Horst Groschopp

Pro Humanismus. Eine zeitgeschichtliche Kulturstudie

Horst Groschopp, Pro Humanismus. Eine zeitgeschichtliche Kulturstudie. Mit einer Dokumentation, Reihe Humanismusperspektiven, Bd. 1, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2016, 287 Seiten, 24,00 Euro.

Der Verfasser ist einer der wichtigsten Vordenker der säkularen Szene in Deutschland. Zugleich ist er auch das „Enfant terrible“ der Szene, da er diese mit seinen Veröffentlichungen, gespeist aus intimer Kenntnis und erstaunlicher Beharrlichkeit beim Nachfragen, immer wieder in Aufruhr versetzt. Wobei „Aufruhr“ nicht unbedingt Diskussionen meint – mitunter zeugt auch ein lautes Schweigen davon, dass jemand die richtigen Fragen stellt.

Die vorliegende Publikation geht mit der säkularen Szene, die der Verfasser „sowohl in struktureller als auch in konzeptioneller Hinsicht … in einer Krise“ (8) sieht, hart ins Gericht. Hier schreibt jemand, der sich verbandsintern keine Karriere mehr erhofft – und doch will er „einen Beitrag zur Strategiefindung der ‚säkularen Szene‘“ leisten (8). Was ihn umtreibt, ist die Frage nach dem Humanismus: Was ist Humanismus, und was ist humanistisch am Humanistischen Verband? Der Autor konstatiert einen gewissen „Behauptungshumanismus“: „Wenn wir als humanistische Organisation etwas anbieten, dann ist dies humanistisch, weil wir humanistische Vereine sind“ (10). Es liegt auf der Hand, dass es so einfach nicht geht. Daher fragt Groschopp, welche historischen Wurzeln der Humanismus in der säkularen Szene hat und ob es einen Grundkonflikt zwischen „säkularem“ und „ethischem“ Humanismus gibt. Letzteres war Ende 2011 von dem Thüringer Pfarrer und Alttestamentler Bodo Seidel im EZW-Text 216 „Dialog und Auseinandersetzung mit Atheisten und Humanisten“ vermutet worden.

Groschopp bestätigt diesen Verdacht und erläutert, dass die Entdeckung des Humanismus durch die säkulare Szene ein vergleichsweise junges Phänomen ist. Die klassische Freidenkerbewegung konnte mit „Humanismus“ wenig anfangen; hier dürfte unter anderem ein Verdikt von August Bebel nachgewirkt haben, welcher im Humanismus eine vom Klassenkampf ablenkende „Humanitätsduselei“ vermutete. Als 1989/90 jedoch die traditionelle Freidenkerbewegung unterging, griff man nach dem Humanismusbegriff „wie Ertrinkende nach einem Rettungsring“ (8). Bei diesem Satz möchte der Leser kurz durchatmen. Immerhin bescheinigt der Verfasser damit der traditionellen Freidenkerbewegung, seit der Wiedervereinigung obsolet zu sein. Der Gedanke ist nicht neu, aber meines Wissens selten so prononciert von einem Insider ausgesprochen worden.

Groschopp bezeichnet das neue Interesse der Szene am Humanismus als „postfreidenkerische Programmatik“ (9). Er fragt, ob „der helle Schein (des Humanismus; A. F.) wieder verblasst oder nach seiner aktuellen Krise, die vor allem eine der entsprechenden Verbände ist, neu erblüht“ (9). Nicht zu Unrecht sieht er einen inflationären Gebrauch des Begriffs Humanismus in der Szene. Allenthalben sei von „Humanismus“ die Rede; von „Transhumanismus“ und in der Giordano-Bruno-Stiftung gar von einem „evolutionären Humanismus“.

Was den Verfasser umtreibt, ist die Erkenntnis, „dass sich Humanismus nicht in ‚praktischem Humanismus‘ erschöpft, und dass dieser den ‚säkularen Humanismus‘ zu überwinden hat, was aber bisher nur halbherzig geschieht“ (9).

Der Szene mangele es an Erkenntnis darüber, was Humanismus sei. Groschopp schreibt, dass ihm dies bei der Erarbeitung der letzten HVD-Grundlagentextes („Humanistisches Selbstverständnis 2015“) deutlich geworden sei. „Insgesamt verweist die unbefriedigende konzeptionelle Klarheit in der ‚Szene‘ auf das Fehlen einer wissenschaftlichen Humanistik“ (10). Ist ein (wie auch immer geartetes) humanistisches Selbstverständnis überhaupt formulierbar, ohne ein Bild von anderen Humanismen („Volkshumanismus“) zu haben? Groschopp meint, die säkulare Szene wisse viel zu wenig von den „Konfessionsfreienkulturen“ (12). Diese Unkenntnis verbindet die Kirchen und die säkularen Verbände, da alle nur blasse Vorstellungen von den Konfessionslosen haben. Für die säkularen Verbände ist das jedoch folgenreicher als für die Kirchen. Denn für viele westdeutsche Konfessionslose ist Humanismus ein Ausdruck für Religionsabstinenz, viele ostdeutsch sozialisierte Funktionäre der Szene sehen im Humanismus hingegen „vor allem einen weltanschaulichen Ersatz, ein praktisches Lebenshilfeangebot und eine pragmatische Organisationsform“ (13). Mit anderen Worten: Während viele westdeutsch sozialisierte Funktionäre der säkularen Szene kirchen- und religionskritisch denken, haben viele ostdeutsch sozialisierte gar kein Problem mit den Kirchen – ihnen ist Freidenkerei fremd, und sie benötigen oder wollen sie nicht. (Man könnte zur Erläuterung auf ein Bonmot verweisen, das dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zugeschrieben wird: Er sei im Westen wegen der Kirche aus der Kirche ausgetreten und im Osten wegen der Kirche in die Kirche eingetreten.) Bei solch unterschiedlicher Orientierung ergeben sich zwangsläufig Missverständnisse und Differenzen in den Strategien der humanistischen und atheistischen Verbände.

In dem Kapitel „HVD und Humanismus“ (14-25) geht der Verfasser ausführlicher der Frage nach, welche Rolle der HVD in dieser Szene spielt. Erneut bemängelt er das Fehlen eines humanistischen Profils: „Was ist die humanistische Spezialität des HVD z. B. gegenüber der humanitären der Diakonie bei einem vergleichbaren Angebot?“ (23) Man muss sich stärker mit dem Humanismus außerhalb des humanistischen Spektrums beschäftigen. Das wirft die heikle Frage auf, warum sich jemand für den HVD interessieren sollte, wo er doch Humanismus überall finden kann. Groschopp moniert, dass der HVD in seinem jüngsten „Humanistischen Selbstverständnis 2015“ nicht einmal Auskunft darüber gibt, warum man im HVD Mitglied werden sollte (147). Da wundert es weniger, dass die säkulare Szene kaum Mitglieder binden kann. Der Verfasser bemüht ein interessantes Bild und schreibt: „Insgesamt hat das ‚säkulare Spektrum‘ gegenwärtig ungefähr die gleiche Mitgliederstärke wie 1914: etwa 25-30.000 Personen“ (142).

Ich habe das Buch mit größtem Interesse gelesen. Rund 25 Jahre nach der Gründung des HVD und der völligen Neuaufstellung der säkularen Szene in den letzten Jahren liegt damit eine erste tiefgehende Bestandsaufnahme ihrer Probleme vor. Sollte die Szene scheitern, kann man im vorliegenden Buch die Ursachen suchen. Sollte sie eines Tages aufblühen – auch.


Andreas Fincke, Erfurt