Jehovas Zeugen

Neues Selbsthilfeangebot „Betesda“ unterstützt ehemalige Zeugen Jehovas

JEHOVAS ZEUGEN

 

Neues Selbsthilfeangebot „Betesda“ unterstützt ehemalige Zeugen Jehovas. (Letzter Bericht: 3/2022, 206 – 208) Über fünfzig ehemalige Zeugen Jehovas und einige mehr oder weniger „aktive“ Mitglieder der Religionsgemeinschaft trafen sich am 7. Mai 2022 in den Räumen einer baptistischen Gemeinde in Hamburg zur ersten Betesda-Konferenz. Den TeilnehmerInnen ist gemeinsam, dass sie die Theologie der Wachtturm-Gesellschaft hinter sich lassen wollen und dass sie eine neue christliche Heimat suchen.

Betesda ist ein relativ neues Angebot, das sich an ehemalige Zeugen Jehovas richtet oder an solche AnhängerInnen der Religionsgemeinschaft, die mit dem Gedanken spielen auszutreten. Bei der Konferenz waren einige weitere interessierte Gäste anwesend, zu denen auch ich gehörte. Durch das Programm führte Tobias Ain, Initiator von Betesda und ehemaliger Ältester bei Jehovas Zeugen. Eine Lobpreis-Band der benachbarten freikirchlichen Gemeinde sorgte für musikalische Untermalung.

Unter dem Vorzeichen, genau das Gegenteil eines Zeugen-Jehovas-Kongresses zu sein, wurde „alles was triggert“ vermieden, so Ain. Anstatt professioneller Namensschilder gab es einfache Aufkleber, auf die jeder seinen Vornamen schreiben konnte. Auch hieß die Veranstaltung nicht Kongress, sondern Konferenz. Anders als bei den Kongressen von Jehovas Zeugen gab es Live-Musik und Verpflegung in den Pausen. Ein Mann, ca. 26 Jahre alt, der neben mir Platz nahm, äußerte sich erleichtert darüber, dass im Gemeinderaum, in dem die Konferenz stattfand, kein Kreuz hing. Bei genauerem Hinsehen blitzte allerdings unter dem Jackett auf Ains T-Shirt ein Kreuz hervor.

Nach einem Begrüßungswort von Mirjam Fuchs, Pastoralreferentin der gastgebenden Oncken-Gemeinde, begann Ain den ersten der fünf Vorträge. Darin bot er eine theologische Auslegung des Wortes „Wahrheit“. Redewendungen wie „in der Wahrheit aufwachsen“ oder „zur Wahrheit kommen“ sind zentral in der innergemeinschaftlichen Sprache der Zeugen Jehovas. Die Ausführungen des Referenten dienten dazu, den Wahrheitsbegriff der Wachtturm-Gesellschaft zu widerlegen. Einen weiteren Fokus legte er auf die Gott-Mensch-Beziehung. Hier distanzierte er sich von der Glaubensvorstellung, dass Menschen erst durch Regelbefolgung in der Gunst Gottes stehen. Stattdessen sei Gottes Liebe zum Menschen bedingungslos. Zum Ende seines Vortrags ermunterte er das Publikum, unterschiedliche christliche Gemeinschaften aufzusuchen. Denn Betesda will selbst keine Religionsgemeinschaft sein, sondern ehemalige Zeugen Jehovas bei der Suche nach einer neuen geistlichen Heimat begleiten.

Jörg Pegelow, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Nordkirche, beleuchtete in seinem Vortrag den Prozess des „Ausstiegs“. Für einige KonferenzteilnehmerInnen dürfte der Kontakt zu einem (evangelischen) Theologen etwas Neues sein, da die Vorbehalte der Wachtturm-Gesellschaft gegenüber der „Christenheit“ groß sind. Pegelow legte Möglichkeiten und Grenzen seiner Beratungstätigkeit dar. Selbst wenn jemand überlege, wieder zurück zu Jehovas Zeugen zu gehen, müsse man dies respektieren. Es gehe ihm in der Beratung darum, Menschen zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden, und nicht darum, sie für seine Landeskirche zu gewinnen, auch wenn er sich über einen solchen Schritt natürlich freuen würde.

Carsten Hokema, Pastor einer freikirchlichen Gemeinde in Hamburg, berichtete in seinem Vortrag über seine Missionsaktivitäten. Er ist begeisterter Kite-Surfer und nutzt sein Hobby zur Mission. Seine Homepage nennt er dementsprechend „ewigkite.de“. Weitere bemerkenswerte Aktionen sind eine aufblasbare Kirche und eine Kirchen-Hüpfburg. Es gehe ihm darum, zunächst mit Menschen ins Gespräch zu kommen – ob sich schließlich jemand für seine oder eine andere Kirche erwärmen lasse, sei zweitrangig.

Als Überraschungsgäste kamen Johannes Mickenbecker und seine Frau Lara Mickenbecker. Johannes Mickenbecker ist der Zwillingsbruder von Philipp Mickenbecker, der am 9.6.2021 starb und zuvor seinen Weg mit der Krebserkrankung und seinen christlichen Glauben in diversen Medien mit der Öffentlichkeit geteilt hatte. Die Zwillingsbrüder sind durch ihren YouTube-Kanal „The Real Life Guys“ bekannt. Lara Mickenbecker berichtete, dass sie in eine Zeugen-Jehovas-Familie hineingeboren wurde und 2020 die Religionsgemeinschaft verließ. Auch Johannes Mickenbecker habe sich vorübergehend mit den Glaubensvorstellungen der Wachtturm-Gesellschaft befasst und Bibelunterweisungen erhalten. Doch die Regeln seien ihm zu einengend erschienen.

Am Ende der Konferenz stand ein Vortrag von Jascha Schmitz, der Ältester und stellvertretender Kreisaufseher bei Jehovas Zeugen war. Er zog zunächst Parallelen zwischen dem Auswildern von Tieren und dem „Ausstieg“ aus der Religionsgemeinschaft, um die Schwierigkeiten eines solchen Weges zu verdeutlichen. Wie auch auf seinem YouTube-Kanal „faith.science“ legte Schmitz dar, wie wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Bibel vereinbar seien, und begab sich damit in das Fahrwasser des Intelligent Design.

Tobias Ain war 27 Jahre lang Zeuge Jehovas, Ältester und auch im Zentrum in Selters tätig. Als er die Religionsgemeinschaft verließ, eröffnete er im Juni 2000 seinen YouTube-Kanal „Tobi’s christlicher Kanal“ (3330 AbonnentInnen, Stand 30.5.2022). Dort schildert er informativ und ausgewogen die Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas und reichert die Darstellung mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen an. Über diesen Kanal wirbt er auch für das Hilfsangebot Betesda, das er 2021 ins Leben rief.

Die meisten der KonferenzteilnehmerInnen waren zwischen Ende 20 und 50 Jahren alt. Die Alterspanne korrespondiert mit der von YouTube-NutzerInnen. Da mit Ain, Schmitz und dem Ehepaar Mickenbecker drei der fünf Vorträge aus dem YouTube-Umfeld stammen, liegt es nahe anzunehmen, dass Betesda seine Reichweite primär über diese Plattform erlangt.

Betesda hat (Online-)Hauskreise eingerichtet, in der sich die TeilnehmerInnen mit der Bibel auseinandersetzen können. Daneben werden Beratungen angeboten, eine Anmeldung dafür erfolgt über ein Online-Formular. Als Gesprächsthemen stehen zur Auswahl: biblische Fragen, Verfahrensfragen zum Austritt und Fragen über das Angebot von Betesda.

Das Hilfsangebot von Betesda kann als eine Form der Konversionsbegleitung verstanden werden. Tobias Ain ist sehr sachlich in seinen Darstellungen, wobei er auch kritische Themen ausführlich bespricht.

Melanie Hallensleben, 13.07.2022

Quellen

Offizielle Homepage von Betesda: https://betesda-hilft.de (Abruf der Internetseiten: 4.7.2022).

Ankündigung der Betesda-Konferenz: https://betesda-hilft.de/betesda-konferenz.

Rückblick auf die Konferenz: https://betesda-hilft.de/1-betesda-konferenz-fuer-ehemalige-zeugen-jehovas-in-hamburg.

Tobi’s christlicher Kanal: www.youtube.com/c/TobischristlicherKanal?app=desktop.

Tobias Ain, Warum ich fortging: https://betesda-hilft.de/wp-content/uploads/2021/02/Warum-ich-fortging.pdf.

YouTube-Kanal von Jascha Schmitz, faith.science: www.youtube.com/c/faithscience.