Gesellschaft

„Living in the Ice Age“ - Joy Division und die Ursprünge des Gothic

(Letzter Bericht: 12/2004, 469ff) Die Subkultur der „Gothics“ (früher eher als „Grufties“ bekannt) hat sich inzwischen fest etabliert und kann schon auf eine mehr als zwanzigjährige Geschichte zurückblicken – angesichts des ephemeren Charakters vieler Subkulturen eine beachtlich lange Zeit. Die – in den allermeisten Fällen zu Unrecht – mit Satanisten in einen Topf geworfenen Gothics zeichnen sich durch das Zelebrieren einer depressiv-düsteren, bisweilen auch morbiden Stimmungslage aus. Sie huldigen einem mehr oder minder ausgeprägten Zivilisationspessimismus in Gestalt romantischer Schwermut und drücken dies zumeist auch durch das Hören ganz bestimmter Musikgenres sowie durch ein entsprechendes Outfit (z.B. dunkle Kleidung, bleich geschminkte Gesichter etc.) aus. Im Gegensatz zu anderen Subkulturen beschränkt sich die Gothic-Szene jedoch nicht auf die Altersgruppe der Jugendlichen – ganz im Gegenteil: Die meisten Gothics haben „das Alter von 20 Jahren überschritten“, wie Ingolf Christiansen beobachtet hat.1

Wer sich eingehender mit der Geschichte und der Ästhetik der Gothic-Bewegung befasst, wird in einschlägigen Publikationen immer wieder auf den Namen einer Band stoßen, die in ihrer ursprünglichen Formation schon nicht mehr existierte, als die Gothic-Szene entstand, diese aber zweifellos nachhaltig beeinflusst hat: Die Rede ist von „Joy Division“, einer Band, die bei vielen Gothics Kultstatus genießt, oft ohne dass sie Näheres über die Geschichte dieser Gruppe wissen. Die Musik von Joy Division wurde von ihrem Manager in einem TV-Interview als „gothic“ (gruselig, düster, unheimlich) bezeichnet, was zur Namensgebung der Gothic-Szene beigetragen haben soll.2

Joy Division und ihr Sänger Ian Curtis erfahren derzeit neue Aktualität, denn der niederländische Fotograf und Filmemacher Anton Corbijn hat über die kurze Geschichte der Band einen Kinofilm mit dem Titel „Control“ realisiert.3 Der ganz in schwarz-weiß gehaltene Film wurde erstmals bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gezeigt und stieß dort auf eine sehr positive Resonanz, die sich auch in zwei Auszeichnungen niederschlug. Mittlerweile hat der Film noch weitere Preise erhalten. Zu den Mitwirkenden zählt u. a. die bekannte deutsche Schauspielerin Alexandra Maria Lara. Der Start in den deutschen Kinos ist für den 10. Januar 2008 vorgesehen.

Joy Division ist nicht denkbar ohne die Subkultur des Punk, der Ende der 70er Jahre von Großbritannien aus auf derb-rüpelhafte Art eine laute Zivilisationskritik artikulierte, bald aber abebbte und – was die Punk-Musik betraf – oft einer gnadenlosen Kommerzialisierung anheimfiel, die den Anliegen des Punk naturgemäß diametral entgegengesetzt war.

Vom Punk angezogen und beeinflusst fühlten sich auch vier junge Briten aus der Gegend von Manchester, die sich 1977 zu der Band „Warsaw“ zusammenschlossen und deren Musik noch deutlich vom Punk (etwa jenem der „Sex Pistols“) beeinflusst war. 1978 erfolgte die Umbenennung in „Joy Division“: ein sehr provozierender Name, bezog er sich doch auf die als „Freudenabteilung“ bezeichneten Frauen, die in deutschen Konzentrationslagern und für die Wehrmacht als Zwangsprostituierte missbraucht wurden, wie dies in dem Roman „The House of Dolls“ des ehemaligen KZ-Häftlings Karol Cetinsky alias „Ka-Tzetnik 135633“ beschrieben wird. So geschmacklos die Namensgebung auch war, im Umfeld des Punk war die Provokation mit Nazi-Symbolen und -Assoziationen nichts Ungewöhnliches.

Als Sänger, Texter und Kopf der Band fungierte der ebenso schwierige wie charismatische Ian Curtis, zum Zeitpunkt des ersten Konzerts von Joy Division 21 Jahre alt. Curtis litt an Epilepsie, die auch bei den Auftritten der Band immer wieder deutlich zum Vorschein kam, den Konzerten aber gerade deshalb zu einem bald legendären Ruf verhalf. Doch kurz vor einer Tour durch die USA, die der Band möglicherweise den Durchbruch gebracht hätte, erhängte sich Curtis, zermürbt von seiner Epilepsie, von Depressionen und einer sich rapide verschlechternden Ehe. Curtis’ Frau Deborah hat in ihrem sehr ehrlichen Buch mit dem Titel „Touching from a Distance“, das auch Grundlage für den Film „Control“ war, einen aufschlussreichen Einblick in das Leben ihrer Familie und die Geschichte von Joy Division gewährt.4

Was fasziniert an dieser Band bis heute? Sicher ist es Ian Curtis, der allein schon durch seinen frühen Tod zu einer ähnlich faszinierenden Pop-Ikone wurde wie Jimi Hendrix, Jim Morrison oder Kurt Cobain. Vor allem aber ist es die eigentümlich beklemmende Stimmung, die sich durch das Zusammenwirken der oft sehr düsteren Texte und der meist spartanisch-monotonen, bisweilen auch disharmonischen, immer aber sehr suggestiven Musik ergibt. Curtis beschrieb in seinen Songtexten die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit isolierter Menschen, wobei sicher auch die tiefe gesellschaftliche Krise Großbritanniens in Form des industriellen Niedergangs Mittelenglands und nicht zuletzt Curtis’ persönliche Probleme zu diesem Lebensgefühl beigetragen haben dürften. Joy Division thematisierte das „Living in the Ice Age“, und der wohl bekannteste Song der Band, der erst posthum zum Hit arrivierte, heißt bezeichnenderweise „Love will tear us apart“ und thematisiert die Entfremdung zweier Liebender.

Eigentlich ist es erstaunlich, dass die Band unter heutigen Gothics immer noch Kultstatus genießt. Denn von der schwermütigen Romantik vieler Gothics ist in der Ästhetik der Band nicht das Geringste zu finden. Oder um es in einem Bild zu fassen: Die Morbidität von Joy Division ist nicht die neblig verschleierte, von Efeu umrankte Idylle eines Friedhofs, sondern die kalte und trostlose einer Industrieruine. Gerade das aber erklärt vielleicht die Faszination dieser Musik für Gothics: Sie verweigert sich konsequent falscher Behaglichkeit und versperrt auch noch den letzten rettenden Ausweg. Nichts ist hier von der „I love you, I need you“-Atmosphäre sonstiger Pop-Songs und -Klischees zu spüren, vielmehr stellen die Songs das Leben in seiner ganzen Abgründigkeit auf eine fast Beckett’sche Weise und bis an die Schmerzgrenze scharf und exakt gezeichnet dar.

Aus dieser Perspektive ist Joy Division bis heute erschreckend aktuell. Die britische Band „New Order“, die aus Joy Division hervorging und mit Titeln wie „True Faith“ oder „Blue Monday“ vor allem in den achtziger Jahren sehr erfolgreich war, hat sich jedenfalls entschlossen, nach Jahren selbst auferlegter Abstinenz bei ihren Konzerten auch wieder Songs von Joy Division zu spielen. Und dabei zeigt sich, dass diese nichts von ihrer Frische und Suggestivkraft eingebüßt haben, sondern etwas artikulieren, was anscheinend zur „ganz normalen“ Entfremdung menschlichen Lebens in der post-industriellen Gesellschaft des Westens gehört.


Christian Ruch, Chur/Schweiz


Anmerkungen

1 Ingolf Christiansen / Rainer Fromm / Hartmut Zinser, Brennpunkt Esoterik. Okkultismus, Satanismus, Rechtsradikalismus, hg. von der Hamburger Behörde für Inneres – Landesjugendbehörde, Hamburg 2006, 95.

2 Ebd., 97.

3 Die offizielle Filmhomepage ist unter www.controlthemovie.com/ zu finden.

4 Deborah Curtis, Touching from a Distance. Ian Curtis and Joy Division, London 1995.