Martin Fritz

Religionsmonitor 2023

Erste Einblicke in die aktuellen Daten

Zu den vielbeachteten Projekten empirischer Religionsforschung in Deutschland gehört der „Religionsmonitor“ der Bertelsmann Stiftung. Ausgehend von der Annahme, dass das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit zu den großen Herausforderungen moderner Gesellschaften zählt, werden im Auftrag der Stiftung regelmäßig Daten zum Stand und zur Bedeutung von Religion und Religiosität in der deutschen Gesellschaft erhoben und in verschiedenen Veröffentlichungen ausgewertet. Nach 2007, 2013 und 2017 erscheint mit dem „Religionsmonitor 2023“ in diesem Jahr die vierte Ausgabe. Dazu wurden im vergangenen Sommer 10 657 Personen befragt, und zwar nicht nur aus Deutschland (4363 Personen), sondern, zwecks Ländervergleich, auch aus den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Polen und den USA. Eine erste Vorschau auf die Ergebnisse wurde im Dezember 2022 auf der Website der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht.1

Die Religionsmonitor-Soziologin Yasemin El-Menouar nimmt darin unter dem Titel „Die Zukunft der Kirchen – zwischen Bedeutungsverlust und Neuverortung in einer vielfältigen Gesellschaft“ die kirchlich-christliche Religiosität sowie die Lage der katholischen und evangelischen Kirche in den Blick. Wie der Titel schon vermuten lässt, bietet die Untersuchung diesbezüglich wenig positive Überraschungen. Nicht nur die Zahlen der Ausgetretenen, sondern auch die der Austrittswilligen liegen auf Rekordniveau: „Den Daten des Religionsmonitors zufolge hat jedes vierte Mitglied in den letzten zwölf Monaten über einen Austritt aus der Kirche nachgedacht. Jedes fünfte hat eine feste Austrittsabsicht“ (5). Davon sind 57 Prozent katholische Kirchenmitglieder. „Das lässt vermuten, dass insbesondere die Vertrauenskrise in der katholischen Kirche, hervorgerufen durch Missbrauchsskandale und fehlende Reformbereitschaft der römischen Kurie, einen Einfluss auf die Austrittsabsicht hat“ (5). Das gilt, so muss man leider hinzufügen, durchaus auch für manche evangelischen Kirchenmitglieder, die ihrer Kirche beispielsweise aus Empörung über den Kölner Erzbischof den Rücken zukehren.

Der überkonfessionell verbreitete Austrittswille lässt ein weiteres Abschmelzen der Mitgliedschaft und langfristig eine weitere Erosion der christlichen Sozialisation unter den Deutschen erwarten. Daraus werden von der Autorin der Auswertung religionspolitische Schlüsse gezogen. Mit dem Mitgliederverlust sei auch ein „Legitimationsverlust“ (5) hinsichtlich der gesellschaftlich-politischen Privilegien und Repräsentanzansprüche der großen Kirchen verbunden. In jedem Fall müsse das deutsche Religionsverfassungsrecht, das immer noch auf die einst dominierenden christlichen Großkirchen zugeschnitten sei, reformiert werden, um „die gebotene Gleichbehandlung aller religiösen und weltanschaulichen Gruppen“ (8) zu gewährleisten.2

Gegen diese Generaldiagnosen lässt sich wenig einwenden, so schmerzhaft es für Verantwortliche und überhaupt für viele Angehörige der Kirchen sein mag. Die Zeiten der Dominanz der Großkirchen sind passé, das werden alle Erhebungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte bestätigen. Und auch die Zeiten der bruchlosen Vermittlung des Christlichen durch häusliche Erziehung und kirchliche Beheimatung sind weithin Geschichte. Die Zahl derer, die selbstverständlich, weil „von Hause aus“ dem kirchlichen Christentum zugehören, sinkt beständig. Damit steigt der Druck auf die Kirchen, neue Formen der Vermittlung zu finden, und dies bei gleichzeitig schrumpfenden Finanz- und Personalmitteln. Das ist eine wenig erfolgversprechende und überhaupt sehr unerquickliche Konstellation – mit enormem Frustrationspotenzial für alle in den Kirchen Engagierten. Eine bedeutsame Aufgabe der kirchenleitend Verantwortlichen dürfte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten daher darin bestehen, nicht nur den Schrumpfungsprozess organisatorisch zu gestalten, sondern darin auch Haltungen und Strategien zu entwickeln, um ein Abgleiten in eine allgemeine kirchliche Dekadenzdepression zu verhindern.3

So wenig die erwartbare Generaldiagnose des Religionsmonitors infrage zu stellen ist – seine Einzelergebnisse werfen doch Fragen hinsichtlich ihrer Aussagekraft auf.4  Wie zum Beispiel ist der Befund zu verstehen, dass für 57 Prozent der Kirchenmitglieder „Religion im Alltag (sehr) wichtig“ ist, dass sich aber nur 32 Prozent als „sehr/ziemlich religiös“ bezeichnen? (5) Warum stufen sich Personen, für die Religion hohe Alltagsbedeutung besitzt, nicht einmal als „ziemlich religiös“ ein? Man würde ja eher das Gegenteil erwarten, nämlich dass sich manche Menschen für grundsätzlich religiös halten, aber kein größeres Bedürfnis haben, dem im Alltag regelmäßig Ausdruck zu verleihen. Der rätselhafte Befund hätte dringend einer Kommentierung bedurft; in seiner augenscheinlichen Inkonsistenz ist seine Valenz recht zweifelhaft.

In demselben Zusammenhang fällt auch am Rande eine bemerkenswerte Zahl: Ganzen 12 Prozent der Austrittswilligen ist „Religion im Alltag (sehr) wichtig“, und immerhin 7 Prozent von ihnen stufen sich als „sehr / ziemlich religiös“ ein (was auch immer die Differenz der betreffenden Angaben besagt). Das zeigt: Es sind durchaus nicht nur die ohnehin schon Kirchenentfremdeten oder „religiös Unmusikalischen“, die sich von den Kirchen abwenden, sondern ein erklecklicher Teil von ernsthaft Religiösen. Aber was treibt sie zum Austritt? Es ist sicher zu einem Gutteil das Entsetzen über die Missbrauchsfälle und den Umgang mit ihnen.5  Aber es könnte auch die Empfindung eines religiösen Ungenügens hinsichtlich der überkommenen religiösen Formen sein oder auch – vor allem evangelischerseits – der Ärger über eine als einseitig empfundene politische Positionierung der Kirchenleitungen. Schon die sich aufdrängenden Nachfragen führen die Grenzen des Aussagewertes quantitativer Religionsdaten vor Augen: Ohne qualitative Zusatzerhebungen bleiben sie relativ stumm, und ihre Anfälligkeit für simplifizierende Fehlinterpretationen ist hoch.

Überhaupt eignet der quantitativen Religionsforschung, so notwendig sie ist und so erhellend sie sein kann, fast zwangsläufig eine Tendenz zur Simplifizierung oder Vereindeutigung, die man sich bei der Auswertung stets gegenwärtig halten sollte. Das wird im Falle des vorliegenden Religionsmonitor-Papiers besonders am Abschnitt zur Entwicklung der allgemeinen Religiosität in den letzten zehn Jahren sichtbar. Dort wird, als Beleg für den fortschreitenden „Säkularisierungstrend in Deutschland“ (3), unter anderem eine allgemeine Schwächung des Gottesglaubens diagnostiziert: „Während im Religionsmonitor 2013 noch fast jede:r Zweite angab, sehr oder ziemlich stark an Gott zu glauben, beträgt dieser Anteil heute nur noch 38 Prozent. Jede:r Vierte glaubt heute gar nicht an Gott, zehn Jahre zuvor galt dies noch für jede:n Fünfte:n.“6

Angesichts dieser Zeilen dürfte jeden frommen Leser und jede besonnene Leserin merkliche Verunsicherung ergreifen. Wie stark glaube ich eigentlich an die Existenz Gottes / des Göttlichen? Ganz abgesehen von der Problematik der Behauptung einer „Existenz“7  Gottes ist das in der Frage liegende Quantifizierungsansinnen, sobald man es einigermaßen ernst nimmt, eine Zumutung. Die einzig adäquate Reaktion darauf wäre: Verlegenheit, die einzig adäquate Antwort: „schwer zu sagen“. „Stark“ ist offensichtlich nicht temporal gemeint („manchmal glaube ich, öfter nicht, das ergibt unterm Strich: ich glaube zwar nicht so ganz stark, aber auch nicht gar nicht“). Also ist wohl nach der Intensität des Glaubens, der Glaubensgewissheit gefragt. Welches Maß aber hat meine Gottesgewissheit? Ist sie groß, wenn ich selten oder nie an „Gott“ zweifle? Oder gerade dann, wenn mein Glaube irgendwie noch dem größten Zweifel standhält? Oder ist sie umso größer, je seltener ich mir über die Gottesfrage Gedanken mache und je umstandsloser ich mich der Autorität von Glaubensüberlieferung und Kirchenlehre anvertraue?

Jedenfalls aus protestantischer Perspektive müsste man sagen: Wer die betreffende Frage ohne Zögern und Erröten mit „stark“ beantworten kann, bezeugt damit nur die Naivität, nicht die Stärke seines Glaubens. Und wer sie mit „gar nicht“ oder irgendeiner Zwischenoption („ein wenig“ o. ä.) beantwortet, offenbart damit womöglich nicht so sehr den Verlust oder die Schwäche seines Glaubens, sondern religiöse Nachdenklichkeit. Man könnte das Absinken der entsprechenden Marke (von 45 auf 38 Prozent) also als Indiz nicht des Glaubensverlustes, sondern umgekehrt der Zunahme von religiösem Feinsinn oder Ehrfurcht interpretieren. Oder als Signum einer zunehmenden Reserve gegenüber theistischen oder überhaupt gegenüber allzu schlichten Fassungen des Gehaltes des religiösen Bewusstseins. Nicht alle Religiosität ist wesentlich „Gottesglaube“, schon gar nicht „Glaube an die Existenz Gottes“. Darum darf man auf die angekündigten Veröffentlichungen des Religionsmonitors gespannt sein, die laut El-Menouar „weitere Dimensionen von Religion, Religiosität und Spiritualität“ (4) jenseits der traditionellen Monotheismen in den Blick nehmen werden.


Martin Fritz, 05.01.2023

 

Anmerkungen

1  www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/religionsmonitor-kompakt-dezember-2022 (Abruf: 04.01.2023).

2  Auf welchen Feldern welche Anpassungen angezeigt sein könnten, wird in dem Papier nicht ausgeführt. Siehe zu den aktuellen Debatten: Arnulf von Scheliha / Catharina Jacob: Fortschritt in der Religionspolitik? Beobachtungen aus Anlass des Regierungswechsels, in: ZRW 85/1 (2022), 3 – 17.

3  Dass solche Dekadenzgefühle bereits wirksam sind, zeigen gewisse Tendenzen im Übergangsfeld von konservativem Christentum und Rechtspopulismus. Siehe dazu Martin Fritz: Im Bann der Dekadenz. Theologische Grundmotive der christlichen Rechten in Deutschland, EZW-Texte 273, Berlin 2021.

4  Vgl. zum Folgenden auch Martin Fritz: Christliche Kultur ohne Christen? Eine demoskopische Erhebung des Instituts Allensbach, in: ZRW 85/2 (2022), 100 – 106.

5  Vgl. S. 6: „Vier von fünf Mitgliedern mit Austrittsabsicht (81 Prozent) geben an, dass sie das Vertrauen in religiöse Institutionen aufgrund der vielen Skandale verloren haben.“

6  S. 3. Exakt lautete die Frage in der Erhebung: „Wie stark glauben Sie daran, dass Gott [Gottheiten] oder etwas Göttliches existiert?“ Welche Antwortoptionen den Befragten zwischen den Extremen „sehr oder ziemlich stark“ und „gar nicht“ zur Verfügung standen (vielleicht „ein bisschen“?), geht aus der Auswertung nicht hervor.

7  Besonders pointiert hat bekanntlich Dietrich Bonhoeffer in Aufnahme von Einsichten Kants und Fichtes festgehalten, dass der Bezug des stets an sinnliche Wahrnehmbarkeit geknüpften Prädikats der „Existenz“ auf „Gott“ eine kategoriale Unmöglichkeit ist: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“ (ders.: Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie [1930], München 31964, 94).