Neuoffenbarer

Im Unterschied zu spiritistischen Jenseitsbotschaften, als deren Quelle geschöpfliche Geistwesen gelten, tragen Neuoffenbarungen einen höheren Anspruch in sich. Mit diesem Sammelbegriff werden Botschaften bezeichnet, die auserwählte Menschen – Mittlerpersonen, „Werkzeuge“ – direkt von Gottvater, Jesus Christus oder Engeln in Vision, Hördiktat oder über eine innere Stimme empfangen und niedergeschrieben haben.

Der Anspruch von Neuoffenbarungen wendet sich gegen die kirchlich-traditionelle Auffassung, dass der biblische Kanon abgeschlossen ist. Die neuen Kundgaben, „das Licht aus den Himmeln“, soll die biblische Botschaft ergänzen, korrigieren oder überbieten. Den Auftakt für den neuzeitlichen Empfang neuer Offenbarungen bilden die Niederschriften des schwedischen Visionärs Emanuel Swedenborg (1688-1772). Seine Jenseitsschau hat weitere Kundgaben „aus den höchsten Himmeln“ angeregt und beeinflusst. Große Wirkung hat auch das Schrifttum bzw. die „Neuoffenbarung“ Jakob Lorbers (1800-1864) entfaltet, der sich auf das sog. „innere Wort“ berief. Nach seinen Aussagen würde es sich dabei um eine innere göttliche Stimme in der Nähe des Herzens handeln. In der Tradition des „inneren Wortes“ stehen weitere Neuoffenbarer des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Um das zum Teil sehr umfangreiche Schrifttum von Neuoffenbarern des 19. und 20. Jahrhunderts haben sich bis in unsere Zeit Kreise und Gemeinschaften gesammelt. Sie sind weitgehend lose organisiert und werden deshalb als Neuoffenbarungsbewegungen bezeichnet. Ihre Anhänger messen den jeweiligen Niederschriften eine besondere Offenbarungsqualität zu oder erheben sie in den Rang von „Nebenbibeln“. Darüber hinaus erblicken sie in den neuen Mitteilungen Ausdrucksformen des fortschreitenden Offenbarungshandelns Gottes. Zur Begründung wird auf die biblische Verheißung in Joh 14,26 verwiesen. Die Neuoffenbarungen gelten deshalb als unmittelbar geistgewirkt. Die Anhänger von Neuoffenbarungen, die sich untereinander auch „Geistgeschwister“ nennen, folgern daraus, dass von Zeit zu Zeit für die Menschen neue Offenbarungen erfolgen müssen, um die Menschheit in der Wahrheit zu leiten: „Wie ein Lehrer seinen Schülern in der ersten Klasse nur wenige grundlegende Dinge sagen und ihnen erst mit ihrem Älter- und Reiferwerden von Klasse zu Klasse mehr beibringen kann, so kann es auch Gott mit uns Menschen nicht anders machen.“ (www.lebensstufen.de)

Mitunter haben Neuoffenbarungen auch zum Entstehen von relativ fest organisierten Gruppen (Lichtkreis Christi) oder – wie im Fall der Glaubensgemeinschaft Universelles Leben (zuvor Heimholungswerk Jesu Christi) – von Neureligionen mit religionsvermischenden Elementen (Karma- und Reinkarnationsvorstellungen) geführt.

Wesentliche Kennzeichen von Neuoffenbarungen sind:

• Die Kundgaben sind in der 1. Person Singular abgefasst. Gott bzw. Christus als Sprecher der Worte werden im Text durch Großbuchstaben wie z.B. „ICH sage euch...“ oder „MEIN Wort“ hervorgehoben.

• Die meist umfangreichen Mitteilungen gehen über die Bibel hinaus und beanspruchen universale Geltung und Exklusivität. Von ihren Anhängern werden sie zu einer überzeitlichen und damit nicht hinterfragbaren Wahrheit hochstilisiert.

• In epischer Breite entfalten die Neuoffenbarungstexte Sinn und Zweck einer geistigen „Urschöpfung“ und geben detailliert Auskunft über das Leben in den jenseitigen Bereichen.

• Neuoffenbarungen beziehen sich auf die Bibel, doch sie wollen sie prinzipiell überbieten. Vereinzelt werden verlorene Briefe oder Evangelien aus dem frühen Christentum „neu offenbart“.

• In den Schriften wird im gnostisierenden Sinne zwischen einer geistigen und einer materiellen Schöpfung unterschieden, wobei letztere das Ergebnis des Sündenfalls darstellt.

• Die Rolle Jesu bleibt in Neuoffenbarungen meist auf die eines Lehrers bzw. Übermittlers weiterführender Erkenntnisse beschränkt.

• Neuoffenbarungen üben meist Kritik am Erscheinungsbild der zeitgenössischen Kirchen.

Lesekreise, Neuoffenbarungsbewegungen und Neureligionen

Auf dem Feld der Neuoffenbarungen fallen besonders zwei literarische Werke – allein schon wegen des voluminösen Umfangs – ins Gewicht:

(1) Das religiöse Werk des schwedischen Naturwissenschaftlers und Visionärs Emanuel Swedenborg (1688-1772) gilt als die erste „neue Offenbarung“ in der Moderne. Swedenborg war davon überzeugt, dass der Herr ihn in die geistige Welt eingelassen und ihm gestattet habe, „die Himmel und Höllen zu sehen und auch mit Geistern und Engeln zu reden“. Ausführlich schildert der Visionär das Leben in den jenseitigen Welten. Leitend ist dabei insbesondere der Fortschrittsglaube. Die Vorstellung des wiederholten Erdenlebens (Reinkarnation) wird jedoch nicht vertreten. In den Werken Swedenborgs wird insbesondere Kritik an der Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben geübt. Anhänger des Schrifttums schlossen sich nach dem Tod Swedenborgs zur „Neuen Kirche“ zusammen. (www.swedenborg.de)

(2) Der Grazer Musiker Jakob Lorber (1800-1864) wurde nach eigenen Angaben im Jahr 1840 zum „Schreibknecht Gottes“ berufen. Wie sein Biograph berichtet, hätte Lorber mitten in seinen Umzugsvorbereitungen das „innere Wort“, das er Christus zuschrieb, in sich vernommen. Im Lauf von 24 Jahren entstanden zahlreiche, zum Teil umfangreiche Bände über die Schöpfung, über das Jenseits sowie das zehnbändige Johannesevangelium mit tagebuchartigen Aufzeichnungen Jesu. Der Lorber-Verlag in Bietigheim-Bissingen vertreibt das Schrifttum, die in Hausham ansässige Lorber-Gesellschaft setzt sich für die Verbreitung der Neuoffenbarung ein. Im deutschsprachigen Raum bestehen rund 30 Lorber-Kreise, in denen das Werk des „Schreibknechts Gottes“ studiert wird. (www.lorber-gesellschaft.de)

In der Tradition Lorbers stehen  die Schriften von:

Johanne Ladner (1824-1886), Gottfried Mayerhofer (1807-1877), Leopold Engel (1858-1931), Georg Riehle (1872-1962), Bertha Dudde (1891-1965), Anita Wolf (1900-1989), Johanna Hentzschel (1901-1981) und Johannes Widmann (1940-2000). Sie haben nur vereinzelt Kreise gebildet. Ihre Schriften und Broschüren werden neuerdings über CDs und im Internet verbreitet (www.neuoffenbarung.de). Unter Neuoffenbarungsfreunden ist die Authentizität einzelner „Nachfolger“ Lorbers jedoch umstritten.

Zu den heute aktiven Neuoffenbarungsgruppen zählen:

• Liebe-Licht-Kreis Nürnberg (gegr. 1976) um die Trägerin des „inneren Wortes“ Renate Triebfürst: Er bietet Schulungen von Jesus Christus durch das „innere Wort“ an. Grundlage ist das über 500 Seiten umfassende Buch „Jesus Christus lehrt: Der Weg zur Einheit durch Liebe“. Regelmäßige Gemeinschaftstreffen finden in Nürnberg und Würzburg statt. (www.liebe-licht-kreis-jesu-christi.de)

• Der Lichtkreis Christi mit Sitz in Übersee am Chiemsee versteht sich als „überkonfessionelle Gemeinschaft der Liebe“ und wurde ca. 1969 von dem Neuoffenbarungsfreund Harald Stößel (1900-1994) gegründet. Derzeitiger Vorsitzender des Vereins ist der Mathematikprofessor Edgar Kaucher, Karlsruhe. Im Zentrum steht „Die Neue Bibel“, die angeblich durch das direkte Wort Gottes geoffenbart wurde und zusammen mit Altem und Neuem Testament die „Heilige-Drei-Einheit“ bilden soll. (www.lichtkreis.de; www.neue-bibel.de)

 Aus Neuoffenbarungen sind auch Neureligionen hervorgegangen. Zu den bekanntesten zählen:

• St. Michaelsvereinigung in Dozwil/Schweiz: Die von Paul Kuhn (1920-2002) und dem Medium für den Erzengel Michael, Maria Gallati (1920-1988), im Jahr 1974 gegründete Gemeinschaft lädt zu Gottesdiensten und Eucharistiefeiern ein, die nach eigenen Angaben von 2000 Menschen besucht werden. Über „Werkzeuge Gottes“ sollen während der letzten vier Jahrzehnte „mehrere tausend Offenbarungen hoher Himmelsgeister“ empfangen worden sein. Derzeit wird die Gemeinschaft von zwei „Priestern“ geleitet. (www.benedicite.ch)

• Orden „Fiat Lux“: Die Gemeinschaft mit Sitz in Lindau-Ibach (Schwarzwald) wurde 1980 vom „Sprachrohr Gottes“ Erika Bertschinger-Eicke (geb. 1929) alias „Uriella“ gegründet. Nach eigenen Angaben empfängt sie die Botschaften von Christus in Tieftrance. Eine Internetadresse der Gemeinschaft existiert nicht.

• Universelles Leben (vormals Heimholungswerk Jesu Christi): Zu einer Neureligion mit synkretistischen Elementen hat sich die 1977 entstandene, umstrittene Glaubensgemeinschaft entwickelt.

Grundlage für die eigene, angeblich „urchristliche“ Lehre und Praxis bilden die neuen Offenbarungen, die Gabriele Wittek (geb. 1933) als „Lehrprophetin der Jetztzeit“ seit 1975 von Christus und verschiedenen Geistwesen empfangen soll. Seit den letzten Jahrzehnten zeichnen sich beim Universellen Leben deutliche Radikalisierungstendenzen ab, die in einer übersteigerten Aggressivität gegenüber den christlichen Kirchen und in einer massiven Polemik gegen die von ihnen angeblich verfälschte Bibel gipfeln. (www.universelles-leben.org)

Einschätzung

Neue Offenbarungen erheben den Anspruch, direktes und unverfälschtes Wort von Gott und Jesus zu sein. Dabei fällt auf, dass die Bedeutung Jesu Christi als Erlöser in ihrer Tiefe nicht erfasst wird. Meist wird er auf die Funktion eines Lehrers oder Inspirators einer neuen Lehre reduziert. Neuoffenbarungen entspringen dem menschlichen Wunsch nach Eindeutigkeit, und sie reagieren auf die Sehnsucht nach einem nachvollziehbaren, geschlossenen Weltbild. Die höheren Kundgaben wenden sich in ihrem Anspruch gegen das protestantische Prinzip des „sola scriptura“, nach dem die Schrift die alleinige Quelle und der Maßstab kirchlicher Verkündigung sein soll. In der Glaubenswelt von Neuoffenbarungsanhängern wird die Bibel relativiert und letztlich als defizitäre, überholte oder verfälschte Glaubensurkunde betrachtet. Den Kirchen wird vorgeworfen, sie würden infolge der biblischen Normierung einen schweigenden Gott verkünden. Bei genauerem Hinsehen lassen sich zwischen den verschiedenen höheren Kundgaben auch inhaltliche Widersprüche feststellen, worüber unter „Geistgeschwistern“ heftig gestritten wird.

Neuoffenbarungen müssen historisch-kritisch geprüft und eingeordnet werden. Dabei kann deutlich werden, dass es sich – je nach Entstehungszeit und Kontext der jeweiligen Botschaft – um Zeit- und Krisensymptome handelt. Neue Offenbarungen können aus religionspsychologischer Sicht als „selbstinduzierte und inhaltlich komplexe Offenbarungserlebnisse“ (Bernhard Grom) betrachtet werden. Insbesondere dann, wenn die subjektiven Erlebnisse von Neuoffenbarern einen überzogenen und für alle verbindlichen Geltungsanspruch erheben, kann daraus die Haltung eines ausgeprägten „Neuoffenbarungsfundamentalismus“ resultieren, der den einzelnen Anhänger in Sonderwelten und in den Geist der Unfreiheit führen kann. In jedem Fall ist der Inhalt von Neuoffenbarungen kritisch zu prüfen und an der biblischen Botschaft zu messen.


Matthias Pöhlmann


Kritische Literatur (in Auswahl)

Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 151997, 559-687

Hans Krech / Matthias Kleiminger (Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 62006, 409-558

Matthias Pöhlmann (Hg.), „Ich habe euch noch viel zu sagen...“ Neuoffenbarer – Propheten – Gottesboten, EZW-Texte 169, Berlin 2003

Ders., Neuoffenbarer und Neuoffenbarungsbewegungen, in: Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005, 569-578

Hans-Jürgen Ruppert, Neuoffenbarung, in: Harald Baer u. a. (Hg.), Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Freiburg/Br. 2005, 881-885

Georg Schmid / Georg Otto Schmid (Hg.), Kirchen – Sekten – Religionen, Zürich 72003, 207-235


Neuoffenbarungen im Internet

www.benedicite.ch 
www.bertha-dudde.de 
http://das-lebendige-wort.de 
http://gott-ist-meine-kraft.info 
www.lebensstufen.de 
www.jesusoffenbarungen.ch 
www.lichtkreis.de sowie www.neue-bibel.de 
www.liebe-licht-kreis-jesu-christi.de 
www.lorber-gesellschaft.de 
www.neuoffenbarung.de 
www.offenbarung-cd.de 
www.swedenborg.de