Islam

Muslime in Deutschland. Zu einer Studie des Bundesinnenministeriums

Mitarbeiter der Hamburger Kriminologen Karin Brettfeld und Peter Wetzels erfragten über drei Jahre hinweg Einstellungen von Muslimen in Deutschland zu den Themen Integration und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und politisch-religiös motivierte Gewalt. Nun liegt eine 500 Seiten starke Studie1 vor, die von Bedeutung ist, weil sie einen wissenschaftlich fundierten Beitrag zur dringend notwendigen Bestandsaufnahme muslimischen Lebens in Deutschland bietet. Nach einer langen Geschichte der Verweigerung der Erkenntnis, dass die muslimischen „Gastarbeiter“ der 60er Jahre auf Dauer in Deutschland leben würden, und der weithin ungeplanten und ungesteuerten Zuwanderung von Menschen aufgrund politischer Verfolgung, Asylersuchen, wirtschaftlicher Not sowie Familiennachzug in den vergangenen Jahrzehnten war es längst an der Zeit, sich mit der gesellschaftlichen und politischen Positionierung des heute auf 3,2 bis 3,5 Millionen Menschen angewachsenen muslimischen Bevölkerungsteils auseinanderzusetzen.

Zudem ist die Studie in einer Zeit relevant, in der zahlreiche Terroranschläge von muslimischen Extremisten verübt werden. Auch in Deutschland gilt Sicherheitsexperten die Gefahr keineswegs als gebannt. Daher ist eine solche wissenschaftliche Erhebung auch Voraussetzung dafür, ein mögliches Bedrohungsszenario durch extremistische Kräfte erkennen und Gegenmaßnahmen ins Auge fassen zu können. Dabei – und darin sind sich Sicherheitsexperten einig – geht es nicht nur darum, den geringen Prozentsatz derjenigen zu erfassen, die schon jetzt religiös motivierte Gewalt befürworten oder Mitglied einer extremistischen Organisation sind. Es geht auch darum zu verstehen, mit welchen Begründungen und in welchen Bereichen eine so große Distanz zur deutschen Gesellschaft besteht, dass durch die Wirkung religiös begründeter Fundamentalismen der Boden für radikale Entwicklungen bereitet werden kann.

Eine erste Befragung richtete sich an eine nicht spezifizierte Gruppe der muslimischen Wohnbevölkerung, die durch eine standardisierte Telefonbefragung von rund 1000 Personen erreicht wurde. Die Ergebnisse dieser Interviews werden den Antworten dreier Sondergruppen gegenübergestellt: 500 Schülern der 9. und 10. Klassen zwischen 14 und 18 Jahren, 150 muslimischen Studierenden sowie 60 Mitgliedern bzw. Aktivisten islamischer Vereine, Organisationen und Moscheen. Insgesamt wurden also Antworten von über 1700 Muslimen in die Auswertung einbezogen; das Bildungsniveau der Befragten reichte vom Hauptschul- bis zum Hochschulniveau, die Altersspanne umfasste das gesamte Spektrum ab 14 Jahren, der geographische Raum der Untersuchungen die Städte Hamburg, Berlin, Köln und Augsburg. Die Mehrheit der Befragten war türkischer Herkunft, was auch der nationalen Verteilung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland entspricht.

Ein wichtiges – wenn auch vor dem Hintergrund früherer Untersuchungen nicht überraschendes – Ergebnis lautete, dass die Mehrzahl der Muslime in Deutschland ihrer Religion in Theorie und Praxis eng verbunden ist (21). Die Zahl derjenigen, die sich als religiös oder sehr religiös bezeichnen, ist in den letzten Jahren nochmals gestiegen. Über 85% der Muslime in Deutschland bezeichnen sich als „gläubig“ oder „sehr gläubig“ (138); die Zahl der mindestens wöchentlichen Moscheebesucher stieg zwischen 2000 und 2005 von 30,7% auf 41,6% (22). 89% stimmen „völlig“ oder „eher“ der Aussage zu, dass der Koran die Offenbarung Gottes ist (116). Nur einer Minderheit unter dieser religiösen Mehrheit können aber politisch-fundamentalistische Tendenzen zugeschrieben werden.

Zugenommen hat nicht nur der Moscheebesuch, sondern auch die Zahl der Befürworter des Kopftuchtragens bei Frauen ist gestiegen: 2005 stimmten 46,6% der Aussage zu, dass Frauen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen sollten, während dies 2000 erst 27,2% bejaht hatten (23). Und auch die Zahl derjenigen, die eine Koranschule besucht haben, liegt bei den jüngeren Muslimen in Deutschland deutlich höher als bei den älteren (112), am höchsten liegt sie interessanterweise bei den in Deutschland geborenen Muslimen (60,2%). Je länger der Koranschulbesuch andauerte, desto stärker kommen religiös fundamentale Orientierungen zum Ausdruck (134) – was vor dem Hintergrund der Ergebnisse früherer Studien über die integrationshemmende Rolle von Koranschulen ebenfalls nicht überraschen kann.2

Die Studie betont nachdrücklich und zu Recht, dass eine orthodoxe, traditionelle oder fundamentale Ausrichtung an der Religion nicht vorschnell mit Gewaltbereitschaft und Extremismus gleichgesetzt werden darf. Auch der Islam lehrt keineswegs den Terrorismus als Glaubensziel, und wer fünfmal täglich betet, steht Gewalt und Extremismus zunächst in nichts näher als der Nichtreligiöse. Wer in einer weitgehend säkular geprägten Gesellschaft an religiösen Riten und Überzeugungen festhält, mag manchem verdächtig erscheinen – ein Terrorist ist er deshalb noch lange nicht. Um von der religiösen (Streng-)Gläubigkeit in den Extremismus abzugleiten, bedarf es weiterer fördernder Momente.

Die Studie macht auf dem Weg zur Radikalität drei wesentliche aus: Für die erste, grundsätzlich anpassungsbereite Gruppe sind es vor allem die persönlich erfahrenen Zurückweisungen der Mehrheitsgesellschaft, die diese Menschen auf Distanz zur westlichen Gesellschaft gehen lässt. Gleichzeitig hat diese Gruppe geringe gesellschaftliche Partizipationschancen aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus. Für die zweite Gruppe ist es weniger die Erfahrung einer persönlichen Ausgrenzung als das stellvertretende Empfinden, als Muslim Opfer einer globalen Unterdrückung zu sein und daher sein Bezugssystem nur außerhalb der westlichen Gesellschaft zu finden (in der Scharia und der „umma“, der islamischen Weltgemeinschaft). Eine dritte Gruppe ist eher traditionalistisch religiös ausgerichtet und zieht sich von der Gesellschaft selbst zurück, ohne überhaupt partizipieren zu wollen (494). Fallen diese traditionell geprägten Gläubigen in die Hände radikaler Prediger bzw. erleben sie eine Art „Erweckung“ zum „wahren“ Islam und werden von einem extremistischen Umfeld indoktriniert, dann kann der Schritt in die Radikalität kurz sein. Aufgrund der vielfältigen Faktoren, die Einzelne in den Extremismus abgleiten lassen können, kann das latente Potential für eine politisch-religiös motivierte Radikalisierung in Deutschland, so betont die Studie, nicht klar beziffert werden. Die Autoren gehen jedoch aufgrund der vorliegenden Untersuchung von ungefähr 10-12% der Muslime in Deutschland aus (494), was eine Größenordnung zwischen 320000 und 420000 Menschen bedeutet.

Über 90% lehnen die Tötung anderer Menschen im Namen Gottes als nicht legitimierbar ab, ebenso halten über 90% eine Person, die „junge Muslime auffordert oder dazu anleitet, Selbstmordattentate zu begehen“, für einen „gottlosen Kriminellen“ (177). Andererseits stimmten rund 44% der Aussage „eher“ oder „völlig zu“, dass „Muslime, die im bewaffneten Kampf für den Glauben sterben ... ins Paradies“ kommen, also von Gott für ihre Taten belohnt werden (176). Knapp unter 40% halten „die Anwendung physischer Gewalt als Reaktion auf die Bedrohung des Islams durch den Westen für legitim“ (191). Für Deutschland befürworten knapp 10% die Strafen der Scharia (141) – was in absoluten Zahlen einem Anteil von über 300000 Menschen entspricht. Bei den Jugendlichen ist es rund ein Viertel, das die eigene Bereitschaft zu körperlicher Gewalt gegen Ungläubige im Dienst der islamischen Gemeinschaft bejaht (319).

Die Studie macht ferner deutlich – und hier ist insbesondere der Vergleich zwischen Hauptschülern und Studenten aussagekräftig –, dass eine fundierte Bildung ein Faktor ist, der eine Entwicklung zur Radikalisierung unwahrscheinlicher macht. Gleichzeitig schließt Bildung Radikalität nicht automatisch aus, was insbesondere die Aussagen der studentischen Gruppe mit ihrer teilweise starken Ablehnung der westlichen Lebensweise und Gesellschaftsordnung zeigt. Von daher ist es einerseits richtig, die Bedeutung von Bildung zu betonen, da im höheren Bildungssegment ein geringerer Anteil religiös-politisch motivierte Gewalt gutheißt. Auf der anderen Seite wird jedoch auch deutlich, dass Radikalismus nicht mit Bildung und Aufklärung allein zu bekämpfen ist, sondern die Ideologie der Radikalität das eigentliche Problem darstellt: Unter den Studierenden wird von den Autoren der Studie der Anteil derjenigen, die aufgrund ihrer Distanz zu Demokratie und westlicher Gesellschaft, ihrer rigiden religiösen Einstellung und ihrer Geringschätzung anderer Religionen einer latenten Radikalisierungsgefahr unterliegen, auf rund 30% eingeschätzt. In der Allgemeinbevölkerung liegt er sogar noch höher: „Fundamentale Orientierungen, die eine enge religiöse Bindung, hohe Alltagsrelevanz der Religion, starke Ausrichtung an religiösen Regeln und Ritualen verbinden mit einer Tendenz, Muslime, die dem nicht folgen, auszugrenzen sowie den Islam pauschal auf- und westliche, christlich geprägte Kulturen abzuwerten, zeigen eine enorme Verbreitung. In der Allgemeinbevölkerung sind etwa 40% einem solchen Orientierungsmuster zuzuordnen“ (493).

Darüber hinaus fördert die Studie zu Tage, dass sich noch immer sehr viele Muslime der dritten Generation nicht vorrangig als Deutsche betrachten, und zwar auch dann nicht, wenn längst die deutsche Staatsbürgerschaft erworben wurde. 57% gelten als überwiegend schlecht oder höchstens mäßig integriert, nur rund 12% als gut bis sehr gut integriert (96). Alarmierend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sich knapp die Hälfte der muslimischen Wohnbevölkerung von der deutschen Bevölkerung abgelehnt fühlt (109). Dieses Empfinden erfährt durch die hohe Quote von knapp 20% nichtmuslimischer Jugendlicher mit deutlich ausländerfeindlichen Einstellungen eine negative Bestätigung. Auch darin liegt ein besonderes Konfliktpotential für das zukünftige Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen begründet.

Die Studie enthält zahlreiche weitere interessante Aspekte. Man kann den Autoren nur zustimmen, wenn sie mit den Worten schließen: „Es deutet sich weiter an, dass diese Suche nach Sinn und Ringen um Werte einen Dialog und glaubhafte Gegenüber benötigt, die einerseits den Islam nicht ausgrenzen, ihm aber auch nicht mit der Attitüde der Beliebigkeit begegnen, sondern selbst auf einem festen Fundament stehend starke Dialogpartner sind“ (501).


Christine Schirrmacher,
Heverlee/Löwen (Belgien)


Anmerkungen

1 Muslime in Deutschland. Eine Studie des Bundesinnenministeriums zu Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen von Katrin Brettfeld und Peter Wetzels, Hamburg 2007. Die Studie kann kostenlos bestellt werden bei: presse@bmi.bund.de; Tel.: 030-18681-0, Download der kompletten Studie sowie einer Kurzfassung (36 Seiten) unter: www.bmi.bund.de. – Eine ausführliche Zusammenfassung von Christine Schirrmacher ist auf der Startseite des „Instituts für Islamfragen der Deutschen Evangelischen Allianz e.V.“, Bonn, zu finden: www.islaminstitut.de (unter „Neue Artikel“).

2 Zu diesem Ergebnis kommt z. B. Wolfgang Ritsch schon 1987: Die Rolle des Islams für die Koranschulerziehung in der Bundesrepublik Deutschland, Hochschulschriften 244, Köln 1987.