Prüfet die Geister!

75 Jahre Barmer Theologische Erklärung

Die am 31. Mai 1934 einmütig von 139 Verantwortungsträgern aus 25 Landes- und Provinzialkirchen Deutschlands verabschiedete Barmer Theologische Erklärung (BTE) brachte in einer konkreten geschichtlichen Situation und jenseits konfessioneller Differenzen zum Ausdruck, wozu die evangelische Kirche Ja und wozu sie Nein sagen muss, wenn sie christliche Kirche bleiben will. So war die BTE mit ihren sechs Bekenntnis- und Verwerfungssätzen, denen jeweils ein Wort aus dem Neuen Testament vorangestellt ist, das geistige Widerstandszentrum gegen die Gleichschaltung der Kirche mit der nationalsozialistischen Ideologie. „Zum ersten Male seit der Reformation kamen die Protestanten Deutschlands auf dem Boden ihres gemeinsamen Erbes von ‚Schrift und Bekenntnis’ zusammen und sagten ein bekennendes Wort, von dem sie überzeugt waren, dass Gott es ihnen in den Mund gelegt hatte“ (Joachim Beckmann).

Das Zentrum des christlichen Glaubens und des kirchlichen Lebens wird in der BTE in pointierter und einprägsamer Sprache erinnert. These 1 nimmt Bezug auf die Geltung des ersten Gebotes. Jesus Christus als „das eine Wort Gottes“ schließt andere „Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung“ aus. These 2 weist darauf hin, dass Gottes vergebender Zuspruch in Christus sich nicht von seinem Anspruch „auf unser ganzes Leben“ trennen lässt. Christsein ist eine persönliche, aber keine private Angelegenheit. Zum christlichen Leben gehört öffentliche Verantwortung, die nicht unter einer christusfremden Eigengesetzlichkeit steht. Die Thesen 3, 4 und 6 ziehen daraus Konsequenzen für kirchliches Leben: In ihrer Botschaft und Ordnung darf sich die Kirche nicht von dem „Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen“ bestimmen lassen. Sie ist die „Gemeinschaft von Brüdern (und Schwestern), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“. In ihren Ämtern und Diensten ist die Kirche missionarische und diakonische Kirche, die „die Botschaft von der freien Gnade Gottes“ an „alles Volk“ ausrichtet. Nach These 5 darf der Staat nicht blinde Unterwerfung verlangen und „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden“. Vielmehr ist es sein Auftrag, „in der noch nicht erlösten Welt ... unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“.

• Die BTE erinnert Theologie und Kirche an ihren zentralen Auftrag, Jesus Christus in Wort und Tat zu bekennen. Zu diesem Auftrag gehört auch, was die Bibel „Unterscheidung der Geister“ nennt. Unterscheidungen schaffen Räume und markieren Grenzen. Die BTE war die Antwort der Bekennenden Kirche auf die Vereinnahmung der Kirche durch den Nationalsozialismus. Sie markierte eine Grenze und sprach dem damaligen Kirchenregiment die Legitimation ab. Heute leben wir in einem Rechtsstaat, der auf der Anerkennung der Menschenrechte beruht und als Staat an keine Religion oder Weltanschauung gebunden ist, der vielmehr unterschiedlichen Überzeugungen Freiheits- und Gestaltungsräume eröffnet. Zugleich wird von jeder Religion und Weltanschauung erwartet, dass sie frei von staatlichem Zwang und politischer Gewalt ist. Der religiöse Pluralismus einer demokratischen Kultur lebt allerdings von gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Rechtsbewusstsein, dessen Bewahrung nicht automatisch geschieht und auch abhängig ist von den religiösen Verwurzelungen des Rechts und der Moral.

• Die christlichen Kirchen müssen sich heute mit beidem auseinandersetzen: Religionsfaszination und Religionsdistanz, Säkularisierung und Revitalisierung der Religion, Relativierung und Fundamentalisierung religiöser Wahrheit. In einem durch tiefgreifende Distanz zu allem Religiösen geprägten Umfeld wird deutlich, dass es nicht nur fesselnde und krankmachende Ausdrucksgestalten von Religion (auch der christlichen Religion) gibt. Auch gesteigerte Formen des Säkularismus können etwas Gewaltsames an sich haben. In säkularisierten und pluralistisch geprägten Gesellschaftssystemen der westlichen Welt ist es an der Zeit, auch darüber in eine Diskussion einzutreten, welche Folgen der heute vielfach beobachtbare Verlust an religiöser Orientierung für das Leben des Einzelnen sowie das Rechtsbewusstsein und die Werteorientierung in der Gesellschaft hat.

• Die Auseinandersetzung mit den „Geistesmächten“, den religiösen und säkularen Strömungen der Gegenwart, ist eine bleibende Aufgabe kirchlichen Handelns, die unter dem Begriff Apologetik zusammengefasst wird. Es gibt Situationen, in denen das Bekenntnis des Glaubens Widerstand und Unterscheidung beinhaltet. Menschenverachtende Ideologien, Versektungsprozesse religiöser Gemeinschaften, die Verharmlosung von Leiden, Sterben und Tod fordern zu Kritik und Protest heraus. Am Umgang mit den Grenzen des Menschen scheiden sich die Geister. Das gilt auch im Blick auf Optionen für eine neue Wissenschaftsreligion. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt nährt erneut optimistische Visionen von einer heilen Welt und einem unbeschädigten, von Krankheit und Leid verschonten Leben. Dienlich allerdings ist es dem Menschen, wenn er ein Wissen von seinen Grenzen behält, den Träumen vom Paradies auf Erden widersteht, seine eigenen Möglichkeiten gestaltend nutzt, sie aber von dem unterscheidet, was allein Gott tun kann.

• Die Konzentration der BTE auf den zweiten Glaubensartikel hinterfragt die Christusvergessenheit kirchlicher Praxis und theologischer Reflexion. Was heißt es, Jesus Christus als „Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden“ und „mit gleichem Ernst“ als Gottes kräftigen „Anspruch auf unser ganzes Leben“ wahrzunehmen? Diese Frage wird unzureichend beantwortet, wenn Jesus Christus vor allem als Vorbild, als vollkommenes Geschöpf Gottes verstanden und eingeordnet wird in die lange Reihe prophetischer Gestalten. Der Arianismus ist für die christliche Kirche seit ihren Anfängen Versuchung und Herausforderung gewesen. In der theologischen Konzeption des alexandrinischen Presbyters Arius (ca. 280-336) wird Jesus als das erste und vollkommene Geschöpf Gottes bezeichnet, nicht aber als eingeborener Sohn Gottes. Das arianische Verständnis Christi nimmt dem Leiden Christi seine erlösende Wirkung als göttliches Handeln zur Erlösung der Welt. Christen denken, verstehen und bekennen Gott jedoch nicht ohne Jesus Christus und Jesus Christus nicht ohne Gott.


Reinhard Hempelmann