Gesellschaft

Religion als Fassade im politischen Machtkampf – Zur Anhörung der Supreme-Court-Kandidatin K. Brown Jackson

„What faith are you, by the way?” – Mit diesen Worten leitete der republikanische Senator Lindsey Graham am 22. März 2022 einen der spannungsgeladensten Abschnitte der Anhörung im Justizausschuss zur Berufung von Ketanji Brown Jackson zur Richterin am Obersten Gerichtshof ein.1  Es war der zweite Tag der Befragung, und Jackson antwortete ruhig, aber bestimmt. Sie gab sich als konfessionslose (non-denominational) Protestantin zu erkennen, jedoch nicht ohne den republikanischen Senator aus South Carolina darauf hinzuweisen, dass es nach § 6 der amerikanischen Verfassung keine religiöse Testklausel gibt, die an ihr künftiges Amt geknüpft ist.2

Jackson, die am 7. April 2022 vom Senat für das Amt bestätigt wurde,3  ist die erste afroamerikanische Frau am Obersten Gerichtshof in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Sie ist auch die Erste am Supreme Court, die neben einem erstklassigen Abschluss aus Harvard und prestigeträchtigen Engagements in diversen Anwaltskanzleien Erfahrung als Pflichtverteidigerin mitbringt. Die Liste ihrer Karrierestationen ist lang. Sie arbeitete bereits als juristische Assistentin an mehreren höheren Gerichten, u. a. 1999/2000 für den Richter Stephen Breyer, dessen Nachfolgerin sie nun am Supreme Court wird. Selbst der Senator Lindsey Graham hatte ihre herausragende juristische Qualifikation honoriert, indem er ihr als einer der wenigen Republikaner am 14. Juni 2021 seine Stimme gab, nachdem sie für einen Sitz am U.S. Court of Appeals for the District of Columbia Circuit nominiert worden war.

Grahams beißender Ton ein knappes Jahr später lässt nun auf einen Sinneswandel schließen. Folgt man der Befragung, zählt jetzt offenbar nicht mehr primär Jacksons juristische Fähigkeit, unparteiisch nach Recht und Gesetz zu entscheiden, sondern der Umstand, dass sie von der demokratischen Partei für das hohe Richteramt vorgeschlagen wurde. Schnell wird klar, dass Graham, der ihr wiederholt ins Wort fiel, wenig Interesse an Jacksons Glauben und dessen Verhältnis zu ihrer künftigen Aufgabe hat. Dass Ende des Jahres Teile des US-Kongresses neu gewählt werden, mag hier eine Rolle spielen. Doch offensichtlich sollten die ungeduldig gestellten Fragen zu persönlichen Glaubensüberzeugungen eine Retourkutsche für die Anhörung von 2017 sein. Damals „grillten“ demokratische SenatorInnen die von den Republikanern vorgeschlagene Supreme-Court-Kandidatin und (erz-)konservative Katholikin Amy Coney Barrett. Höhepunkt der Befragung stellte seinerzeit eine Bemerkung dar, mit der die Senatorin Diane Feinstein Barretts Fähigkeit, fair zu urteilen, im Blick auf ihre konservative religiöse Prägung infrage stellte: „The dogma lives loudly within you“ („Das Dogma lebt lautstark in Ihnen“).4

Dass Glaubensfragen bei der Ernennung zu Supreme-Court-RichterInnen derart im Mittelpunkt stehen, ist seit langem nicht mehr ungewöhnlich, obwohl die USA für ihre Religionsfreiheit bekannt sind. In dem polarisierten Land, in dem inzwischen eben auch das Thema Religion hoch politisch geworden ist, symbolisieren die auf Lebenszeit gewählten RichterInnen am Obersten Gerichtshof nicht nur juristische, sondern auch gesellschaftspolitische Deutungsmacht. In Zeiten, in denen die Existenz systembedingter Benachteiligung kontrovers diskutiert wird (Stichwort „Woke Wars“) und gleichzeitig die Gewaltenkontrolle („checks and balances“) schwächer wird, steigt die Bedeutung der RichterInnen. Eine Supreme-Court-Nominierung durch eines der beiden politischen Lager wurde dort darum zuletzt immer wie ein kleiner Sieg gefeiert. Schließlich können KandidatInnen nach ihrer Ernennung teils Jahrzehnte lang wirken, weit über die Amtszeit des jeweils amtierenden Präsidenten hinaus, der sie vorgeschlagen hat.

Aufgrund des langfristigen Einflusses auf die höchstrichterliche Rechtsprechung spielt bei den Nominierungen daher neben der Nähe zu Demokraten oder Republikanern die weltanschauliche Gesamtausrichtung eine große Rolle. Grahams eingangs zitierte Frage nach der Religion ist dementsprechend einer Angriffstaktik zuzuschreiben, die weniger dem Abtasten juristischer Kompetenzen dienen sollte als dem Versuch, die eigenen Leute geschlossen hinter sich zu sammeln. Auf die meisten der in der Anhörung gestellten Fragen gibt es aus Sicht der jeweiligen politischen Lager eindeutig richtige und falsche Antworten, egal wie uneindeutig die eigentliche Rechtslage selbst ist. So hakte Grahams republikanischer Kollege aus Louisiana, John Kennedy, am dritten Anhörungstag nach und fragte Jackson, wann ihrer Meinung nach das Leben beginne, um direkt im Anschluss nach ihrem Glauben zu fragen.5  Damit verknüpfte er offenkundig die persönliche religiöse Haltung zu einer philosophisch-weltanschaulichen Frage unmittelbar mit einer juristischen Position. Kurz vor einer möglichen Neuverhandlung des Abtreibungsurteils Roe vs. Wade (1973) kann das wenig überraschen.6

Die Frage nach der persönlichen Religion wird im Supreme-Court-Ernennungsverfahren als Mittel des politischen Machtkampfs missbraucht. Damit wird deutlich, wie verzerrt der gesellschaftliche Diskurs in den USA ist und wie tief dort mittlerweile das Misstrauen gegenüber dem politischen Gegner sitzt. Im aktuellen Kulturkampf, der sich durch viele Glaubensgemeinschaften zieht, von der United Methodist Church7  bis zur evangelikalen Calvin University8, scheint es in allen Fragen ausschließlich zwei extreme Gegenpositionen zu geben, die um Deutungshoheit ringen. Die unzähligen Probleme, die sich in komplexe Themen und Nuancen verzweigen, und die notwendigen Differenzierungen, die in einer sich schnell verändernden pluralistischen Welt auch rechtlich neu austariert werden müssen, wie Ketanji Brown Jackson in ihrer Verteidigung älterer Gerichtsurteile vor den SenatorInnen anmerkte, geraten im grellen Licht der polarisierten Auseinandersetzung völlig aus dem Blick. Aber einer Gesellschaft, die die Fähigkeit zur differenzierten Beurteilung von Problemen verliert – sei es im Bereich des Rechts oder anderswo –, kommt am Ende die realistische Sicht auf die komplizierte Wirklichkeit abhanden, gerade wenn Religion zum bloßen Ausdrucksmedium der identitätsstiftenden Zugehörigkeit zu einem politischen Lager wird. Dabei verliert sie auch den Sinn für alle Nuancen der religiösen Tiefendimension der Wirklichkeit.


Claudia Jetter, 13.05.2022

 

Anmerkungen

1  Vgl. www.youtube.com/watch?v=j-48-HpxE3A; Jack Jenkins: At confirmation hearing, Lindsey Graham grills Ketanji Brown Jackson on faith, religionnews.com, 22.3.2022, https://tinyurl.com/4fr35p9r; Jacob Lupfer: At Jackson hearings, „What is your faith?“ becomes a gotcha question, religionnews.com, 23.3.2022, https://tinyurl.com/2u6p2emr. (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 14.4.2022).

2  § 6 Abs. 3: „but no religious test shall ever be required as a qualification to any office or public trust under the United States.“ Ausführlichere Betrachtungen zu unterschiedlichen Interpretationen der religiösen Testklausel bei John Witte Jr. / Joel Nichols: Religion and the American Constitutional Experiment, New York 42016.

3  Sie bekam im Senat 53 von 100 Stimmen. Vgl. www.tagesschau.de/ausland/amerika/ketanji-brown-jackson-supreme-court-103.html.

4  Vgl. die Befragung von 2017: www.youtube.com/watch?v=9mDQM1TzlAM.

5  Vgl. www.youtube.com/watch?v=UwDYvv_YFWI.

6  Das Urteil „Roe v. Wade“ war eine Grundsatzentscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, welches der Supreme Court am 22.1.1973 fällte. Es spricht Frauen das Recht zu, über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft zu entscheiden.

7  Im Mai 2022 will sich ein konservativer Teil der United Methodist Church wegen Streitigkeiten bezüglich der Rechte der LGBTQ+-Community offiziell von der Mutterkirche lösen. Vgl. Liam Adams: Global Methodist Church announces May launch, split from United Methodist Church over LGBTQ rights, USA Today, 3.3.2022, https://tinyurl.com/bdkscrx6.

8  Mitte März 2022 wurde bekannt, dass sich das mit der Calvin University verbundene Center for Social Research letzten Herbst von der Universität trennte, nachdem ein dort arbeitender Professor – entgegen den Regeln der Universität – eine gleichgeschlechtliche Ehe gesegnet hatte. Vgl. Bob Smietana: Fallout over LGBTQ spouses at Calvin University captures broader evangelical divide, religionnews.com, 22.3.2022, https://tinyurl.com/2p9x6uzt.