Mormonen

Mormonen trotzen dem Jugendwahn: Russell M. Nelson 93-jährig zum Präsidenten berufen

(Letzter Bericht: 2/2018, 68-70) Nachdem ihr Präsident Thomas S. Monson im Alter von 90 Jahren verstorben war, gab das leitende Apostelkollegium der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (HLT) am 16. Januar 2018 erwartungsgemäß den dienstältesten – und zufällig auch ältesten – verbliebenen Apostel Russell M. Nelson (geb. 1924) als Nachfolger bekannt. Dazu kommentierte der deutsche Autor Gideon Böss („Deutschland, deine Götter“) auf Facebook augenzwinkernd: „Die Mormonen trotzen dem Jugendwahn: ihr neuer Präsident ist 93 Jahre alt. Damit er den Kontakt zur Jugend nicht verliert, stehen ihm aber zwei Berater zur Seite, die mit 84 bzw. 85 Jahren einer ganz anderen Generation angehören“, worauf die Presseabteilung der HLT humorvoll reagierte und „Sprüche 16,31!“ antwortete. Dort heißt es: „Ein graues Haupt ist eine prächtige Krone.“ Der mormonische Lebenswandel ohne Kaffee, Tee und Tabak mag dazu beitragen, dass Nelson trotz biblischen Alters auch heute noch Ski fährt, wie er in der Pressekonferenz verriet.

Der zehnfache Vater stammt wie sein Vorgänger aus Salt Lake City, der Hauptstadt des Mormonenbundesstaates Utah; allerdings waren die Eltern eher kulturell-volkskirchliche als aktiv engagierte Mormonen. Er machte sich den Glauben als Teenager selbständig zu eigen. Im Berufsleben war er ein international renommierter Herzchirurg und Wissenschaftler. 1984 wurde er in das Kollegium der zwölf Apostel berufen und war unter anderem für den Aufbau der Kirche in Osteuropa zuständig, einer Region also, in der die Mormonen v. a. nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schnell wuchsen. Da mormonische Gremien in der Regel konsensual entscheiden, ist über eine etwaige individuelle Ausrichtung und Theologie – wobei man von Letzterem bei Mormonen ohnehin kaum sprechen kann – von Amtsträgern wenig bekannt. Das ganze System ist v. a. auf Gemeinsinn, Kontinuität und Einstimmigkeit angelegt.

Wie sein Vorgänger ging Nelson nicht in den mormonentypischen zweijährigen Missionseinsatz, vielleicht weil er, ebenfalls wie jener, als junger Mann in den Krieg musste (Korea). Internationale Erfahrung und Fremdsprachenkenntnisse erwarb er aber auch ohne Missionarsdienst: Nelson spricht fließend Mandarin. Er erlernte die Sprache, weil der damalige Präsident und Prophet Spencer W. Kimball 1979 leitende Mormonen dazu aufforderte. Seit einigen Einsätzen als Gastprofessor in der Provinzhauptstadt Jinan ab 1980 hat er gute Beziehungen zu China. Allerdings gehören Mormonen nicht zu den dort offiziell anerkannten fünf Religionen (Buddhismus, Taoismus, Islam, Christentum, Katholizismus), sodass chinesische, meist bei Auslandsaufenthalten konvertierte Mormonen unter der Diktatur in ihrem Heimatland eine prekäre Glaubensexistenz führen. Die kirchenoffizielle Webseite www.mormonsandchina.org, die ihnen Rat gibt, ist durch die HLT aus Sicherheitsgründen für den Zugriff aus China gesperrt. Chinesische Mormonen sind gehalten, keinerlei Werbung zu machen und weitere Vorsichtsregeln zu beachten, um nicht die Aufmerksamkeit und damit den Unmut der Behörden auf sich zu ziehen.

Nach seiner Einsetzung beruft der neue Präsident traditionell zwei Ratgeber aus dem Kreis der Apostel, die mit ihm zusammen die sogenannte „Erste Präsidentschaft“, i. e. das kirchenleitende Triumvirat bilden. Für diese Funktion wählte Nelson die Apostel Dallin H. Oaks (85 Jahre) und Henry B. Eyring (84 Jahre). Auch diese beiden gehören zu jenen lebenserfahrenen Aposteln, die erst im höheren Alter in höchste (hauptamtliche) Kirchenämter berufen wurden und dafür langjährige erfolgreiche Berufskarrieren aufgaben. Untere und mittlere Führungsaufgaben werden bei den HLT ehrenamtlich ausgeübt. Bevor sie hauptamtlich Apostel wurden, war Oaks Verfassungsrichter und Eyring Professor für Wirtschaftswissenschaften in Stanford.

Meistens übernehmen neue Präsidenten die Ratgeber ihres Vorgängers, aber der Deutsche Dieter Uchtdorf, einziger nicht-amerikanischer Apostel, wurde von Nelson nicht wieder berufen, sondern durch Oaks ersetzt. Hinsichtlich des Dienstalters steht der 77-jährige Uchtdorf nun an fünfter Stelle.


Kai Funkschmidt