Matthias Roser

Mennonitischer Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen

Rechtliche Grundlagen – schulpädagogische Normen – praktisch-theologische Anfragen

Im Vorlauf des Schuljahres 2016/2017 überraschte die Presse die Öffentlichkeit (und wohl auch viele Schulleitungen) mit der Mitteilung, dass mit dem Beginn des Schuljahrs 2016/2017 an elf Grundschulen in Nordrhein-Westfalen Religionsunterricht nach den „Grundsätzen der Mennonitischen Brüdergemeinden in Nordrhein-Westfalen“ im Modus eines Schulversuchs eingeführt werde.1 Obgleich die Einführung des Fachs auf den ersten Blick als Petitesse erscheinen mag, kommt der Diskussion um das Fach doch signifikante bildungs- und schulpolitische Bedeutung zu. Die Einführung des mennonitischen Religionsunterrichts hat eine komplexe Vorgeschichte, die zunächst kurz skizziert werden soll.

Zur Vorgeschichte

Das Verwaltungsgericht Aachen hatte am 29.4.2016 – in mündlicher Verhandlung – die Frage zu klären, ob in verfassungsrechtlicher Perspektive „[russlanddeutsch-]mennonitisch“ im Modus der Mennoniten-Brüdergemeinde Euskirchen (und der mit dieser Gemeinde verbundenen russlanddeutschen Spätaussiedlergemeinden) als eigenständiges „Bekenntnis“, in signifikanter Abgrenzung und in signifikantem Unterschied zu den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften einerseits und zu den Bekenntnisgrundlagen der „Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland“ andererseits, beschrieben werden kann. Außerdem war zu beurteilen, ob der Zusammenschluss mehrerer Mennoniten-Brüdergemeinden juristisch als „Religionsgemeinschaft“ bezeichnet werden kann und ob damit von der Mennoniten-Brüdergemeinde in Euskirchen (und der mit dieser Gemeinde verbundenen weiteren Gemeinden aus dem Milieu russlanddeutscher Spätaussiedler) die verfassungsrechtlichen Garantien der Art. 7 Abs. 3 GG und Art. 7 Abs. 4 GG bei der zuständigen Bezirksregierung in Köln zu Recht eingefordert werden können.2

Die Bezirksregierung Köln hatte erstinstanzlich, mit Bescheid vom 20.3.2012, den Antrag der Mennoniten-Brüdergemeinde (Euskirchen) auf Einrichtung der Beth-El-Grundschule in Euskirchen mit der Begründung abgelehnt, das mennonitische Glaubensbekenntnis (von 1902) sei „bekenntnisverwandt“ mit dem evangelischen Bekenntnis, und somit sei der Antrag der Mennoniten-Brüdergemeinde nicht durch Art. 7 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich legitimiert.3

Das in diesem Rechtsstreit zweitinstanzlich zuständige Verwaltungsgericht Aachen versucht in seinem Urteil allerdings eine differenzierende Annäherung an das Phänomen eines russlanddeutsch-mennonitischen Bekenntnisses. Für die rechtsdogmatische Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts zentral ist die Aussage, dass es sich bereits dann um ein „Bekenntnis“ handle bzw. religionsverfassungsrechtlich von einem „Bekenntnis“ gesprochen werden könne, wenn ein „umfassendes, geschlossenes Weltbild“ erkennbar sei, „das durch die Gottbezogenheit der Weltsicht geprägt“ sei.4 Die grundgesetzlich garantierte Bekenntnisfreiheit stelle mithin kein besonderes Refugium der beiden großen Kirchen dar.5 Obgleich die Mennoniten-Brüdergemeinden keine übergreifenden Bekenntnisschriften im Sinne von konfessionszusammenschließenden Lehrurkunden kennen, ist – in der Perspektive des Verwaltungsgerichts –, begründet durch das „umfassende und geschlossene Weltbild“ und den Gottesbezug, dennoch von einem „Bekenntnis“ zu sprechen, das durch und in den verschiedenen mennonitischen Brüdergemeinden gelebt und repräsentiert werde. Aus der Sicht des Verwaltungsgerichts kommen damit – in verfassungsrechtlicher Perspektive – den mennonitischen Brüdergemeinden (und etwaigen Zusammenschlüssen dieser Gemeinden) die gleichen verfassungsrechtlichen Garantien (z. B. Einrichtung von Bekenntnisschulen, Einführung eines bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts) zu wie den beiden großen Kirchen und der jüdischen Gemeinde.6

Der weitere Duktus des Urteils konstatiert zwar signifikante Lehrunterschiede zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche einerseits und den mennonitischen Freikirchen andererseits,7 gleichwohl müsse mit Bezug auf den Zusammenschluss russlanddeutscher Mennoniten-Brüdergemeinden von einer eigenen historisch bedingten „Religionsgemeinschaft“8 gesprochen werden.

Ein Rechtsgutachten

Insbesondere die Formulierung des Runderlasses „Der Unterricht wird zunächst auf der Grundlage des Lehrplans für den evangelischen Religionsunterricht erteilt“9 sorgte bei der westfälischen, der rheinischen und der lippischen Kirche als Träger und Anbieter des evangelischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Grundschulen des Landes Nordrhein-Westfalen für Irritationen. Die drei in der „Zwischenkirchlichen Bildungskonferenz“ zusammengeschlossenen Landeskirchen gaben im Frühsommer 2016 ein Rechtsgutachten beim Kirchenrechtlichen Institut der EKD in Göttingen in Auftrag mit der Bitte einer juristischen Klärung der Frage, ob das Schulministerium NRW berechtigt war, den Lehrplan Evangelische Religionslehre dem Religionsunterricht nach den Grundsätzen der Mennoniten-Brüdergemeinden zugrunde zu legen.10

Das von Hans Michael Heinig (Göttingen) erstellte Rechtsgutachten11 kommt zu dem Ergebnis, dass beim Prozedere der Einführung des mennonitischen Religionsunterrichts keine materiellen landesrechtlichen und verfassungsrechtlichen Rechte der Landeskirchen verletzt worden seien, das Schulministerium die Landeskirchen aber formell hätte beteiligen können und sollen. Das Gutachten kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass die einzelnen mennonitischen Brüdergemeinden zwar als deutlich wahrnehmbare und unterscheidbare einzelne „Religionsgemeinschaften“ beschrieben werden können und ihnen damit die verfassungsrechtlich garantierten Rechte und Privilegien zukommen. Aber es stellt sich in der Perspektive des Kirchenrechtlichen Instituts die Frage, ob diese „Religionsgemeinschaften“ – auch im Modus eines Zusammenschlusses – auf Dauer das Angebot des mennonitischen Religionsunterrichts werden garantieren können. Allerdings hebt das Gutachten – zugunsten des Schulversuchs „mennonitischer Religionsunterricht“ – hervor, dass dieser in verfassungsrechtlicher Perspektive deutlich besser begründet sei als der zeitgleich laufende Schulversuch „islamischer Religionsunterricht“ in NRW und das dort gewählte Beiratsmodell.

In seiner Kurzstellungnahme zu diesem Gutachten diagnostiziert Hinnerk Wißmann12 (Münster) interessante und u. U. weitreichende Veränderungen des Kirche-Staat-Verhältnisses in Nordrhein-Westfalen. In formaler Hinsicht wird das vom Schulministerium gewählte und praktizierte Verfahren zwar von Wißmann als „grobe Ungehörigkeit“ bezeichnet. Wesentlich bedeutsamer sei aber die Tatsache, dass die Vorgehensweise des Ministeriums ein deutliches Unbehagen und eine deutliche Kritik des Schulministeriums am vorfindlichen Status des Religionsunterrichts und am weitreichenden Pluralismus der Religionsunterrichtsangebote in Nordrhein-Westfalen (de facto handelt es sich um acht [!] unterschiedliche Religionsunterrichtsangebote) zum Ausdruck bringe:

„Die geschilderte bedenkenlos-pragmatische ‚Verarbeitung‘ vorgefundener Materialien durch das Ministerium zeigt eine spezifische Umorientierung in der Handhabung des Religionsunterrichts: Der Unterricht wird zunehmend als möglichst integrativ-gemeinsame Plattform der Begegnung angesehen, bei der Unterschiede zwischen den Bekenntnissen nicht gepflegt, sondern möglichst übertüncht werden sollen. Das gilt auch dort, wo der Unterricht getrennt durchgeführt wird (wie insbesondere in Bezug auf den islamischen Religionsunterricht zu beobachten ist), erst recht aber dort, wo ein gemeinsamer Religionsunterricht der Weltreligionen angestrebt wird (wie zur Zeit in Hamburg).“13

In gewisser Weise lässt sich die Vorgehensweise des Ministeriums auch als Weckruf an die beiden großen Kirchen interpretieren, mit einer deutlichen Präferenz des Ministeriums in Richtung entweder eines transreligiösen bzw. transkonfessionellen religionskundlich akzentuierten Religionsunterrichts für alle oder eines „Religionsunterrichts für alle“ im Modus des „Hamburger Weges“.14 Die beiden großen Kirchen stehen – in der Perspektive Wißmanns – trotz der Einrichtung eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in NRW vor der dringlichen Herausforderung, „ihren“ Religionsunterricht nicht nur bildungstheoretisch und schulpädagogisch, sondern sowohl kirchenpolitisch als auch theologisch zukunftsfähig zu machen.15 Für Wißmann ist eine staatskirchenrechtliche, beinahe schon gewohnheitsrechtlich zu nennende kirchenpolitische Argumentation der beiden großen Kirchen – aus einer scheinbaren Position der Stärke heraus – z. B. auf der Basis des Böckenförde-Theorems zukünftig nicht mehr tragfähig.

Den drei NRW-Landeskirchen wurde vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen mit Schreiben vom 31.8.2016 mitgeteilt, dass die strittige Causa (Bezug auf den Kernlehrplan „Evangelischer Religionsunterricht“) in mehreren Gesprächen beim Schulministerium in NRW habe ausgeräumt werden können und dass dem Ministerium bis zum 1.2.2017 ein erster Vorentwurf für einen Kernlehrplan „Religionsunterricht nach den Grundsätzen der Mennonitischen Brüdergemeinden“ in NRW an Grundschulen im Rahmen eines Schulversuchs vorgelegt werde.

Der Kernlehrplan16 – theologische Perspektiven

In seiner Satzung beschreibt der „Verein zur Förderung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts der Mennoniten-Brüder-Konfession (sic!) im Lande Nordrhein-Westfalen“, der den Antrag auf den Schulversuch gestellt hat, sein theologisches Selbstverständnis in groben Strichen:

„Die Vereinsmitglieder bekennen sich zur göttlichen Inspiration der ganzen Heiligen Schrift – der Bibel. Die Glaubensprinzipien gründen sich auf das schriftliche Glaubensbekenntnis von 1902 der Mennoniten-Brüdergemeinde.“

Dem im zaristischen Russland entstandenen und 1902 in Odessa erschienenen Glaubensbekenntnis „Glaubensbekenntnis der Vereinigten Christlichen Taufgesinnten Mennonitischen Brüdergemeinde in Russland17 kommt – in der Perspektive der antragstellenden Gemeinden – bis zur Gegenwart und auch unter den Bedingungen in der Bundesrepublik Deutschland identitätsstiftender Charakter zu. Der identitätsstiftende Charakter dieses Bekenntnisses begründet sich durch seine Glauben und Leben, Denken und Handeln umfassende, religionstheologisch als exklusivistisch zu beschreibende Zielrichtung.

Wieder in der Perspektive der antragsstellenden Brüdergemeinden sind z. B. das Glaubensbekenntnis der Mennoniten-Brüdergemeinde Bielefeld-Heepen/Oldentrup18 oder das sogenannte ICOMB-Glaubensbekenntnis19 zeitgenössische Vergegenwärtigungen (in Form von Wiederbelebungen) bzw. Auslegungen des fundamentalen Bekenntnisses von 1902. Die Zielrichtung dieser Vergegenwärtigungen des Bekenntnisses von 1902 gibt dann beispielsweise das ICOMB-Bekenntnis in seinem zweiten Teil deutlich zu erkennen. Dort heißt es in Beantwortung der Frage „Wie reagieren Mennoniten-Brüder auf Gottes Absicht?“20 sehr deutlich:

„Die Bibel ist das autoritative Wort Gottes und die unfehlbare Richtlinie für Glauben und Leben. Weltanschauung: Die Bibel bildet unseren geistigen Bezugsrahmen die Welt zu verstehen. Interpretation: Unsere Bibelauslegung ist Christus-zentriert. Wir lesen die Schrift aus einer neutestamentlichen Perspektive. Die Person, die Lehren und das Leben Jesu Christi geben dem Alten und Neuen Testament Kontinuität und Klarheit. Die Gemeinde als Auslegungsgemeinschaft: Jeder Gläubige wird ermutigt, die Bibel zu verstehen um Gottes Willen zu erkennen und gehorsam zu sein. Da der Heilige Geist in allen Gläubigen gegenwärtig und aktiv ist, lesen und interpretieren wir gemeinsam die Bibel und ihre Forderungen für das heutige Leben.“21

Großes Gewicht kommt in diesem Bekenntnis der Perspektive der normativen (alltags-)ethischen Orientierung mit Blick auf die Gegenwart zu:

„Ein Volk eines neuen Lebenswandels. Aus Gottes Gnade ruft der Heilige Geist Menschen zu einem neuen Lebenswandel durch Umkehr, Jüngerschaft und fortwährende Erneuerung. Bekehrung: Christliche Bekehrung beginnt mit der neuen Geburt und schließt immer eine bewusste persönliche Hingabe ein. Als Christen sind wir berufen uns abzuwenden von einer gebrochenen Beziehung mit Gott hin zu einer persönlichen Beziehung mit dem wahren Gott[,] von Gebundenheit an Sünde und von früheren Fehlern hin zu Freiheit, Vergebung und Heilung. - Jüngerschaft: Erlösung und Ethik gehören in Christus zusammen. Als Christen sind wir berufen uns vom Individualismus abzuwenden und uns einer gegenseitigen Abhängigkeit in der Gemeinde zuzuwenden[,] im alltäglichen Leben uns als treu gegenüber dem Leben und den Lehren Jesu zu erweisen. - Erneuerung: In allen Gläubigen wohnt der Heilige Geist. Er bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind, und bietet fortwährende Erneuerung und Reinigung an um uns für ein Leben in Zeugnis und Dienst zu bevollmächtigen.“

Sowohl im Bekenntnis der Mennoniten-Brüdergemeinde in Bielefeld als auch im ICOMB-Bekenntnis sind drei fundamentale theologische bzw. theologisch-ethische Leitnormen deutlich erkennbar, die ihren Niederschlag – wenn auch in vorsichtig abgemilderter Form – im Lehrplanentwurf für den Schulversuch mennonitischer Religionsunterricht finden:

  • Ein heilsgeschichtlich-informationstheoretisches Offenbarungsverständnis: Offenbarung ist die metaphysische Qualität zu eigen, unfehlbare und irrtumslose, weil von Gott selbst initiierte und gegebene Information zu sein und diese auch zu beinhalten.
  • Mit dem heilsgeschichtlich-informationstheoretischen Offenbarungsverständnis korrespondiert ein normatives Stufenschema ebenfalls unfehlbarer und irrtumsloser göttlicher Erziehung und Pädagogik (Bekehrung, Jüngerschaft, Erneuerung).
  • Gemeinde ist Gegenwelt und Gegenentwurf zur „uninspirierten“ und „ungläubigen“ Welt außerhalb der Gemeinde selbst.

 

Der Kernlehrplan – religionspädagogische Beobachtungen

Der skizzierte ambiguitäts- und ambivalenzintolerante22 theologisch-ethische Dualismus der antragstellenden Gemeinden23 ist auch im aktuell geltenden Lehrplanentwurf für die Grundschule deutlich wahrzunehmen und steht in einem großen Spannungsverhältnis zur bildungstheoretischen Funktion und Aufgabe des Religionsunterrichts an der Grundschule. Zwar wird im Lehrplanentwurf der Religionsunterricht formal bildungstheoretisch und schulpädagogisch im Gesamt der Grundschule verortet:

„Das Fach Religionsunterricht nach den Grundsätzen der Mennoniten-Brüdergemeinden in NRW soll im Rahmen einer allgemeinen religiösen Bildung zu verantwortlichem Denken und Verhalten im Hinblick auf Religion und Glaube befähigen.“24

Und es ist prinzipiell für alle Schülerinnen und Schüler offen – unabhängig von Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit. Gleichwohl wird bereits in dem einleitenden Teil „Aufgaben und Ziele des Faches“ – gleich im Anschluss an das Zitat – eine deutlich exklusivistische, mithin auch exkludierende Zielrichtung erkennbar:

„Es hat die Aufgabe, die Bibel als von Gott inspiriertes Wort Gottes zu vermitteln, strukturiertes und lebensbedeutsames Grundwissen über den Glauben der Gemeinde zu vermitteln, das Verständnis biblisch-christlicher Werte zu vermitteln, mit dem in der Praxis gelebten Glauben vertraut zu machen, den Kindern Orientierung und Lebenshilfe zu ermöglichen.“25

Das Religionsunterrichtsangebot richtet sich – trotz seiner formalen Öffnungsklausel – wohl primär an Schüler aus einem mennonitisch-brüdergemeindlichen Kontext („Der Religionsunterricht vollzieht sich für die Schülerinnen und Schüler in Korrespondenz mit der konkret erfahrbaren Glaubensgemeinschaft der Mennoniten-Brüdergemeinde“26) und dient der Bewahrung der Exklusivität der mennonitischen Brüdergemeinden auch im öffentlichen Bereich Schule.

Auch in den fachwissenschaftlich-fachdidaktischen Überlegungen des Lehrplanentwurfs tritt – begründet durch den ambiguitätsinteroleranten, dualistischen Grundtenor des Entwurfs – das beschriebene Spannungsverhältnis sehr deutlich zutage. Zwar postuliert der Lehrplanentwurf die grundsätzliche Anschlussfähigkeit des mennonitischen Religionsunterrichts an allgemeinpädagogische Normen von Unterricht (Schülerorientierung, Lebensweltorientierung, Beachtung entwicklungspsychologischer Standards, Kompetenzorientierung, Leistungsbeurteilung)27, gleichwohl erweckt er den Eindruck, Religionsunterricht sei primär lehrerzentriertes, instruktionstheoretisches Unterweisungsgeschehen:

„Das Fach Religionsunterricht nach den Grundsätzen der Mennoniten-Brüdergemeinden in NRW in der Grundschule führt elementar in Inhalte des Alten und Neuen Testaments ein, ermöglicht die Beschäftigung mit Glaubensvorbildern, ermöglicht die Begegnung mit Menschen, die Zeugnis von ihrem Glauben geben und ihre Gaben sowohl als Geschenk als auch als Aufgabe verstehen und wahrnehmen, ermöglicht die Begegnung mit Menschen, die Zeugnis von ihrem Dienst in der Gemeinde geben, vermittelt in seiner Zielsetzung eine erfüllte Lebensgestaltung, die in der Übereinstimmung von Leben und Glauben Ausdruck findet.“28

Auch die für den Unterricht verbindlich vorgesehenen Themenbereiche bzw. inhaltlichen Schwerpunkte greifen auf das dualistische Grundmuster Welt vs. Gemeinde zurück. Die geheiligte und heiligende Gemeinde tritt als zentraler Bezugspunkt des Unterrichts überdeutlich hervor.

Anfragen an den Schulversuch

In Form eines „Schulversuchs“ erscheint der mennonitische Religionsunterricht in NRW schulrechtlich legitimiert zu sein. Das Schulgesetz von NRW formuliert:

„(1) Schulversuche dienen dazu, das Schulwesen weiterzuentwickeln. Dazu können insbesondere Abweichungen von Aufbau und Gliederung des Schulwesens sowie Veränderungen oder Ergänzungen der Unterrichtsinhalte, der Unterrichtsorganisation sowie der Formen der Schulverfassung und der Schulleitung zeitlich und im Umfang begrenzt erprobt werden. In Schulversuchen müssen die nach diesem Gesetz vorgesehenen Abschlüsse erreicht werden können.“29

Gleichwohl erscheinen an dieser Stelle mehrere Anfragen insbesondere an den Lehrplan notwendig und statthaft zu sein:

  • In formaler Hinsicht wirkt der Lehrplan wie ein inkohärentes Reskript. Bereits eine erste Analyse lässt den Eindruck entstehen, als seien die grundlegenden bildungstheoretischen und schulpädagogischen Erwägungen zum Lehrplan auf das zentrale frömmigkeitsstrukturelle Proprium der antragsstellenden Gemeinden nur aufgesetzt worden. An dieser Stelle wird es interessant sein, die Weiterentwicklung der Lehrplanarbeit zu beobachten.
  • In religionspädagogischer Perspektive wird es spannend sein zu beobachten, ob und ggf. in welcher Form eine professionelle Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern angestrebt bzw. verwirklicht wird. Momentan unterrichten die – meist männlichen Lehrer – das Unterrichtsfach „mennonitischer Religionsunterricht“ überwiegend im Modus der sog. „Katechetenklausel“ des Schulgesetzes von Nordrhein-Westfalen, bedürfen also nicht zwingend einer universitären Ausbildung.
  • In praktisch-theologischer Hinsicht erweckt der Lehrplan den Eindruck, die Schülerinnen und Schüler zu einem „perfektionistischen Christentum“ hinführen bzw. sie in dieses einführen zu wollen. Es ist die Frage aufzuwerfen, ob der Lehrplan dem Fragmentarischen und Unverfügbaren der christlichen Existenz (Wolfgang Steck) mit Blick auf den Unterrichtsprozess in genügender Weise Raum und Zeit einräumt und den Schülerinnen und Schülern auch die Möglichkeit der Entwicklung und Erarbeitung einer Differenzkompetenz ermöglicht, d. h. sowohl die Möglichkeit einer eigenen (ggf. auch ablehnenden) Stellungnahme als auch die eines individuellen, nicht planbaren Zugangs zum christlichen Glauben.

Die Vorgehensweise des NRW-Schulministeriums in der Causa mennonitischer Religionsunterricht kann und sollte auf jeden Fall als Weckruf an die beiden großen Kirchen interpretiert werden, intensiv über einen „Religionsunterricht für alle“ nachzudenken und sich zu diesem auch zu positionieren.

 

1    Stand 31.10.2018 nehmen folgende Grundschulen an diesem Schulversuch teil: Grundschule Brake (Bielefeld), Löwenzahnschule und Astrid Lindgren/St. Johannes-Schule (Harsewinkel), Grundschule Brakel (Kreis Höxter), Grundschule Schieder (Kreis Höxter), Grundschule Hohenhausen (Kreis Lippe), Grundschule Knetterheide (Bad Salzuflen), Johannes-Daniel Falk-Grundschule (private Grundschule, Espelkamp), Grundschule Isengarten (Waldbröl).

2    Vgl. VG Aachen, Aktenzeichen: 9 K 1365/12, https://research.wolterskluwer-online.de/document/e32b133e-b2ea-3901-b688-70a3f2041878 (Abruf der angegebenen Internetseiten: 11.12.2019).

3    Ebd.

4    Ebd.

5    Vgl. ebd.

6    Vgl. ebd. Auch eine etwaige „Verwandtschaft“ zwischen den „Bekenntnissen“ könne nicht im Sinne einer Sperr- bzw. Schutzklausel für die beiden großen Kirchen und ihre „Bekenntnisse“ interpretiert werden.

7    Vgl. ebd. (mit Bezug auf die Kindertaufe und den Sakramentsbegriff).

8    Ebd.

9    Amtsblatt NRW 06/16, 42.

10   Vgl. Landeskirchenamt Westfalen, Az.: 520.085.

11   Ebd., Gutachten Heinig.

12   Ebd., Kurzstellungnahme Wißmann.

13   Ebd.

14   Vgl. Jochen Bauer: Religionsunterricht für alle, Stuttgart 2019.

15   Wißmann selbst plädiert für eine Weiterentwicklung von Art. 7 Abs. 3 GG in Richtung eines konfessionell-kumulativ akzentuierten „Religionsunterrichts für alle“. Vgl. Hinnerk Wißmann: Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft, Tübingen 2019.

16   Lehrplanentwurf, 8.1.2018, www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_gs/mbg/LP-GS_RU_MBG_VB-Entwurf_2018-01-08.pdf.

17   https://chort.square7.ch/Pis/MBG1902.pdf.

18   https://mb-bielefeld.de/glaubensbekenntnis.

19   https://mb-bielefeld.de/wp-content/uploads/2018/12/icomb-glaubensbekenntnis.pdf.

20   Ebd. Das englische Original findet sich auf der Homepage der „International Community of Mennonite Brethren“: www.icomb.org/what-we-believe.

21   https://mb-bielefeld.de/wp-content/uploads/2018/12/icomb-glaubensbekenntnis.pdf. Nächstes Zitat ebd.

22   Vgl. Arne Schäfer: Ambivalente Vergemeinschaftung. Familie, Sozialisation und Geschlecht in evangelikalen Milieus, in: Forum Erwachsenenbildung 2/2018, 26-30, 27f.

23   An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass vom antragstellenden „Verein zur Förderung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts der Mennoniten-Brüder-Konfession im Lande Nordrhein-Westfalen“ mehrere Gemeinden als Unterstützer des Antrags genannt wurden, die mit dieser Nennung im Antrag an das Schulministerium nicht einverstanden waren bzw. davon nicht in Kenntnis gesetzt worden waren.

24   www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_gs/mbg/LP-GS_RU_MBG_VB-Entwurf_2018-01-08.pdf, 6.

25   Ebd., 6f.

26   Ebd., 9.

27   Vgl. ebd., 7-9, 22f.

28   Ebd., 7.

29   Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15.2.2005, § 25, zuletzt geändert durch Gesetz vom 2.7.2019, https://bass.schul-welt.de/6043.htm#1-1p25.