Hans-Jürgen Papier

Möglichkeiten und Grenzen der Religionsausübung in der Einwanderungsgesellschaft

Die berühmte Gretchen-Frage „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ brachte bekanntlich den sich windenden Faust in Nöte. Sie stellt sich angesichts der aktuellen Herausforderungen im 21. Jahrhundert insbesondere in Bezug auf die staatliche Neutralität gegenüber Religion und Weltanschauung in abgewandelter Version: Wie halten es der Staat und die Gesellschaft mit der Religion? Dürfen sie es überhaupt mit ihr halten, oder fordert eine multireligiöse Gesellschaft womöglich eine gänzliche Abstinenz in Glaubensangelegenheiten? Können der Staat und seine Rechtsordnung Konflikte besser lösen, die durch das Aufeinandertreffen der verschiedenen Religionen entstehen, indem alles Religiöse aus dem öffentlichen Raum verbannt wird, oder müssen im Gegenteil die Rahmenbedingungen für einen offenen Dialog zwischen den Religionen geschaffen werden?

Die gesellschaftlichen Strukturen haben sich bekanntlich durch die Etablierung anderer Religionen in Deutschland und den Anstieg insbesondere muslimischer Bevölkerungsanteile, aber auch angesichts des Umstands, dass inzwischen der Anteil der Mitglieder der beiden großen christlichen Kirchen an der Gesamtbevölkerung unter die 60 %-Marke gesunken ist, grundlegend verändert.1 Infolge dieses weitgehenden Verlustes an „volkskirchlicher Substanz“ ist die präkonstitutionelle Harmonie zwischen einem christlich geprägten Staat und einer christlich geprägten Gesellschaft, deren Übereinstimmung das Nebeneinander von Staat und Kirche vormals erleichtert hatte, unzweifelhaft auch endgültig beendet.2 Viele Stimmen sprechen sich vor diesem Hintergrund dafür aus, das Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne einer noch strikteren Neutralität des Staates neu auszutarieren.

Religionsverfassungsrechtlicher Rahmen

Art. 140 GG hat die Vorschrift des Art. 137 Abs. 1 der Weimarer Verfassung und damit das Verbot einer Staatskirche in das Grundgesetz inkorporiert. Mit dem Verbot der Staatskirche ist zugleich der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche festgelegt.3 Er stellt neben der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit nach Art. 4 GG und dem kirchlichen Selbstverwaltungsrecht nach Art. 137 Abs. 3 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG einen der Eckpfeiler der kirchenrechtlichen Ordnung in Deutschland dar.

Historisch betrachtet war die Trennung von Staat und Kirche der Endpunkt der Säkularisierung, die nach den verheerenden Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in ganz Europa als Medium der Herstellung einer umfassenden Friedensordnung diente. Nur eine staatliche Gewalt, die ihren Geltungsanspruch nicht mehr auf der Grundlage eines religiösen Wahrheitsanspruchs definierte, konnte Rahmenbedingungen für ein friedliches Zusammenleben der verfeindeten religiösen Lager schaffen. Die vormals staatlicherseits gegebene Antwort auf die Frage, welche Religion „die richtige“ oder „wahre“ ist, wurde der privaten Entscheidung des Einzelnen überantwortet. Mit der Französischen Revolution wurde erstmals die radikale Trennung von Staat und Kirche etabliert, und die mit dem Reichsdeputationshauptschluss im Jahre 1803 vollzogene große Säkularisierung läutete das Ende der Reichskirche ein. Die Verwirklichung der Idee vom säkularen Staat als Friedensgarant verlangte von beiden Seiten Opfer: Der Staat musste seine religiöse Rechtfertigung aufgeben und sich darauf beschränken, rein diesseitige Zwecke zu verfolgen. Die Religionsparteien mussten ebenfalls Verzicht üben, weil sie ihren Wahrheitsanspruch nicht mehr mithilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen vermochten.

Die Säkularisierung hat in den Staaten Europas zu höchst unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Modellen geführt, angefangen von laizistisch geprägten Ordnungen wie etwa in Frankreich bis hin zu den Staatskirchen in England, Schottland und Teilen von Skandinavien. Nach der staatskirchenrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes ist den Kirchen und Religionsgemeinschaften die freie Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten garantiert, durch die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirche die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzugefügt wird. Insoweit wird den Kirchen und Religionsgemeinschaften ein Freiheitsraum zur Aufrichtung einer spezifischen sozialen Ordnung gewährt. Der Staat erkennt die Kirchen und die anderen Religionsgemeinschaften als ihrem Wesen nach unabhängige Institutionen an, die ihre Gewalt nicht vom Staat herleiten.

Die gebotene institutionelle und inhaltliche Trennung von Staat und Kirche bewirkt aber keinen gänzlichen Ausschluss der Religionen aus dem öffentlichen Raum. Das zeigt schon die Inkorporation der Kirchenartikel der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz, die in wichtigen Bereichen Kooperation zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften vorsehen, wenn sie etwa den Religionsgemeinschaften das Angebot unterbreiten, sich als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu organisieren, oder ihnen ermöglichen, Kirchensteuern zu erheben. Als weiteres Beispiel sei die in Art. 7 Abs. 3 GG verbürgte Garantie eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach genannt.

Der deutsche Säkularstaat ist also gerade nicht streng laizistisch. Er wählt vielmehr einen Mittelweg zwischen Laizismus und Staatskirche, und er hat ein berechtigtes Interesse an der religiösen Vielfalt seines Volkes. Nach der Konstitution des Grundgesetzes sollen daher die Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften im Gemeinwesen wirken, sich darstellen und sich entfalten können. Säkularität ist mit anderen Worten für die öffentliche Ordnung des Staates, nicht aber auch für den öffentlichen Raum der Gesellschaft verlangt. Der deutsche Säkularstaat hat – nochmals gesagt – ein berechtigtes Interesse an der religiösen Vielfalt seines Volkes, da andernfalls die Gefahr besteht, dass Letztbegründungsansprüche an ihn herangetragen werden und damit auch die Gefahr totalitärer Strömungen gestärkt wird. Die Religionen sollen daher nach der Konzeption unserer Verfassung im Gemeinwesen wirken, sich entfalten können, und sie sollen bei der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben auch vom Staat gefördert werden.4

Staatliches Neutralitätsgebot

Allerdings kann ein Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, deren friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahrt. Auch das Bundesverfassungsgericht betont in seiner ständigen Rechtsprechung die Bedeutsamkeit staatlicher Neutralität in religiösen Angelegenheiten.5 Sie ist notwendige Bedingung für die Entfaltung der Glaubensfreiheit, auch wenn sie an keiner Stelle des Grundgesetzes ausdrücklich als staatliches Obligo benannt ist. Das Gebot einer institutionellen Trennung von Staat und Kirche wird daher durch das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität ergänzt. Die dem Staat gebotene Neutralität ist aber nicht als eine sich dezidiert distanzierende Haltung zu verstehen, sondern vielmehr als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Die Neutralitätspflicht des Staates hat mit anderen Worten vor diesem Hintergrund eine positive und eine negative Seite.

In einem negativen Sinne hat der neutrale Staat zunächst bestimmte Einflussnahmen zu unterlassen. Er darf sich nicht durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden. Außerdem ist es ihm verwehrt, eine Religion oder Weltanschauung als richtig oder falsch einzuordnen. Würde er eine solche Bewertung vornehmen, könnte er seiner Aufgabe als Friedensgarant nicht mehr gerecht werden. Damit entzieht sich etwa eine Glaubensüberzeugung, die einen – auch ohne religiöse Beteuerung – geleisteten Zeugeneid ablehnt oder die für den Verzehr von Tierfleisch zwingend eine ohne Betäubung erfolgende Schlachtung voraussetzt, einer inhaltlichen Bewertung vonseiten des Staates.

In einem positiven Sinne enthält die Neutralitätsverpflichtung des Staates das Gebot, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern, sei es durch die staatliche Ermöglichung liturgischer Tätigkeiten, sei es durch die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ohne Bewertung der religiös-weltanschaulichen Inhalte.

Der Staat hat sich hinsichtlich der Glaubensinhalte einer Religion jeder Bewertung zu enthalten und darf sich umgekehrt auch nicht die Glaubensinhalte einer anderen Religion zu eigen machen. In dieser Ausprägung zieht die Neutralitätspflicht also ein Identifikationsverbot nach sich. Dieses Identifikationsverbot kann auch bei der Förderung von Religionsgemeinschaften eine Rolle spielen. Die religiöse Vitalität eines Volkes kann sich nur dann entfalten, wenn der Staat alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert und keines benachteiligt. Der Grundsatz der paritätischen Behandlung von Religionsgemeinschaften fordert indes keine schematische Gleichbehandlung, sondern lässt Differenzierungen zu, die durch tatsächliche Verschiedenheiten der einzelnen Religionsgemeinschaften bedingt sind, soweit die Art der Differenzierung nicht sachfremd ist. Besteht etwa die Förderung des Staates in der Vergabe von Leistungen, können unter dem Aspekt der Gemeinwohlförderung Erwartungen von Gegenleistungen kultureller oder sozialer Art eine differenzierende Rolle spielen.

Körperschaftsstatus

So hat im Prinzip der Körperschaftsstatus allen Religionsgemeinschaften offenzustehen. Für islamische Vereinigungen stellt sich aber ein Problem, weil dieser Status selbstverständlich einer hinreichenden Organisation der Glaubensgemeinschaft bedarf, die durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder Gewähr der Dauer bieten muss. Der Islam kennt zum großen Teil jedoch keine zentrale Organisation und auch keine regionalen Gliederungen. Seine Vereinigungen bestehen oftmals aus einem fluktuierenden, nicht mitgliedschaftsrechtlich verfassten Kreis von Gläubigen. Aber die klare Regelung der Mitgliedschaft im Sinne einer erkennbaren Zugehörigkeit auf Dauer ist unverzichtbare Voraussetzung einer Verleihung des Körperschaftsstatus und daher eine säkular begründete organisationssoziologische Mindestbedingung für die Verleihung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus. Im Hinblick auf die daran geknüpfte Förderung durch das Gemeinwesen ist diese Bedingung auch keineswegs unzumutbar.

Religionsunterricht

Die oftmals fehlende mitgliedschaftliche Verfasstheit islamischer Vereinigungen spielt im Übrigen auch eine Rolle bei der Frage nach der Einführung von Islamunterricht als einem ordentlichen Lehrfach an öffentlichen Schulen. Nach Art. 7 Abs. 3 GG können nur Religionsgemeinschaften einen solchen Anspruch gegenüber dem Staat erheben. Von einer Religionsgemeinschaft kann indes nur dann gesprochen werden, wenn es sich um einen Verband handelt, der die Angehörigen ein und desselben Glaubensbekenntnisses oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse zusammenfasst. Ob also der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch auf Erteilung von Religionsunterricht auch einer islamischen Vereinigung zusteht, dürfte sich danach beurteilen, ob im konkreten Einzelfall eine entsprechende Organisationsstruktur vorliegt.

Ferner wird man wie bei der Verleihung des Körperschaftsstatus verlangen dürfen, dass die Religionsgemeinschaften die Gewähr dafür bieten, dass ihr Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts nicht gefährdet.

Kopftuch- und Burkaverbot

Besonders kontrovers diskutiert werden die Kopftuchverbote für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen sowie ein generelles oder begrenztes Burkaverbot. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 20156 gewährleistet das Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit auch den Lehrkräften in öffentlichen Schulen die Freiheit, einem „aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsgebot zu genügen“. Gemeint ist damit das Tragen eines islamischen Kopftuchs. Ein generelles gesetzliches Verbot für Lehrerinnen, ein solches Kopftuch in der Schule zu tragen, kann nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts nicht allein wegen einer abstrakten Gefährdung des auf religiös-weltanschauliche Neutralität ausgerichteten staatlichen Erziehungsauftrags und der gegenläufigen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit von Schülern und ihren Eltern gerechtfertigt werden. Nur wenn in „bestimmten Schulen oder bestimmten Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten“ die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität erreicht werde, könne ein solches Verbot verfassungsrechtlich zulässig sein.

Richtig ist, dass hier auf der einen Seite die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Lehrerinnen steht, die sich aus religiösen Gründen auf ein als verpflichtend verstandenes Bedeckungsgebot berufen, dass aber auf der anderen Seite der auf staatliche Neutralität ausgerichtete staatliche Erziehungsauftrag und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schüler und ihrer Eltern sowie das elterliche Erziehungsrecht zu berücksichtigen sind. Im Unterschied zu einer früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewichtet das Gericht nunmehr die widerstreitenden verfassungsrechtlich geschützten Belange anders und verneint die Verhältnismäßigkeit des bisherigen gesetzgeberischen Interessensausgleichs, wenn die gegen das Kopftuchtragen in die Waagschale zu werfenden Belange nur einer abstrakten Gefährdung ausgesetzt sind. Erst zur Abwehr einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität dürfe ein Kopftuchverbot ausgesprochen werden, nur dann genüge ein solches gesetzliches Verbot dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Kritisch anzumerken ist allerdings,7 dass bei der vom Gericht vorgenommenen Gewichtung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nicht hinreichend berücksichtigt wird, dass sich die Lehrkraft hier auf die Religionsfreiheit bei der Ausübung einer öffentlichen Amtstätigkeit beruft. Es geht nicht um die Grenzen der Religionsfreiheit einer privaten Person allgemein, sondern um die Grenzen bei der Ausübung eines öffentlichen Amtes. Die Lehrerin wird in der Schule und im Unterricht im Namen des Staates tätig, sie handelt hoheitlich in Wahrnehmung des staatlichen Erziehungsauftrags, eines Staates, der verfassungsrechtlich zur Neutralität, aber auch zur Gleichstellung von Männern und Frauen verpflichtet ist. Die Grenzen der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit eines Amtsträgers des Staates in Ausübung seines öffentlichen Amtes sind in jedem Fall enger zu ziehen als die einer Privatperson oder einer Amtsträgerin oder eines Amtsträgers außerhalb der Amtstätigkeit. Das Abwägungsergebnis des Gerichts leidet meines Erachtens an dieser problematischen Beurteilung und Gewichtung des Grundrechtsschutzes der Lehrkraft in Ausübung eines öffentlichen Amtes.

Die vom Gericht gemachte Vorgabe der Feststellung einer konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens stößt aber auch in anderer Hinsicht auf erhebliche Bedenken: Auf diese Weise wird die Entscheidung über die Ausgestaltung der Neutralitätspflicht im schulischen Bereich vom demokratisch gewählten Gesetzgeber auf die Verwaltung und die Gerichte verlagert. Sie kann auch geradezu als – sicher ungewollte – Anregung zur Schaffung von konkreten Gefährdungs- und Störungsszenarien wirken, und sie wird zu höchst unerfreulichen Streitigkeiten – auch gerichtlichen – führen, die vermutlich auf dem Rücken gerade derjenigen ausgetragen werden, die sich auf ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen wollen und zu deren Schutz die Aufhebung des generellen Verbots des Kopftuchtragens an sich gedacht war.

Würden „äußere religiöse Bekundungen“ durch Lehrkräfte zur Wahrung des Schulfriedens und der staatlichen Neutralität gesetzlich untersagt, so müsste dies nach dem Bundesverfassungsgericht „für alle Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen“ grundsätzlich unterschiedslos gelten. Die Gleichbehandlung aller Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich zutreffend und zwingend. Allerdings darf man bei dieser Sicht auch die Unterschiede von Lebenssachverhalten nicht ignorieren. Werden etwa Amtsträger der Kirchen als Lehrkräfte an öffentlichen Schulen tätig und tragen sie bei Wahrnehmung dieser Tätigkeit statusbedingt ihre kirchliche Amtstracht, dann ist das etwas anderes, als wenn im Staatsdienst stehende Lehrkräfte, die weder ein kirchliches Amt ausüben noch über eine Amtstracht verfügen, durch die Bekleidung ihre Religion oder Weltanschauung in der Schule äußerlich bekunden. Diese Unterschiede dürften meines Erachtens unter Hinweis auf die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften nicht unberücksichtigt bleiben.8

Auch ein allgemeines und generelles Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit stößt auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Das Grundgesetz ist im Hinblick auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG relativ strikt. Dieses Grundrecht steht unter keinem Gesetzesvorbehalt, es darf nur eingeschränkt werden, wenn dies zum Schutz der Grundrechte Anderer oder sonstiger gleichrangiger Verfassungsgüter notwendig ist. Wenn Frauen vollverschleiert auftreten, werden Grundrechte Anderer sowie Rechtsgüter von Verfassungsrang noch nicht gefährdet. Deshalb dürfte ein so generelles Verbot verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sein. Etwas anderes würde gelten, wenn verfassungsrechtliche Schutzgüter durch das Auftreten von Frauen mit Vollverschleierung ernsthaft gefährdet sind. So könnten partielle Verbote zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eingeführt werden, etwa im Hinblick auf die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen. Solche partiellen Verbote sind ferner auch denkbar zur Wahrung der verfassungsrechtlich gebotenen Neutralität der staatlichen Amtstätigkeit etwa im Schulwesen oder bei der exekutivischen und rechtsprechenden Tätigkeit.

Integration von Flüchtlingen und „Leitkultur“

Die Frage nach der Freiheit und den Grenzen der Religionsausübung erlangt im Zuge der aktuellen Flüchtlingsbewegungen eine besondere Aktualität.

Die Asyl- und Flüchtlingspolitik in Deutschland krankt seit jeher daran, dass sie es versäumte, von vornherein und rechtzeitig zwischen dem individuellen Recht auf Schutz vor Verfolgung auf der einen Seite und der Aufnahme von Migranten aus Gründen einer im wohlverstandenen Eigeninteresse Deutschlands erfolgenden Zuwanderungspolitik auf der anderen Seite zu unterscheiden. Letztere erfolgt nicht aufgrund verfassungsrechtlicher sowie unionsrechtlicher oder völkerrechtlicher Verpflichtungen, sondern aufgrund politischer Ermessensentscheidungen, insbesondere aufgrund einer bewussten und gezielten Einwanderungspolitik. Entscheidungen über Art und Umfang der Einwanderung müssten wegen ihrer politischen Tragweite im Grundsatz vom Parlament getroffen werden, sie sind von der geltenden Asylgesetzgebung jedenfalls nicht mehr gedeckt. Denn wie viel Zuwanderung dieses Land verträgt, benötigt oder hinzunehmen bereit ist, ist eine politische Grundsatzentscheidung, die in einer parlamentarischen Demokratie unter Heranziehung der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von dem demokratisch legitimierten Parlament zu treffen ist. Auch die Länder sind über den Bundesrat zu beteiligen. Sie darf auf Dauer nicht von den exekutivischen Organen des Bundes im Gewand eines scheinbaren Asylrechtsvollzuges mehr oder weniger paralegal getroffen werden.9

Die Vermischung von Asylgewährung und Einwanderung kann auch zu gravierenden Fehlern in der Integrationspolitik führen. Von Menschen, die legal in dieses Land einwandern, kann und muss eine hohe Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit erwartet und verlangt werden. Sie wollen und sollen dauerhaft Einwohner, ja vielleicht Staatsbürger dieses Landes werden. Flüchtlingen im Sinne des internationalen und nationalen Rechts wird hingegen im Grundsatz vorübergehender Schutz vor Verfolgung gewährt, nämlich so lange, wie die Fluchtgründe im Heimatland andauern. Rückkehrmöglichkeit, Rückkehrwilligkeit, Rückkehrbedürftigkeit und Rückkehrnotwendigkeit sind hier von vornherein mit angelegt. Integrationsbereitschaft und Integrationserfolge können hier jedenfalls nicht in gleicher Weise erwartet oder verlangt werden wie bei denen, die legal und auf Dauer in dieses Land einwandern. Dies gilt in besonderem Maße für die Ausländer, die nur geduldet werden oder die sich der Abschiebung entziehen. Will man Integration sinnvoll regeln, muss man zunächst die unterschiedlichen Integrationsziele festlegen und sich darüber im Klaren sein, dass die im Zuge der neuen Flüchtlingsbewegungen in unser Land kommenden Ausländer einen höchst unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Status mit unterschiedlichen Zeithorizonten haben und haben müssten, zum Teil einen solchen aufenthaltsrechtlichen Status als Flüchtling nie erlangen können, was wiederum sehr unterschiedliche Integrationsziele und Integrationsgrade zur Folge haben muss. Es ist daher zu undifferenziert, wenn man den „Flüchtlingen“ allgemeine Integrationspflichten abverlangen will. Gleiches gilt für ein undifferenziertes Gebot der Integrationsförderung. Wer diese Unterschiede nicht sieht oder nicht sehen will, wer insbesondere nicht bereit ist, zwischen unberechtigt sich im Lande aufhaltenden Personen, Flüchtlingen im Rechtssinne und legal einwandernden Menschen zu unterscheiden, wird bei der Integration über kurz oder lang Schiffbruch erleiden.

In diesem Zusammenhang ist aber auch noch auf einen zweiten möglichen Irrtum hinzuweisen. Wenn immer wieder gefordert wird, von Ausländern von Rechts wegen ein Bekenntnis zur deutschen Leitkultur und eine entsprechende Pflicht zu deren Beachtung zu verlangen, stößt das auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Dies gilt in besonderem Maße, wenn unter dieser deutschen Leitkultur ein Verhalten nach abendländisch-christlicher Kultur eingefordert wird. Zum einen ist der Begriff der deutschen Leitkultur relativ unbestimmt. Er dürfte deshalb jenseits jeder Justiziabilität liegen. Will man die deutsche Leitkultur im Sinne der Werteordnung des Grundgesetzes verstehen, besteht andererseits folgender Vorbehalt: Es ist zwar richtig, dass die Grundrechte des Grundgesetzes und andere Verfassungsprinzipien Ausdruck einer normativen Werteordnung sind, diese gewährleisten aber gerade auch die religiöse und kulturelle Vielfalt, also nicht Homogenität, sondern Pluralität und Heterogenität, selbstverständlich innerhalb der für alle geltenden Gesetze. Zu der grundgesetzlichen Werteordnung und damit zu einer so verstandenen Leitkultur gehören eben beispielsweise die Religions- und die Meinungsfreiheit. „Die Bürger sind grundsätzlich auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen oder die Änderung tragender Prinzipien zu fordern“, so das Bundesverfassungsgericht etwa in einem Beschluss aus dem Jahre 2009. Es gibt in unserer Verfassung keine Grundpflichten, weder für Deutsche noch für Ausländer, bis auf die Pflicht, die Gesetze und das Gewaltmonopol des Staates zu achten. In jedem Fall gilt: Eine verfehlte und aus dem Ruder gelaufene Asyl- und Einwanderungspolitik kann nicht über ein nachgeschobenes Integrationsgesetz in jeder Hinsicht wieder repariert werden. Es geht nicht, mit sogenannten Integrationsgeboten rechtsstaatliche Standards partiell preiszugeben. Es gibt keine Rechtspflicht aus dem Grundgesetz zur Loyalität gegenüber dieser Werteordnung, schon gar nicht zu einer wie auch immer definierten „Leitkultur“. Es gibt nur die allgemeine Rechtspflicht zum Rechtsgehorsam, und zwar für Deutsche ebenso wie für Ausländer.10

Auch hier gilt die alte, einst von Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte Erkenntnis, dass unser Verfassungsstaat einerseits von bestimmten identitätsstiftenden Voraussetzungen abhängt, etwa von einem gewissen Maß an Homogenität an Sprache, Kultur, Tradition, Werteanschauung, Wertebewusstsein und zwischenmenschlicher Solidarität. Der Verfassungsstaat kann aber auf der anderen Seite diese Voraussetzungen nicht gewährleisten. Er ist im Gegenteil unter anderem zur Achtung der Religionsausübungsfreiheit, der religiösen und weltanschaulichen Pluralität und zur Neutralität verpflichtet. Das Missfallen an politischen Fehlsteuerungen darf nicht an den Menschen aus fremden Kulturkreisen ausgelassen werden, die in Ausnutzung der deutschen Rechtspraxis, zu einem großen Teil sogar durch diese veranlasst, in Deutschland Aufenthalt genommen haben. Ihnen darf nicht mit Hass oder Feindschaft, aber auch nicht mit religiöser Intoleranz und mit verfassungsrechtlich unbegründbaren und nicht zu rechtfertigenden sogenannten Loyalitätspflichten begegnet werden. Wir schulden ihnen ausnahmslos eine Behandlung nach den bewährten Regeln unserer Rechts- und Sozialstaatlichkeit, wozu selbstverständlich die unbedingte Herrschaft des staatlichen Rechts und des staatlichen Gewaltmonopols einschließlich der Beachtung und Durchsetzung gesetzlicher Ausreisepflichten bei illegalem Aufenthalt gehören.


Hans-Jürgen Papier
 

Anmerkungen

  1. Zu den religionssoziologischen Veränderungen der deutschen Gesellschaft siehe Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, Gutachten zum 68. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 68. Deutschen Juristentags, Bd. I: Gutachten/Teil D, Berlin 2010, 13ff.
  2. Siehe Otto Depenheuer, Zwischen Neutralität und Selbstbehauptung, in: Die politische Meinung 2004, Nr. 415, 42.
  3. Siehe Peter Badura, Staatsrecht, München 52012, 986.
  4. Siehe auch Hans-Jürgen Papier, Der deutsche Staat und die religiösen Werte, in: Hanns-Seidel-Stiftung, Politische Studien 465, Ausgabe Januar-Februar 2016, 17-30.
  5. BVerfGE 30, 415 (422); 93, 1 (16); 108, 282 (300); 138, 296 (329).
  6. BVerfGE 138, 296.
  7. Siehe auch Hans-Jürgen Papier, Zur Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: RdJB – Zeitschrift für Schule, Berufsausbildung und Jugenderziehung 2/2015, 213ff.
  8. Siehe Papier, Der deutsche Staat und die religiösen Werte (siehe Fußnote 4), 23ff.
  9. Siehe Hans-Jürgen Papier, Asyl und Migration als Herausforderung für Staat und EU, in: NJW 2016, 2391, 2395.
  10. Siehe ebd.