Rüdiger Braun

„Religion goes green“. Die Klimakrise und das interreligiöse Potential der Umweltethik

Nirgendwo scheint die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit größer zu sein als in der Klimapolitik. Theoretisch mögen sich die Teilnehmenden an der 26. UN-Klimakonferenz in Glasgow darin einig gewesen sein: Wenn das weltweit anvisierte und ambitionierte Ziel einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius bis zur Mitte des Jahrhunderts erreicht werden soll, wird es nicht nur regionaler, sondern globaler Anstrengungen bedürfen, am sinnvollsten wohl einer globalen Bepreisung der Treibhausgasemissionen. Denn das Klima macht bekanntlich keinen Halt an nationalen Grenzen und betrifft ausnahmslos alle. Doch müssen diese alle eben auch wollen.

Genau daran aber scheint es zu mangeln: am Willen, konsequent zu handeln (nicht am Wissen über die Notwendigkeit dazu). Und genau an dieser Stelle, am Willen zum Handeln bzw. an der Notwendigkeit zu einem Bewusstseinswandel, schalten sich nun Akteure aus religiösen Gemeinschaften ein. Durch die seit den 2000er Jahren auf globaler Ebene verstärkt ins Bewusstsein getretene Klimakrise sehen auch sie sich dazu herausgefordert, den umweltethischen Beitrag ihrer eigenen Traditionen in die klimapolitische Debatte einzubringen. Könnten zur Förderung des so wichtigen und in den bisherigen UN-Klimaabkommen bislang vernachlässigten Prinzips der Gegenseitigkeit, so fragen sie, nicht die Religionen kraftvollere Akteure als die Einzelstaaten sein, die Menschen und mit ihnen die Staatengemeinschaft auf ihre gemeinsame Verantwortung für das Gemeinschaftsgut der von allen geteilten Atmosphäre zu verpflichten?

Zeitgleich zum Beginn der UN-Klimakonferenz lud die neobuddhistische Ching Hai International Association am 31. Oktober dazu ein, über die Teilnahme an einer „Ahimsa [Gewaltlosigkeit, R. B.] und die Umwelt“ betitelten Online-Veranstaltung namhaften spirituellen Führern und Politikern (darunter u. a. der Präsident der 26. UN-Klimakonferenz Alok Sharma) zu lauschen und dabei „Frieden mit der Natur zu schließen“. Am selben Tag richtete eine (bescheidener und regionaler aufgestellte) Initiative, zu der sich religiöse und spirituelle Akteure aus zehn Glaubensgemeinschaften in Deutschland zusammengeschlossen hatten, unter dem Motto „GreenFaith Deutschland – Klimaakteur:innen im Glauben verbunden“ das „Erste Interreligiöse Klimafestival“ aus. Das u. a. vom Abrahamischen Forum in Deutschland und dem internationalen GreenFaith-Netzwerk unterstützte Klimafestival lud zur „Mobilisierung für Klimagerechtigkeit“ zu spirituellen Inputs und Klima-Workshops mit Gästen aus Theologie, Gesellschaft und Wissenschaft ein.

Eine solche Mobilisierung setze, so die Geschäftsführerin von Religions for Peace (RfP) Deutschland in ihrem Grußwort, nicht nur eine sichtbare Bündelung des umweltethischen Engagements aller Religionen voraus, sondern auch ein neues Bewusstsein für eine religiöse Menschen miteinander verbindende „Schöpfungsspiritualität“, in der sich die Sorge um die Erhaltung der Natur als eine alle miteinander verbindende Form des Gottesdienstes manifestiert. Der unter dem Titel „Religion und Klima? Lasst uns reden!“ veranstaltete erste Workshop des Festivals nahm diesen Gesprächsimpuls auf und diskutierte die Frage, wie sich der dafür notwendige Bewusstseinswandel durch den Rekurs auf religiöse Traditionen unterstützen lasse. Mit der Übertragung eines Zitats des Dalai Lama („seid Rebellen des Friedens“) auf den Klimaschutz verband ein Vertreter des Buddhismus seine Antwort darauf mit einer Einführung in den achtfachen Pfad der buddhistischen Entsagungsethik.

Der Workshop „Religion und politisches Engagement? Klärungsbedarf!“ zielte hingegen stärker auf den politischen Auftrag, den Menschen aus ihren religiösen Traditionen für ihr Klimaengagement ableiten, und diskutierte die Klimaforderungen von GreenFaith, die nach dem Festival mit möglichst vielen Unterzeichnern dem Präsidenten der UN-Klimakonferenz 2021 Alok Sharma übergeben werden sollten. Neben „100 % erneuerbarer Energie, grünen Arbeitsplätzen und Gesundheitsversorgung für alle“ gehören dazu das wertebasierte und klimabewusste Handeln der globalen Finanzmärkte, eine „Willkommenskultur für Klimaflüchtlinge“ und „die Beendigung unmoralischer Investitionen“.

Das Religion und Klimapolitik verschränkende GreenFaith-Netzwerk möchte keine Religionsgemeinschaft, sondern ein Angebot an alle religiösen Menschen sein, sich zu gemeinsamen um- und mitweltbezogenen Aktivitäten zu vernetzen und dabei zugleich die „gemeinsamen Werte der Religionen“ sichtbar zu machen: „Respekt vor der Heiligkeit der Menschen und der gesamten Natur“. Der Glaube dürfe sich angesichts der Bedrohung durch den Klimawandel nicht geschlagen geben, sondern gebe die Kraft, sich der Herausforderung zu stellen und „die Welt tiefgreifend zu verändern“. Das GreenFaith-Netzwerk möchte, so heißt es visionär, eine „weltweite, multireligiöse Klima- und Umweltbewegung“ aufbauen, die mit allen religiösen und spirituellen Gemeinschaften „ein moralisches Erwachen für die Heiligkeit der Erde und die Würde aller Menschen“ schafft: Weil die Welt aufgrund autoritärer Regierungen und extraktiver Industrien aus dem Gleichgewicht geraten sei, stünden religiöse Akteure vor der Herausforderung, die Gelegenheit „zu einem mutigen Wandel, zu einem Leben in Verbundenheit miteinander und mit der Erde“ zu ergreifen und für „nachhaltige Politiken, Handlungen und Praktiken auf allen Ebenen“ einzutreten. Dafür bedürfe es, so die Koordinatorin des Festivals, einer Theorie des Wandels, die neben der „individuellen spirituellen Transformation“ und der klimagerechten „Transformation unserer Institutionen und Arbeitsplätze“ auch die auf politischer Einflussnahme beruhende „systemische Verwandlung“ mit in den Blick nimmt und dabei das transformative Potenzial religiöser und spiritueller Überzeugungen zu würdigen weiß.

In Reaktion auf die in den 1960er Jahren aufkommende Umweltbewegung, die sich im christlichen Engagement zur Bewahrung der Schöpfung bald auf breiter gesellschaftlicher Basis etablieren konnte, haben sich seit den 1970er Jahren auch in anderen religiösen und spirituellen Traditionen Intellektuelle zunehmend mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich das allseits eingeforderte ökologische Engagement aus religiösen Prinzipien begründen ließe. Im muslimischen Kontext waren es vor allem der iranische Philosoph Seyyed Hossein Nasr und der aus Sri Lanka stammende Fazlun Khalid, die zur Formulierung einer islamischen Umweltethik koranische Topoi wie die „Statthalterschaft auf Erden“ (ḫilāfa fī‘l-arḍ) oder die vom Menschen übernommene „Treuhandschaft“ (amāna) einer neuen, in der islamischen Tradition und Kommentarliteratur so bislang nicht vorgenommenen ökologischen Interpretation zuführten. Zu deren Umsetzung in die Praxis gründete Khalid 1994 die Islamic Foundation For Ecology & Environment Sciences (IFEES).

Insgesamt aber blieb das umweltethische Engagement anderer Religionen bis in die 2000er Jahre hinein vornehmlich eine Angelegenheit einzelner Intellektueller und vermochte erst im neuen Millennium auch auf breiterer Basis Fuß zu fassen. Inspiriert von den eben genannten Denkern haben sich die zuerst in der anglophonen Welt geprägten Begriffe Öko-Islam und Öko-Dschihad mittlerweile zur Bezeichnung einer Strömung durchgesetzt, die als „Synergie der westlich geprägten Umweltbewegung mit islamischen Werten“ (Zbidi 2015, 324) gewissermaßen einen Zwitter bzw., mit Khalid gesprochen, ein Paradoxon darstellt: „A secular articulation of current concerns appears to be a motivation for Muslims to look for answers from within their own traditions“ (Khalid 2010, 16). Das enorme Potenzial eines islamisch begründeten Umweltansatzes dürfte dabei vor allem darin liegen, mit seinem integrativen Ansatz das Bewusstsein für gesamtgesellschaftliche und damit interreligiös verbindende Anliegen zu fördern.

Einen Einblick in diese interreligiös verbindenden Anliegen gab der auf dem Klimafestival angebotene „Markt der Vielfalt“: Die Naturschutz-Teams des Abrahamischen Forums führten vor, wie „Schöpfung bewahren“ funktioniert, die spirituellen Klimaaktivisten von Brücke des Glaubens / Extinction Rebellion gingen „beherzt auf die Straße“, und das 2010 von muslimischen Ingenieuren gegründete Unternehmen NourEnergy klärte darüber auf, wie man einerseits ganz grundsätzlich ein ökologisch nachhaltiges Gemeinde- und Moscheemanagement führen und andererseits ganz konkret mit „Green Iftar“, einem ressourcenschonenden Fastenbrechen im Ramadan, Klimaschutz betreiben könne. In Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Moscheegemeinden und über 30000 Gästen habe NourEnergy in den letzten Jahren damit bereits vier Tonnen CO2 einsparen können. Inspiriert durch den IFEES-Gründer Khalid gründeten ebenfalls im Jahr 2010 Studierende aus vornehmlich nicht religionsbezogenen Studienfächern den muslimischen Umwelt-Verein Hima e. V. (www.hima-umweltschutz.de), der sich ausschließlich dem Thema Umweltschutz widmet und die schariarechtliche Institution der ḥimā – eine bereits vorislamische und vom Islam übernommene Praxis der Einrichtung von Reservaten, die der gesamten Gemeinschaft unterstellt und von der Jagd ausgenommen waren – mit einer neuen umweltethischen Bedeutung auflädt: Im anglophonen Öko-Islam stehen die Buchstaben HIMA mittlerweile modernisiert für „Human Integrated Management Approach“ bzw. für „ein gemeinschaftsbasiertes Umweltschutzprogramm, das Naturschutz und Gemeinwohl zusammendenkt“ (Zbidi 2015, 328).

Das zunehmende und zumindest auf verbaler Ebene zweifellos beeindruckende umweltethische Engagement religiöser Akteure zeigt, welches Potenzial sie der Umweltethik nicht nur zur Förderung interreligiöser Kooperation, sondern auch zur zivilgesellschaftlichen Anerkennung ihrer Gemeinschaften zuschreiben. Es ist deshalb davon auszugehen, dass auch die großen muslimischen Verbände, die sich mittlerweile über den Koordinationsrat der Muslime (KRM) auch im Abrahamischen Forum und im Beirat des Netzwerkes Religionen und Naturschutz beteiligen, das Thema Ökologie zukünftig noch stärker aufgreifen und in ihre Moscheen tragen werden. Denn die Anerkennung, die dem allseits geforderten Engagement der Religionsgemeinschaften für Ökologie und Klimaschutz gewiss ist, ist zweifellos auch in ihrem Interesse. Und sie dürfte auch den Ausschlag geben dafür, dass in naher und weiterer Zukunft die Klimakrise zu einem der größten Beschleuniger interreligiöser und interkultureller Annäherung und Zusammenarbeit werden dürfte.


Rüdiger Braun, 04.11.2021

 

Quellen

Khalid, Fazlun (2010): The Environment in Islam. Islam and the Environment, Amman.

Zbidi, Monika (2015): Islamische Normenlehre zum Umweltschutz, in: ZUR (Zeitschrift für Umweltrecht) 6 (2015), 323 – 330.

www.greenfaith.de; www.godharmic.com; https://greenfaith.org/klimafestival/?lang=de; https://abrahamisches-forum.de/projekte/religionen-fuer-biologische-vielfalt (Abruf der Internetseiten: 4.11.2021).