011 Sai Babas Ashram Prashanthi Nilayam („Wohnstätte des höchsten Friedens“) in der Nähe seines Geburtsortes besucht.

 

Nach zwölf Jahren komme ich zum ersten Mal wieder nach Puttaparthi. Immer noch wird überall heftig gebaut. Ich frage einen Hotelangestellten, was mit all den Bauten gemacht werden soll, wenn Sai Baba nicht mehr lebt. Seine Antwort: „Er ist jetzt 85 und sagt, er lebe noch bis 99.“ Vor zwölf Jahren hatte sich der Guru eine etwas kürzere Lebenszeit prognostiziert, aber auch 99 Jahre sind nun absehbar. Die Gemeinschaft um Sai Baba hat allerdings vorgesorgt: Das neue Sai-Baba-Museum, ein wahrer Prachtbau im Ostasienlook, hat Sai Baba einer seiner früheren Offenbarungen entsprechend bereits so weit verabsolutiert, dass Puttaparthi für überzeugte Sai-Schüler auch dann unverzichtbar bleibt, wenn Prem Sai, die angekündigte nächste Inkarnation, seine Wirksamkeit in Karnataka (und nicht in Puttaparthi) entfalten wird. Denn so liest man im Museum: In Shirdi Baba (letzte Inkarnation vor Sai Baba) hat sich Shiva inkarniert. In Prem Sai wird sich Parvati (Shivas Gattin) inkarnieren. Im heutigen Sai Baba inkarnierten sich aber Shiva und Shakti (Parvati).Unter den vielen im Auftrag von Sai Baba errichteten Gebäuden – die meisten dank der zarten Farbtöne Lila, Vanillegelb und Hellblau sofort als Bauten im Umfeld des Meisters erkennbar – nimmt das neue Museum eine besondere Stellung ein. Ich habe noch nie einen ähnlich aufwändigen Tempel der Guru-Vergötterung gesehen. In allen Teilen entspricht das Gurulob des Museums wahrscheinlich zwar bisheriger Meisterlegende und Meisterselbstdeklaration, aber noch nie ließ sich bisher das Halleluja – genauer das „Sai Ram, Sai Ram“ –, das den Meister schon seit Langem einhüllt, in derartiger Polyphonie vernehmen.

Überall Sai Baba

Sai Baba wurde – so sagt es die im Museum bunt ausgemalte Legende – ohne menschlichen Vater empfangen. Eine Lichtkugel trat in seine Mutter, als sie unterwegs war, Wasser am Brunnen zu holen. Nach diesem Ereignis war sie schwanger. Sai Baba soll schon als Kind seine göttliche Natur mehr als einmal unter Beweis gestellt haben: Einmal vertrat er als Knabe auf geniale Weise den Lehrer. Ein anderes Mal hielt er Schulkameraden dazu an, einen Hanumanstein ehrfürchtig zu umrunden. Plötzlich tauchte Hanuman selbst aus der Erde auf, verneigte sich vor dem kleinen Sai Baba und meinte feierlich: „Eigentlich muss ich dich umrunden, nicht du mich.“ Im Museum wird diese Szene mit mechanisch bewegten, lebensgroßen Figuren nachgestellt. Schon 1935 soll Sai Baba Blumen und Süßigkeiten materialisiert und sich als Reinkarnation von Shirdi Sai Baba verstanden haben.Selbstverständlich brechen die Wunder später nicht ab. Im Gegenteil – je deutlicher sich Sai Baba zum Avatar (= Herabkunft Gottes, göttliche Inkarnation) der Millionen entwickelt, desto offenkundiger werden Wunder zu seinem eigentlichen Markenzeichen. In fast ermüdender Ausführlichkeit wird im Museum in Film und Zeichnungen dargestellt, wie er allerlei Gegenstände materialisiert, wie ihm das Meer eine Perlenkette vor die Füße legt oder wie er in seiner Allgegenwart Anhängern in Lebenskrisen überall auf der Welt beisteht. Besonders eingehend wird in Videos gezeigt, wie Sai Baba in der heiligen Shivanacht Ende Februar oder Anfang März – in jener Nacht, in der Shiva über die Erde geht, in allen seinen Lingas (unbildliche Symbole des Gottes Shiva, meist phallisch geformte Kultsteine) weilt und durch seine Gegenwart die Gläubigen von Sünden und schlechtem Karma erlöst – ein Shivalinga, einen ovalen Stein oder ein längliches, glattes, in etwa eiförmiges Metallstück, das angeblich in seinem Körper entstanden ist, aus seinem Mund zieht oder erbricht. Bei einem früheren Besuch in Puttaparthi sagte man mir, dass jeder, der diese Geburt des Linga mitansah, erlöst ist und nicht mehr wiedergeboren werden muss.Zuletzt wird Sai Baba als der Gott aller Götter gezeigt. Er sitzt auf allen nur denkbaren hinduistischen Vahanas (Reittiere der Gottheiten). Er ist der wahre Vishnu, Shiva, die wahre Sarasvati, Lakshmi usw. Er sitzt sogar in der Mitte eines tibetischen Tankas (lamaistisches Rollbild zu Meditationszwecken), er ist der wahre Bodhisattva oder Buddha, und er zeigt sich als Vishvarupa, als Gestalt, die den ganzen Kosmos in sich integriert. Genau betrachtet gibt es nur ihn. Er allein wohnt und wirkt im Grund und im Herzen aller Wesen und Dinge. Aber er ruht und west in allem nicht nur als fernes, absolutes Sein. Er ist absolute göttliche Potenz, aber auch jederzeit bereit, zu unserem Wohl und vielleicht auch strafend zu unserem Wehe in den Lauf der Ereignisse einzugreifen. Wohl dem, der sich ihm mit freundlichen Gedanken nähert.Je länger sich unser Besuch im neuen Museum hinzieht, desto öfter frage ich mich, mit welchem Empfinden sich wohl Sai Baba selbst dieses Museum angeschaut hat. Hat er all dem zugestimmt, was man hier über ihn sagt? Oder ist er – Videos zu seinen Auftritten in den letzten Monaten und Jahren könnten dies vermuten lassen – ein so alter und in seinen Möglichkeiten schon derart eingeschränkter Meister, dass er die Wogen der Verehrung einfach über sich hingleiten lässt?

Diene allen!

Die praktischen Anleitungen an alle Besucher, die beim Ausgang des Museums und entlang der Hauptstraße in Puttaparthi in regelmäßigen Abständen aufgestellt sind, rufen uns zurück aus Fragen, die sich aus der Distanz nicht beantworten lassen. Da lesen wir z. B: „Serve ever, hurt never.“ Ähnliche Losungen begegnen uns auch auf den Internetseiten der Sathya Sai Organisationen weltweit: „Es gibt nur eine Religion, die Religion der Liebe. Es gibt nur eine Sprache, die Sprache des Herzens. Es gibt nur eine Rasse, die Rasse der Menschheit. Es gibt nur einen Gott, er ist allgegenwärtig“(www.sathyasai.ch/html/deutsch.html).Die vielen wohltätigen Institutionen und Schulen, die in und um Puttaparthi errichtet wurden und werden, belegen, dass diese Sprüche keine leere Theorie blieben. Wenn aber irgendwo besonders großzügig Hilfe angeboten wird, weitet sich in Indien das Heer der Hilfesuchenden ins Uferlose aus. Die vielen Bettler in Puttaparthi, die in langen Reihen außerhalb des Ashrams auf uns warten, haben anscheinend trotz der vielen und eindrücklichen Sai-Baba-Sozialwerke vom Liebesdienst des Meisters und seiner Schüler noch nicht allzu viel erfahren. (Es ist aber durchaus denkbar, dass auch bereits von Institutionen Betreute noch betteln gehen.) Noch schwieriger wird es für uns, die sozialen Dienstleistungen im großen, von einem reichen Sathya-Sai-Anhänger gestifteten Krankenhaus draußen beim Flugplatz einzuschätzen. Es wirkt wie ein orientalischer Palast. Die zentrale Kuppel symbolisiert das Herz Sai Babas, die weit ausholenden Flügel sind seine Arme, die die Welt umarmen. In seinem weiträumigen Herzen finden sich Symbole aller Religionen. Dieses „Prasanthi Nilayam Super Speciality Hospital“ bietet seine Leistungen gratis an. Auch das Personal, soweit es sich aus Anhängern Sai Babas zusammensetzt, arbeitet gratis. Aber man erklärt uns, dass es regelmäßig durch neue Dienstwillige ersetzt werde. Zur Zeit unseres Besuchs scheint eine Gruppe von Ärzten und Schwestern aus Kerala das Krankenhaus zu betreuen. Falls diese Gratisarbeiter tatsächlich monatlich ausgetauscht werden, stellen sich allerdings Fragen zur Nachhaltigkeit der geleisteten Arbeit. Bei zwei Besuchen wirkt das Krankenhaus zwar nicht unbenutzt, aber doch – nicht nur für indische Verhältnisse – seltsam leer.

Darshan in Puttaparthi

Am Abend im Darshan (offizielle Begegnung von Meister und Schüler, „Gottesschau“): Ein paar tausend Leute – vor zwölf Jahren bei meinem letzten Besuch waren es deutlich weniger – singen intensive Lieder auf den gegenwärtigen Avatar. Heute Abend sind die weitaus meisten Besucher Inder. Der auffallend kleine Prozentsatz an westlichem Publikum scheint darauf hinzuweisen, dass außerhalb Indiens die im Internet greifbare heftige Sai-Baba-Kritik (s. u.) ihre Wirkung zeigt. Frauen und Männer werden während des Darshans säuberlich voneinander getrennt. Das erlaubt auch eine intensivere Sicherheitskontrolle. Zweimal wird jede eintretende Person genau auf Waffen untersucht. Diese Vorsichtsmaßnahme wurde nach dem Mordanschlag auf Sai Baba von 1993 eingeführt, der sechs Menschen das Leben kostete. Heute hat unser Singen nicht den gewünschten Erfolg. Sai Baba erscheint nicht, obwohl er im Ashram weilt. Ich frage einen der vielen Ordnungshüter, warum der Swami nicht kommt, aber mir wird keine Antwort zuteil. Ein Avatar muss sich weder rechtfertigen noch erklären.Zehn Tage später bin ich wieder zum Darshan in Puttaparthi, jetzt mit meiner Reisegruppe, und dieses Mal wird Sai Baba erscheinen. Es ist Wochenende. Tausende drängen sich in die Darshan-Halle – zum Teil schon Stunden vor Beginn. Die Halle wird so voll, dass viele Zaungäste das Geschehen nur durch die Gitter der Halle vom Hof aus verfolgen können. Gesänge begleiten unser langes Warten. Nach einer Stunde erscheint eine Gruppe von Fahnenträgern, gefolgt von einer bunt uniformierten Kapelle. Dann fährt ein weißer Personenwagen in die Halle. Man hilft Sai Baba auszusteigen und schiebt ihn im Rollstuhl auf die Bühne. Die Menge versucht, einen Blick auf den Mann im roten Kleid zu werfen.Es werden zwei Lobreden auf die soeben abgeschlossenen Sportwettkämpfe in Puttaparthi und auf den Avatar gehalten. Die zweite Rednerin spricht am Schluss ein Gebet zu Gott, wobei alle Bitten sich eindeutig zuerst und zuletzt an den im Rollstuhl gegenwärtigen Gott richten. Warum sich nur einem fernen Gott zuwenden, wenn Gott leibhaftig unter uns weilt? Dann überreicht Sai Baba den siegreichen Schulklassen die Pokale. Anschließend präsentieren die Klassen dem Meister ihre Geschenke. Eingehend betrachtet er die ihm vorgelegten Fotoalben, und Tausende Zuschauer verfolgen geduldig sein Albenstudium.Sai Baba wirkt während der gesamten Zeremonie sehr passiv und müde. (Wenigstens aus großer Entfernung wirkt er so.) Er lässt alles über sich ergehen. Kein einziges Wort aus seinem eigenen Mund dringt an unser Ohr, obwohl viele Lautsprecher uns am Geschehen auf der Bühne teilnehmen lassen. Keine weithin sichtbare Geste ist zu erkennen, kein Wunder wird uns vorgeführt. Alles, was der Swami vielleicht denen schenkt, die etwas näher bei ihm stehen als wir, ist sein mildes Lächeln.Nach der Zeremonie finden zwei Mitglieder unserer Gruppe ihre Schuhe nicht mehr, denn die Schuhe vor der Halle häufen sich ins kaum mehr Überschaubare. Das größte Wunder, das Sai Baba heute vollbringt: 90 Prozent unserer Gruppe finden ihre Schuhe wieder. Die anderen kaufen sich auf dem Heimweg neue. Schuhe zu verkaufen – vor allem unmittelbar nach einem großen Darshan – ist in Puttaparthi wahrscheinlich kein schlechtes Geschäft.

Anhaltende Attraktivität trotz schwerer Vorwürfe

Kennt man in Puttaparthi die Vorwürfe gegen den Meister, wonach er junge Männer an intimen Stellen nicht nur mit Öl gesalbt, sondern auch sexuell berührt und missbraucht habe? Auf den Internetseiten der Ex-Anhänger werden manche dieser Vorwürfe (oft mit Namensangaben) angeführt (vgl. z.B. http://robertpriddy.wordpress.com; www.exbaba.de; www.der-scheinheilige.de). Aus der Umgebung Sai Babas ist zu vernehmen, dass zwar die Salbungen zugegeben, aber deren sexueller Charakter bestritten wird. Die Salbungen werden als vedisches Ritual gedeutet. Weiß man in Puttaparthi, dass zahlreiche Videobeiträge auf „YouTube“ die Materialisierungen des Meisters als Taschenspielertricks entlarven? Natürlich weiß man das alles, aber man spricht nicht davon. Sobald das Gespräch nur in die Nähe des heikeln Themas führt, wird sofort abgelenkt. Puttaparthi darf den Ruf des Meisters, dem es seine ganze moderne Existenz verdankt, nicht ruinieren lassen. Die heute ansehnliche Kleinstadt will nicht in den Status des unscheinbaren Bauerndorfs zurückfallen. Möglicherweise hat der innere Kreis um Sai Baba schon längst den Respekt vor dem Meister verloren. Aber solange man von ihm profitiert, spielt man mit (vgl. www.exbaba.de/index_bestanden/zeugnisse/hari.htm).Doch wie erklären wir uns die trotz aller Kritik in Indien immer noch ungebrochene Attraktivität von Sai Baba? In unserer Besuchergruppe werden verschiedene Argumente erwogen. Das kaum zu bestreitende Faktum, dass der Meister seit seinen jungen Jahren Wunder trickst, wird ihm in seiner Heimat weit weniger angekreidet als im Westen. Nach alter indischer Tradition – auch Sai Babas Denken wurzelt im Vedanta – ist nur Gott oder das Göttliche Wirklichkeit und alles andere ein Spiel mit unseren Vorstellungen oder eine Inszenierung unserer Vorstellungskraft. Wenn alles, was wir sehen, hören und erleben, eine trügerische Inszenierung ist, warum nicht innerhalb dieses Spektakels noch ein eigenes, bewusst trügerisches Spektakel inszenieren? Vielleicht führt gerade der kleine Trug mitten im großen Trug zum Ende jeder Illusion und zur Erkenntnis der einen und einzigen Wahrheit.Die sexuellen Verirrungen des Meisters, wie sie von Ex-Mitgliedern bezeugt werden, sprächen auch in Indien gegen den Meister, wenn sie nicht zum einen als ein die aufkeimende Mannbarkeit segnendes Ritual gedeutet und zum anderen als göttliches Spiel im Geheimen sogar bewundert werden könnten. Hat nicht die bekannteste Inkarnation Gottes, Krishna, sich die verwegensten Spiele mit seinen Gopis erlaubt und seine jugendliche Sexualität bis ins Gegenteil all dessen gefeiert, was unter Normalbürgern gute Sitte ist? Gott kann sich alles erlauben. Es ist geradezu ein Markenzeichen Gottes, dass er unsere bürgerlichen Normen durchbricht. Die direkt vom sexuellen Missbrauch Betroffenen bezeugen später zwar manchmal ihr Entsetzen über den Meister, aber auch über ihre völlige Naivität und ihre gläubige Bereitschaft, sich missbrauchen zu lassen. Konnten sie Sai Baba etwas ausschlagen, solange er für sie noch Gott war? Nicht direkt mit dem Missbrauch konfrontierte Anhänger finden andere Wege, um das kaum Verstehbare zu verstehen. Sie können den Avatar nicht nur bewundern, weil er vollkommen ist, sondern auch, weil er es wagt, souverän jede Moral zu verletzen.Die weiterhin bestehende immense Attraktivität des Meisters deuten Erwägungen zur Transformation getrickster in überzeugend erlebte Wunder noch etwas tiefer. Vielleicht nur durch Taschenspielertricks ausgelöst umgab schon den jungen Sai Baba eine derartig breite und intensive Wundererwartung, dass es nicht bei bloß inszenierten oder kollektiv vorgestellten Wundern blieb. Zwar nicht die in Laboratorien und philosophischen Seminaren ausgelotete Realität, aber die von vielen Hoffnungen und Ängsten mitgestaltete sogenannte erfahrbare Wirklichkeit weitet sich aus im kollektiven Wunderglauben. Sie wird nach allen Seiten hin durchlässig für das bisher scheinbar Unmögliche. Und so werden denn auch Wunder im Umfeld Sai Babas von Menschen berichtet, denen ich nicht einfach Leichtgläubigkeit oder gar mangelnden Realitätssinn vorwerfen könnte. Der Anfang der Wunderwogen, die sich von Sai Baba aus über seine nahe und weitere Umgebung ergossen, war sicher zirkusreife Zauberkunst. Aber an ihrem Ende spülen uns diese Wunderwogen Erfahrungen vor die Füße, zum Beispiel eindrückliche Heilungen, die wir ehrlicherweise nur noch als paranormal einstufen können.

Doppelgeschlechtlichkeit?

Nach einem alten Motto der Gurugita ist der Guru Vater, Mutter und Gott. Mit anderen Worten: Der Guru ersetzt beide Eltern vollgültig. Weil er der wirklich Liebenswürdige und die wahre Liebe selbst ist, ersetzt er im Grunde auch jeden geliebten Mitmenschen. Die Beziehung zu ihm allein genügt. In ihm findet der Schüler alles, was sich in dieser Welt der Täuschungen zu finden lohnt: das Tor in die Wahrheit. Er findet absolute Liebe – Liebe, die jede andere denkbare Liebe entweder erübrigt oder erst zur wirklichen Liebe macht.Als Vater und Mutter und als Quelle und Inbegriff aller Liebe zeigt der Guru nicht selten androgyne Aspekte. Bei Sai Baba ist dieses Spiel mit der Zweigeschlechtlichkeit in einzelnen Hinweisen erkennbar: So erklärt Baba sich selbst als Inkarnation von Shiva und Shakti. Erfahrungsberichte von den Privataudienzen deuten in die gleiche Richtung. Wenn wir jenen jungen Leuten trauen dürfen, die ihm – oft ohne ihr Einverständnis – oft sehr nahe oder zu nahe kamen, dann liebt es Sai Baba, sich doppelgeschlechtlich zu zeigen. Sein Membrum virile wird durch seine Kleider hindurch spürbar, verschwindet aber auch alsbald wieder. Stattdessen lassen sich weibliche Geschlechtsorgane erahnen (vgl. http://213.10.134.161/ex-baba/engels/ articles/papershivashakti.html). Auch dieses Spiel mit der eigenen Geschlechtlichkeit, sollte es denn tatsächlich stattgefunden haben, kann man sich leicht als wenig anspruchsvolle Inszenierung vorstellen.Wie immer wir aber die Hinweise auf eine geschlechtliche Doppelnatur Sai Babas einschätzen wollen, sicher ist, dass diese in seinem Umfeld als Ahnung oder sogar als Hoffnung schon lange präsent ist: Nicht nur, dass er von keinem menschlichen Vater gezeugt wurde und damit um eine besondere Beziehung zu seiner Mutter weiß – auch seine Sexualität wird offenbar hier und da androgyn gedeutet. Möglich ist, dass dies von Beobachtungen am Neugeborenen ausging. Dann aber wäre es mehr als verständlich, dass der junge Sai Baba eine besondere biografische Entwicklung durchleben musste. Falls er biologisch von Anfang an nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuweisen war, konnte er in Indien ein erfolgreiches Leben fast nur als Gott oder als Mitglied einer skurrilen, trickreichen Transvestitenkaste führen. Er hat sich – wenn wir dieser Deutungslinie folgen wollen – nicht zuletzt auch mit Anleihen aus der Trickkiste der Transvestitenkaste für das Gottsein entschieden.

Absolute Liebe und Hassliebe

Wie aber, so fragen wir uns, kann eine menschliche Gestalt noch zu Lebzeiten zum Absoluten schlechthin werden, zum unbedingten göttlichen Sein, das sich hinter und in allem Bedingten verbirgt? Absolute, bedingungslose Liebe lässt das Geliebte oder den Geliebten in allen Formen menschlicher Religion nur zu leicht in den Bereich des Absoluten gleiten. In dem, was mich derart unbedingt anspricht, muss mich das Unbedingte schlechthin ansprechen. Absolute Liebe fühlt sich vom Absoluten berührt. Zu Lebzeiten der geliebten Meister ist diese Ausweitung ihres Bildes ins Absolute allerdings nur möglich, wenn die Meister selbst solcher Ausweitung nicht widersprechen. Im Unterschied zum synoptischen Jesus, der sich selbst nicht einmal „gut“ nennen wollte (Mk 10,17), hat Sai Baba sich schon früh und gerne mit göttlicher Aura umhüllt. Er ließ und lässt sich selbst in alle Himmel heben. Deshalb ist auch zu vermuten, dass das grenzenlose Meisterlob des neuen Museums sein Placet erhielt.Wie aber steht es – von seiner göttlichen Souveränität gar nicht zu reden – heute mit seiner menschlichen Souveränität? Nachdem Sai Baba viele Jahre lang in jedem Darshan seine Wunder produzierte und seine Weisheiten weiterreichte, wird er jetzt immer deutlicher nur noch zum Adressat einer immensen Verehrung. Wird er vielleicht mehr oder weniger willenlos auf seinem Rollstuhl von Darshan zu Darshan geschoben? Ist er nur noch das Opfer seines Erfolgs, der Sklave seines Managements? Um diese Frage zu beantworten, müsste man in ein persönliches Gespräch mit dem Meister tauchen können.Wie lässt sich erklären, dass zurzeit in Indien und bis vor kurzem auch im Westen kaum ein Meister einerseits so viel absolute Liebe in so vielen Menschen weckte und dass ihm andererseits – vor allem im Westen – derart emotional geladene Kritik ehemaliger Anhänger mitten ins Gesicht schlägt? Letzteres ist wahrscheinlich die mögliche Folge des ersteren. Selten wurde ein Mensch so absolut geliebt wie Sai Baba. Und selten wurde diese Liebe an manchen Stellen auch so abgrundtief enttäuscht wie durch ihn. Der kaum kaschierte Hass, mit dem einzelne Ex-Schüler ihn nun übergießen, lässt darauf schließen, dass ihre edelsten Hoffnungen und ihre innigste Liebe durch eigene Erfahrungen oder durch Berichte anderer zutiefst enttäuscht wurden. Aus absoluter Liebe wurde zwar nicht absoluter Hass, aber eine nie endende Hassliebe, der Wille, nun alles zusammenzutragen und zu publizieren, was gegen ihn spricht.Sai Baba und seine Umgebung versuchen, diese Kritik zu überhören. Das ist für sie auch die beste Reaktion. Denn käme es zu ordentlichen Verleumdungsklagen, wären zu viele zur Stelle, gegen die Sai Babas Getreue anzukämpfen hätten. Andererseits können die enragierten Kritiker Sai Babas mindestens vor indischen Gerichten keine erfolgversprechende Klage – z. B. wegen sexuellen Missbrauchs – einreichen. Wie lässt sich belegen, was sich offenbar oft, aber doch immer in der Abgeschiedenheit von Privaträumen ohne Zeugen abgespielt hat? So treffen höchstes Meisterlob und leidenschaftliche Meister-Kritik weiterhin unvermittelt aufeinander, beide auf ihre Weise ein Zeugnis dafür, dass es Sai Baba gelungen ist, absolute Liebe im Kreis seiner Anhänger zu wecken.

Liebe suchen bei Sai Baba?

Ich sehe immer noch die große Gruppe von Waisenkindern aus Nepal vor mir, alles Mädchen, die zur gleichen Zeit wie meine Gruppe Puttaparthi besuchten. Eines Morgens sah ich sie vor unserem Gästehaus warten, zur Fahrt in den Ashram bereit. Die Kolonne stand mäuschenstill da, fast leblos brav. Ihre Begleiterinnen wollten sie nun zu Baba führen. Warum reist ein Waisenhaus aus Nepal bis nach Puttaparthi in Südindien? Wahrscheinlich weil ein reicher Gönner fand, gerade diese Waisen hätten es nötig, einmal jener Liebe zu begegnen, die nicht bloß dieser Welt entstammt, und einem Baba, einem Vater, den man den göttlichen Baba nennt. Haben die Waisenkinder nach ihrem Besuch bei Baba nun aber etwas von wahrer Liebe erspürt? Irgendwie sehnen sich alle Menschen nach wahrer Liebe, aber findet sie sich in Puttaparthi? Kann ausgerechnet Sai Baba die tiefsten Erwartungen liebeshungriger Menschen erfüllen?


Georg Schmid, Rüti/Schweiz