Neuheidentum

Litauische Heiden müssen staatlich anerkannt werden

Litauische Heiden müssen staatlich anerkannt werden. Die Organisation der litauischen (Neu-)Heiden, Romuva, muss vom Staat als Religionsgemeinschaft analog zu christlichen Kirchen anerkannt werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechts (EGMR) entschieden.

Romuvas Antrag auf Anerkennung war im Juni 2019 vom litauischen Parlament mit 40 zu 31 Stimmen abgelehnt worden. Eine Anerkennung hätte bestimmte, für Religionsgemeinschaften vorgesehene Privilegien gebracht: Steuervorteile, staatliche Sozialversicherung der Priester, staatliche Anerkennung der religiösen Trauungen. „Menschen, die nicht Christen sind, verlieren in diesem Land ihre Bürgerrechte“, hatte damals die Religionssoziologin Milda Ališauskienė (Universität Kaunas) etwas übertrieben kommentiert.1 Vor der Entscheidung hatte sogar das Justizministerium erklärt, Romuva spiele eine wichtige Rolle in Litauens nationaler Kultur und erfülle alle Voraussetzungen für die Anerkennung.

Romuva besteht nach eigenen Angaben seit 1967, in der Sowjetunion gezwungenermaßen im Untergrund. Sie sehen sich als die „alte baltische Religion, die sich dafür einsetzt, litauische Identität zu stärken“. Ihr deutsches Pendant sind die germanischen Neuheiden (Ásatrú). Entsprechende Gruppen, die ausgestorbene Religionen mit meist spärlichen historischen Quellen und viel Fantasie rekonstruieren bzw. erfinden, gibt es in vielen westlichen Ländern. In Israel bekennen sie sich zu Baal, in Island zu Odin und Freya usw.

Abgeordnete, die den Antrag abgelehnt hatten, wiesen auf Romuvas aus ihrer Sicht christentumsfeindliche Haltung hin. Tatsächlich beanspruchen Romuva, wie für Heiden typisch, nachgeborene Opfer des Christentums zu sein, das „ihre“ alte Religion und Kultur zerstört habe.

Wie in anderen europäischen Ländern steigt in Litauen die Zahl der Heiden rapide, wenngleich auf sehr niedrigem Niveau. Bei der Volkszählung 2001 ordneten sich 1500 Menschen dem Heidentum zu, 2015 waren es schon 5100. Von den drei Millionen Litauern sind 77 % katholisch, daneben gibt es v. a. Religionslose (10 %), Orthodoxe (4 %) und Protestanten (2 %). Obwohl Litauen keine offizielle Staatsreligion hat, sind bislang ausschließlich christliche Kirchen staatlich anerkannt.

Nach der Ablehnung hätte Romuva erst 2029 einen neuen Antrag stellen können. Daher hatte die Gemeinschaft vor dem EGMR geklagt. Dessen ausführliche Urteilsbegründung gibt interessante Einblicke in die litauische Religionspolitik.2 So wurden seit 2001 mehrere kleine christliche Kirchen mehr oder weniger problemlos anerkannt. Mehrere haben weniger Mitglieder als Romuva und bestehen im Land nicht länger als diese. Ausschlaggebend für Anerkennung oder Ablehnung scheint oft die Positionierung der katholischen Kirche zu sein. Die Anerkennung der Siebenten-Tags-Adventisten beispielsweise gelang erst im zweiten Anlauf. Nach der Ablehnung hatte die katholische Kirche offiziell mitgeteilt, sie hätte keine Einwände, danach klappte es. Bei der Anerkennung der Neuapostolischen Kirche (3000 Mitglieder) 2017 wurde bei der Parlamentsentscheidung explizit auf deren gute Beziehungen zur katholischen Kirche hingewiesen.

Auch bei den Debatten über Romuva beriefen sich mehrere Abgeordnete auf die katholische Kirche und das kritische Verhältnis des Heidentums zu ihr. Die katholische Kirche griff selbst ein. Sie schrieb einen Brief ans Parlament, der darauf hinwies, die „alte baltische Religion“ sei eine Fiktion. Sie habe keine wissenschaftlich begründete, reale historische Basis. Vielmehr hätten früher Litauer, Letten und Prußen je eigene religiöse Formen gehabt, über die man fast nichts wisse. In der Debatte beriefen sich mehrere Abgeordnete auf diesen Brief.

Umstritten war im Parlament, in welchem Zusammenhang litauische ethnische Identität und Religion stehen. Denn beide Seiten, die heidnischen Romuva und die mit der katholischen beziehungsweise christlichen Tradition argumentierenden Abgeordneten, beanspruchten eine besondere Verbindung von litauischer Identität und der jeweiligen religiösen Zugehörigkeit. Die einen führten ihre „Ursprünglichkeit“ ins Feld, die anderen konnten auf die Zahl von fast 90 % Christen verweisen.

Das Gericht entschied diese Fragen naturgemäß nicht. Es verwies auf die offensichtliche Ungleichbehandlung der Heiden, die gegenüber christlichen Kirchen ohne sachlichen Grund benachteiligt worden seien. Diese Ungleichbehandlung wurde für sachlich unbegründet und daher unzulässig erklärt.
 

Kai Funkschmidt, 10.09.2021


Anmerkungen

  1. LRT (Lietuvos nacionalinis radijas ir televizija): Neo-pagans denied recognition, say parliament‘s decision „violates human rights“, 16.7.2019, tinyurl.com/22h232e4 (Abruf: 3.9.2021).
  2. Zum folgenden vgl. European Court of Human Rights: Case of Ancient Baltic Religious Association Romuva vs. Lithuania (Appl. 48319/19). Judgment. Strasbourg 8 June 2021.