Neuheidentum

Psychotherapie und Seelsorge bei Neuheiden

(Letzter Bericht: 3/2017, 106f) Eine der Schlüsselfragen, die regelmäßig an neureligiöse Bewegungen herangetragen werden, betrifft den Umgang mit Lebenskrisen, Krankheit, Tod. Halten die betreffenden Weltanschauungen auch kritischen Zeiten stand, bieten sie Halt, Trost und Hilfe, wenn das Leben nicht rundläuft oder zu Ende geht? Mit dem Wachstum zum Beispiel des modernem (Neu-)Heidentums oder (Neo-)Paganismus (Kelten, Asatru, Druiden, Hexen, Schamanen usw.) kommt es inzwischen auch vor, dass Anhänger sich in psychotherapeutische Behandlung begeben müssen. Das wirft das Problem auf, dass die wenigsten Therapeuten Kenntnisse über, geschweige denn Erfahrungen mit der heidnischen Glaubenswelt haben, was aber nach beruflichen Standards kultursensibler Psychotherapie Voraussetzung für eine sinnvolle Behandlung ist.

Erstmals haben nun amerikanische Psychologen untersucht, worauf bei der Arbeit mit Neuheiden zu achten sei.1 In ausführlichen Interviews mit zehn heidnischen Studentinnen und Studenten einer kleinen Universität im Mittleren Westen der USA (je 50 % Männer/Frauen), versuchten sie, sich erst ein Bild der Bewegung zu verschaffen und dann deren spezifische Bedürfnisse zu beschreiben.

Die Schwierigkeit, eine so vielgestaltige Bewegung wie den Neo-Paganismus zu definieren, lösen die Autoren, indem sie aus den Interviews vier Kernelemente destillieren, die den meisten Paganen gemeinsam seien: Naturfrömmigkeit, historischer Bezug (keltisch, germanisch etc.), Polytheismus und ein weibliches Moment in der Gottesvorstellung (Große Göttin, Mutter Erde o. Ä.). Diese werden in Grundglaubensinhalte und Rituale aufgefächert. Dazu gehören z. B. die ethischen Maximen „schädige niemanden“ und „verurteile niemanden“, ein Kanon von Feiertagen und Ritualhandlungen, die Vorstellung eines kosmischen Gleichgewichts (Karma), Magiepraxis und spirituell-mystische Erfahrungen. Diese Beschreibung des modernen Paganismus fällt also sehr allgemein aus. Auffällig viel Raum nimmt in den Interviews das Thema „verzerrte Außenwahrnehmungen“ ein – obwohl die meisten der befragten Heiden dann angeben, selbst gar keine eigenen Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Doch hatten sie von anderen viel darüber gehört. Offen bleibt, wie sehr dies durch den Ort der Studie – der mittlere Westen der USA ist stark evangelikal-christlich geprägt – bedingt ist. Die Studie thematisiert nicht, was die Diskrepanz zwischen gefühlter / von anderen gehörter und real (nicht) erlebter eigener Diskriminierung über das Selbstbild des Heidentums aussagt und welche Implikationen das für therapeutische Ansätze haben könnte.

Die paganen Einstellungen gegenüber psychischen Krankheiten und Psychotherapie und die Erwartungen an Therapeuten und Berater sind sehr stark von dem Wunsch nach Unvoreingenommenheit geprägt, ebenfalls Ausdruck der Angst vor Vorurteilen und negativen Wahrnehmungen. Auch dies beruht wohl weniger auf schlechten Erlebnissen – die durchschnittlich 23-jährigen Probanden hatten offenbar keine eigene Therapieerfahrung – als auf der eigenen Lebensgeschichte. Ihre pagane Identitätsentwicklung (schrittweise Konversion) beschrieben die meisten als geprägt durch ein langes Versteckspiel und Geheimhaltung aus Scham, Unsicherheit oder Angst vor Ablehnung. Das ist sicher ein für das Verständnis heidnischer Identität und Spiritualität wichtiger Aspekt. Eine offene Frage ist, inwieweit dieser Befund auch auf europäische Heiden zutrifft.

Ein interessanter Nebenbefund der Studie war der hohe Anteil von der Norm abweichender Geschlechtsidentitäten. Sieben der zehn Befragten ordneten sich dem LGBT-Bereich zu (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender). Wenngleich dieser sehr hohe Wert von 70 % der kleinen Stichprobe geschuldet sein dürfte, halten auch deutsche Neuheiden auf Nachfrage einen stark erhöhten Anteil dieser Personenkreise in den Reihen der hiesigen Heidenszene für plausibel. Es ist dies ein Aspekt, der in der bisherigen Forschung zum Neuheidentum kaum eine Rolle spielt, obwohl Fragen der eigenen Identität und die Betonung des Individualismus häufig im Zentrum heidnischen Selbstverständnisses stehen.

Die Empfehlungen der amerikanischen Studie für Berater und Psychotherapeuten sind letztlich recht allgemein und laufen darauf hinaus, sensibel und aufgeschlossen zu sein, nicht zu viele Vorannahmen über das Heidentum zu haben und sich offen auf die Glaubenswelt des jeweiligen Patienten einzulassen.

Interessant sind weniger diese Empfehlungen, als vielmehr die Beobachtung, dass eine organisierte Beschäftigung mit dem Thema Beratung, Therapie und Seelsorge für Heiden beginnt. Dies ist u. a. ein Mosaikstein einer zunehmenden Etablierung und Institutionalisierung der Bewegung. Inzwischen gibt es nicht wenige Älterwerdende mit jahrzehntelanger heidnischer Biografie. Diese Etablierung setzt ausgerechnet in einem Lebensbereich an, der zu den klassischen Feldern praktischer christlicher Nächstenliebe gehört: der Fürsorge und Seelsorge für Kranke. Und sie gestaltet sich auch erkennbar nach diesem Vorbild.

Besonders deutlich wird das bei einer verwandten Privatinitiative, die deutschsprachige Heiden im Jahr 2015 gestartet haben (http://verdandihilfe.de/wordpress). Die neue, aus Österreich kommende Heidenzeitschrift „Der Kessel“ (www.kessel.vision) berichtet in ihrer Erstnummer (Januar 2016) von der Initiative „Verdandihilfe – Polytheistischer Beistand“, einem ehrenamtlichen Netzwerk von derzeit ca. 40 bis 50 mehrheitlich in Gesundheitsberufen tätigen Neuheiden, die bei Bedarf zum Besuch ans Krankenbett kommen. Benannt ist die Initiative nach Verdandi, einer der drei Schicksalsnornen, die unter dem Weltenbaum Yggdrasil sitzen und des Menschen Leben lenken. Ausgelöst wurde der im Sommer 2015 gestartete Aufruf zum Aufbau eines Netzwerks durch den Krankenhausaufenthalt eines der beiden Autoren, der im Klinikflur eine Notiz über das evangelisch-katholische Angebot christlicher Seelsorge gesehen hatte und sich fragte: „Warum gibt es das nicht auch für uns Heiden?“ Das heutige Angebot klingt für christliche Ohren sehr vertraut: „Wir hören zu. Wir geben Mitgefühl. Wir kommen ins Krankenhaus. Je nach Bedürfnis bieten wir ein Gebet, einen tröstenden Text, ein kleines Ritual, eine Meditation oder ähnliches an.“ Offenbar gehen auch die Heiden, obgleich sie ihre Identität oft in erheblichem Maß auf die Abgrenzung vom Christentum gründen, von einem guten biblischen Grundsatz aus: „Prüfet alles und das Gute behaltet“ (1. Thess 5,21).


Kai Funkschmidt


Anmerkungen

  1. Kevin A. Harris/Kate M. Panzica/Ruth A. Crocker, Paganism and Counseling. The Development of a Clinical Resource, in : Open Theology 2/2016, 857-875, www.degruyter.com/view/j/opth.2016.2.issue-1/opth-2016-0065/opth-2016-0065.xml .