Christian Ruch

Kritische Anmerkungen zur Geschichtsaufarbeitung in der Neuapostolischen Kirche

Die Neuapostolische Kirche (NAK) geriet in den letzten Jahren wie sonst nur wenige Glaubensgemeinschaften unter inneren und äußeren Reform- und auch Rechtfertigungsdruck. Ihre einst ziemlich rigiden Strukturen werden zunehmend in Frage gestellt – einerseits vor allem von der jüngeren Generation in den eigenen Reihen, andererseits aber auch von ehemaligen Mitgliedern, die über eine exzellente Vernetzung im Internet verfügen. Zu den Kritikpunkten zählt in nicht unerheblichem Maße die Geschichte der NAK in der DDR und zur Zeit des Nationalsozialismus. Ein weiteres heikles Thema ist die bis heute heftig umstrittene „Botschaft“, die Stammapostel Johann Gottfried Bischoff zu Weihnachten 1951 verkündet hatte. Er hatte behauptet, dass Jesus noch zu seinen Lebzeiten wiederkommen würde, doch der Stammapostel verstarb, ohne dass sich die Wiederkunft Christi ereignet hätte. Die Reformkräfte innerhalb und die Kritiker außerhalb der NAK erhoffen sich eine Revision der Bewertung der „Botschaft“ – dies schon deshalb, weil es in der Amtszeit Bischoffs zu einer der größten Abspaltungen in der Geschichte der NAK gekommen war: Der Stammapostel hatte 1955 einen seiner Kritiker ausgeschlossen, den rheinländischen Bezirksapostel Peter Kuhlen. Allerdings waren Kuhlen rund 25 000 NAK-Mitglieder gefolgt und hatten eine eigene apostolische Gemeinschaft gegründet. Der Riss, den dieses Schisma verursachte, verlief quer durch viele neuapostolische Familien und hinterließ großes persönliches Leid.

„Black Box“ GNK

Am 21. Oktober 1999 rief Stammapostel Richard Fehr die AG „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ (GNK) ins Leben. Sie sollte „die Geschichte der NAK historisch einwandfrei nachvollziehbar darstellen und auch solche Aspekte aufnehmen, die für die Kirche unbequem sein könnten. Die Darstellung soll objektiv sein und alle Fragen tabufrei beleuchten. Dabei soll der Gedanke berücksichtigt werden: Wenn wir diese Aufgabe nicht wahrnehmen, werden andere es tun“.1

Was die GNK selbst betrifft, scheint der Kirchenleitung jedoch bis heute nicht daran gelegen zu sein, „tabufrei“ zu agieren. Denn es wurde und wird nicht transparent gemacht, wie die GNK arbeitet, wie viele Mitglieder sie hat und wer zu diesen zählt. Selbst für NAK-Insider scheint die Zusammensetzung der GNK nicht ersichtlich zu sein; das Gremium ist also eher eine Art undurchschaubare „Black Box“. Auch als die GNK am 4. Dezember 2007 ihren ersten Bericht vorlegte (siehe unten), wurde auf eine Nennung der Mitglieder und auf Angaben zu ihrer Qualifikation als historisch Forschende verzichtet. Bekannt wurde lediglich, dass mit der Leitung der Arbeitsgruppe Apostel Walter Drave betraut worden war. So schrieb das Magazin „glaubenskultur“, eine Zeitschrift relativ (selbst-)kritischer NAK-Mitglieder, im Juli 2004, also fast fünf Jahre nach Einsetzung der Arbeitsgruppe: „Die Leitung der NAK-AG Geschichte liegt bei Apostel Walter Drave. Nach glaubenskultur-Informationen ist die Gruppe nicht mit externen wissenschaftlichen Mitarbeitern besetzt, die eine neutrale wissenschaftliche Darstellung garantieren könnten.“2

Ein „Informationsabend“ mit Folgen

Nachdem die NAK am 24. Januar 2006 in Uster bei Zürich einen ersten „Informationsabend“ veranstaltet hatte3, der via Satellit europaweit übertragen worden war und aufgrund der an ihm verkündeten theologischen Lehränderungen ein ebenso großes wie positives Echo hervorgerufen hatte4, waren die Erwartungen sehr hoch, als für den 4. Dezember 2007 ein zweiter „Informationsabend“ angekündigt wurde. Würde sich eine Art „Uster II“ ereignen? Solche Hoffnungen wurden jedoch bitter enttäuscht, denn was präsentiert wurde, entpuppte sich als eine riesige Enttäuschung und für die Führung der NAK als verheerendes Fiasko.

Unter dem Titel „Die Neuapostolische Kirche von 1938 bis 1955. Entwicklungen und Probleme. Zusammenschau“ legte die GNK ein mehr als 50 Seiten umfassendes Dokument vor, das die Ergebnisse der historischen Recherche präsentieren sollte. Doch schon das Vorwort ließ Ungutes ahnen, erging es sich doch vor allem in einer eigentümlich aggressiv-defensiven Haltung: „Glaubt man den Positionen, wie sie von einigen Internetseiten unkritisch und unkommentiert kolportiert werden, dann sind der Stammapostel Bischoff und seine Botschaft als die Ursachen für zum Teil bis in die Gegenwart hineinreichende Missstände zu betrachten.“5 Äußerungen wie jene des EZW-Referenten Andreas Fincke seien jedoch „als unwissenschaftlich zu charakterisieren“.6

Für sich selbst nahm die GNK dagegen sehr wohl eine wissenschaftliche Vorgehensweise in Anspruch: „Die abgelieferten Untersuchungen basieren unter Beachtung und Anwendung geschichtswissenschaftlicher Verfahrensweisen auf Quellenbefunden; die vorgestellten Ergebnisse und Thesen sind somit sorgfältig und quellenkritisch belegt und resultieren nicht aus ‚Geschichte vom Hörensagen’ oder vorgefassten Urteilen. Sollten andere als die nachfolgend vorgestellten Ergebnisse geltend gemacht werden, so sind diese vor dem Hintergrund der genannten Ausarbeitungen bzw. der Quellenlage zu beurteilen.“7 Zur Quellenlage wurden jedoch nur äußerst dürftige Angaben gemacht: „Grundlage dieser Arbeiten sind umfangreiche Quellenstudien (Korrespondenzen der Stammapostel, der Apostel und Betroffenen, Protokolle von Apostelversammlungen, Publikationen aus dem Bischoff-Verlag sowie Schriften der verschiedenen Abspaltungsgruppen usw.). Die Sammlung und die Auswertung der Quellen waren sehr zeitintensiv, da unsere Kirche nicht über ein Zentralarchiv verfügt und die Archive der Gebietskirchen zum Teil nur mit Schwierigkeiten zugänglich waren und sind. Die Erkenntnisse und Ergebnisse der AG basieren auf den zur Verfügung gestellten Quellen und Dokumenten, die in den Anhängen der jeweiligen Ausarbeitungen aufgeführt sind.“8

Was unter „Anhängen der jeweiligen Ausarbeitungen“ verstanden werden muss, bleibt unklar; festzustellen ist hingegen, dass das GNK-Papier weder Dokumente im Anhang aufweist noch über systematische Quellenangaben verfügt. Auch in den Fußnoten werden zum Standort des zitierten Materials keinerlei Angaben gemacht. Dies wäre aber gerade hinsichtlich des Umstands, dass Quellenmaterial aus verschiedenen Archiven zusammengetragen wurde, unerlässlich gewesen. Eine gezielte Überprüfung und Sichtung der Quellen durch Dritte ist damit erheblich erschwert, wenn nicht sogar unmöglich. Die Fahrlässigkeit und Schlampigkeit, mit der die GNK hier vorging, kann man aus Sicht einer seriösen Geschichtswissenschaft und -forschung jedenfalls nur als schweren „handwerklichen“ Fehler bezeichnen. An einer Universität würde jede Seminararbeit, die so etwas bieten würde, mit Recht zurückgewiesen.

Ähnlich schwerwiegend ist, dass nicht klar ist, wer das Papier der GNK eigentlich verfasst hat bzw. die Verantwortung dafür trägt. Spätestens jetzt wäre es dringend erforderlich gewesen, sozusagen Ross und Reiter zu nennen und bekannt zu geben, wer in der GNK und an dem Dokument mitarbeitete. Ein weiterer Punkt, der kritisch hinterfragt werden muss, ist der völlige Verzicht auf die Befragung von Zeitzeugen. Selbstverständlich ist die sogenannte „Oral History“ kein Ersatz für ein gründliches Studium von Akten und Archivalien – sie aber einfach pauschal als „Geschichte vom Hörensagen“ abzutun, lässt einmal mehr den Eindruck schwerer „Kunstfehler“ entstehen, die man der GNK vorhalten muss. Interessanterweise hat die NAK dies zum Glück mittlerweile selbst eingesehen und – wohl auch angesichts des Sturms der Entrüstung, den der Informationsabend auslöste – damit begonnen, Zeitzeugen in die Aufarbeitung der eigenen Geschichte einzubeziehen.

Wer die „Zusammenschau“ näher betrachtet, stellt außerdem erstaunt fest, dass das Vorwort bereits mit dem Untersuchungsergebnis aufwartet: „Die zeitliche Bestimmung der nachfolgend beschriebenen Vorgänge macht deutlich, dass die ‚Botschaft’ nicht als Ursache für die damaligen Verhältnisse geltend gemacht werden kann, da Stammapostel Bischoff diese erst Ende 1951 offiziell zu verkündigen begann. Zwischen dem Beginn der seit 1938 auftretenden Probleme und dem Beginn der Botschaftsverkündigung liegen 13 Jahre!“9 Für eine wissenschaftliche Darstellung ist es doch eher ungewöhnlich, dass das Vorwort bereits die Schlussfolgerung enthält. Angebrachter wäre es gewesen, eine forschungsleitende Frage oder eine These zu formulieren. So aber könnte der Eindruck entstehen, dass es nur darum ging, das zu beweisen, was als Resultat bereits feststand – und ein solcher Eindruck ist der Glaubwürdigkeit einer Untersuchung natürlich nicht besonders zuträglich.

Wesentlich schwerwiegender ist jedoch, dass innerhalb der Darstellung bisweilen mit unbelegten, also unbewiesenen Behauptungen operiert wird. So heißt es etwa zur Amtsführung des Stammapostels während der NS-Zeit, er sei „als ‚Führer’ einer Kirche von den nationalsozialistischen Kräften und ihrer Gesetzgebung in seiner Handlungs- und Entscheidungsfreiheit in besonderem Maße und erheblich eingeschränkt“ gewesen.10 Einen Beleg für diese Aussage bleibt die GNK schuldig. Es wird zwar im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus ein Brief des Stammapostels zitiert, in dem Bischoff sich über die Beschränkungen des Kirchenlebens im „Dritten Reich“ äußerte, doch stammt dieser Brief von 1947, wurde also erst nach Ende der NS-Herrschaft abgefasst.11 Es lässt sich daher nicht ausschließen, dass Bischoff die Situation der NAK im Nationalsozialismus im Nachhinein düsterer darstellte, als sie tatsächlich war. Schließlich war es in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland öfter üblich, sich als Opfer der Nationalsozialisten zu präsentieren. Die Sichtweise Bischoffs bzw. der GNK ist zu hinterfragen. Zwar scheint es tatsächlich Versuche der Nationalsozialisten gegeben zu haben, die NAK zu verbieten, doch blieb ein solches Verbot nicht nur aus, sondern die Kirche konnte sich – und zwar „im Gegensatz zu den anderen Religionsgemeinschaften, die noch öffentlich arbeiten konnten“, wie Helmut Obst schrieb12 – eines weiterhin starken Mitgliederzuwachses erfreuen, und sie biederte sich dem nationalsozialistischem Regime geradezu an.13 Angesichts dieser Tatsache wäre es umso nötiger gewesen, die Behauptung zu belegen, Bischoff sei in seiner Amtsführung in „besonderem Maße und erheblich eingeschränkt“ gewesen.

Ein weiteres Beispiel: Die GNK wirft dem Schweizer Bezirksapostel Ernst Güttinger vor, er habe Lehrabweichungen vertreten und versucht, seinen Einfluss auf andere Länder auszudehnen sowie Opfergelder zu veruntreuen.14 Das sind schwerwiegende Vorwürfe – doch belegt werden sie nicht. Auch die Aussage, dass „Teile des Apostelkollegiums ihn [Güttinger, C.R.] wohlwollend hätten gewähren lassen bzw. ihn sogar unterstützt und sich damit ebenfalls gegen den Stammapostel gestellt hätten“15, wird nicht belegt. Formulierungen wie „Es gibt Anhaltspunkte in den Quellen“16 sind wert- und belanglos, solange man nicht die Quellen selbst zitiert. Außerdem: Was sind „Anhaltspunkte“? Implizierte Schlussfolgerungen, die sich aus den Quellen ergeben – dann müssen diese aber erst recht zitiert werden! – oder nur Vermutungen der GNK? So erweckt die Darstellung den Eindruck, es solle bewiesen werden, dass es sich bei Ernst Güttinger quasi um eine Art Verschwörer gehandelt habe, doch es fehlt völlig eine für den außenstehenden Leser nachvollziehbare Darstellung der Fakten, die dies untermauern würde. Dass die Ausführungen nachvollziehbar sein müssen, gilt natürlich erst recht dann, wenn man Spekulationen über die Motivation eines Menschen anstellt. So heißt es über den „Bezirksapostel“ Peter Kuhlen: „Machtstreben und Ehrgeiz waren die Motive seines Verhaltens, sein strategisches und rhetorisches Geschick verhalfen ihm zum Erfolg.“17 Wiederum sucht man vergebens nach Angaben zu Quellen, die diese Einschätzung belegen könnten.

Diese wenigen Beispiele mögen genügen. In ihrer „Zusammenschau“ verquirlte die GNK offenbar schon feststehende Meinungen und Ergebnisse mit selektiv ausgewählten Quellenbelegen zu einer Apologie des Stammapostels Bischoff und schob Güttinger und Kuhlen die Rolle niederträchtiger Intriganten zu. Die umstrittene „Botschaft“ Bischoffs wurde dagegen zu einer Art Lappalie zurechtgeschrumpft. Abschließend heißt es daher in der „Zusammenschau“: „Die Botschaft des Stammapostels Bischoff – das sei ... noch einmal festgehalten – ist nicht die Ursache für die oben beschriebenen Probleme ... Die Verantwortlichkeit für die Entwicklung und Probleme sowie die daraus resultierenden Folgen der Neuapostolischen Kirche von 1938 bis 1955 tragen im Wesentlichen einige Apostel, deren Ausrichtung auf den Stammapostel und deren Zusammenarbeit mit ihm defizitär waren. Zu ihnen gehörten maßgeblich die Apostel Ernst und Otto Güttinger und Apostel Kuhlen.“18

Wohlgemerkt: Natürlich ist es legitim, zu solch einem Schluss zu gelangen – aber dafür reicht die fragwürdige Arbeitsweise der GNK in Form ungenügender Quellenbelege bei weitem nicht aus. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass die GNK zu belegen versuchte, dass nicht sein kann, was offenbar noch immer nicht sein darf: Nicht Stammapostel Bischoff trug die Schuld an den schweren Zerwürfnissen, sondern seine Kritiker, allen voran der geächtete Peter Kuhlen.

Die Reaktionen auf das GNK-Papier

Angesichts einer solchen Interpretation der NAK-Geschichte konnte der Sturm der Entrüstung nicht lange auf sich warten lassen, und er fiel heftig aus: In den Internet-Foren der NAK-Kritiker überschlugen sich die wütenden Reaktionen, auch treue Kirchenmitglieder reagierten teilweise mit Fassungslosigkeit und Entsetzen. Und selbst der stets um Fairness bemühte Helmut Obst stellte fest, dass „eine solche Urteilsbildung ... sprachlos machen“ könne, und fragte im „Materialdienst“: „Warum jetzt diese Studie mit dieser Rechtfertigung des umstrittenen neuapostolischen Stammapostels und seiner stammapostolischen Theokratie?“19

Erschrocken musste die Leitung der NAK feststellen, dass mit dem missglückten Informationsabend ein immenser Flurschaden angerichtet worden war, der auch dazu führte, dass die Apostel und Bischöfe der „Vereinigung Apostolischer Gemeinden in Europa“ (VAG), jener durch den Ausschluss Peter Kuhlens entstandenen Abspaltung von der NAK, ihren Dialog mit dieser für beendet erklärten. Die VAG teilte Stammapostel Leber bei dieser Gelegenheit auch ihre Auffassung hinsichtlich des GNK-Papiers mit: „Bruder Drave bleibt in der am 4. Dezember 2007 vorgestellten Veröffentlichung den Beweis für seine Behauptung schuldig, dass die abgelieferten Untersuchungen unter Beachtung und Anwendung geschichtswissenschaftlicher Verfahrensweisen auf Quellenbefunden beruhen und somit sorgfaltig und quellenkritisch belegt seien.“20 Diese harsche Stellungnahme der VAG überraschte die Kirchenleitung der NAK insofern, als die „Zusammenschau“ der VAG offenbar schon vor ihrer Veröffentlichung vorlag und bis zum Informationsabend keine negativen Reaktionen ihrerseits bekannt waren.21

Schadensbegrenzung

Eines muss man der NAK-Leitung sicherlich zugutehalten: Sie realisierte sehr genau, welches Desaster der „Informationsabend“ und das GNK-Papier angerichtet hatten, und bemühte sich in den folgenden Monaten um Schadensbegrenzung. Stammapostel Leber setzte auf die Überzeugungskraft deutlicher, symbolträchtiger Zeichen und traf sich mit dem Sohn Peter Kuhlens zu einem Gespräch. Außerdem appellierte er an die VAG, den Abbruch des Dialogs nochmals zu überdenken.22 Zudem ging der Stammapostel auf die Debatte auch in der NAK-Zeitschrift „Unsere Familie“ ein. Dies zeigt, dass die Stellungnahme der GNK innerhalb der Kirche ebenfalls für erheblichen Gesprächsbedarf sorgte. Leber schrieb, er habe anhand eingegangener Zuschriften feststellen müssen, „dass der Vortrag [Draves] da und dort Verletzungen hervorgerufen oder alte Wunden aufgerissen habe ... Ich bedaure dies sehr und bitte um Entschuldigung. Es war nicht unsere Absicht, jemanden zu verletzen. Nachträglich müssen wir feststellen, dass wir im Vorfeld dieses Abends solche Reaktionen nicht erwartet haben ... Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich festhalten, dass Apostel Drave auf meinen Wunsch hin den Geschichtsteil am Informationsabend vortragen sollte. Dabei ging es mir ... um eine sachliche Aufarbeitung der Geschichte. Wir wollten weder Schuldige finden noch jemanden an den Pranger stellen.“ Wer das GNK-Papier liest, kann jedoch durchaus zu der Schlussfolgerung gelangen, dass Schuldige – in diesem Falle Vater und Sohn Güttinger sowie Peter Kuhlen – benannt und auch angeprangert werden sollten. Leber scheint dies durchaus begriffen zu haben, denn er schrieb weiter: „Wir sollten uns hüten, zu schnell und einseitig Schuldzuweisungen vorzunehmen. Und es ist immer wichtig, miteinander zu reden.“23

Der Stammapostel beließ es nicht bei schönen Worten. Im Mai 2008 teilte er mit, dass die Archive der NAK unter gewissen Bedingungen auch externen Historikern zur Verfügung stehen würden. Damit zeigte sich die NAK erstmals „grundsätzlich“ dazu bereit, „mit Historikern bei der Durchführung seriöser geschichtswissenschaftlicher Projekte im Rahmen ihrer Möglichkeiten zusammenzuarbeiten“.24 Am 12. Juli 2008 trafen sich Leber und Bezirksapostel Armin Brinkmann „auf eigenen Wunsch“ in der Wohnung von Werner Kuhlen mit Zeitzeugen der VAG. Diese legten nun ihrerseits eine Darstellung der Ereignisse mit dem Titel „Kirche und Wahrheit“ vor.25 Die NAK Nordrhein-Westfalen veröffentlichte im Anschluss an das Treffen ein siebenseitiges Dokument mit dem Titel „Zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche 1938-1955 – Gespräch mit Zeitzeugen“.26 Bemerkenswert an diesem Papier ist, dass zentralen Aussagen der GNK die Sicht der VAG-Zeitzeugen gegenübergestellt wird, ohne diese zu bewerten oder zu kommentieren.

Ein Jahr später, am 9. Juni 2009, widmete sich die Leitung der NAK ihren eigenen Zeitzeugen, um auch sie noch zu befragen. Dazu hieß es: „Überraschend nahm auch Stammapostel Wilhelm Leber, Leiter der Neuapostolischen Kirche International, an dem Treffen teil.“ Es war sein Anliegen, „auch Zeitzeugen der Neuapostolischen Kirche zu befragen, die als Kinder, Jugendliche oder Amtsträger die Zeit zwischen 1948 und 1955 miterlebt hatten ... All das stand im Zeichen des Friedens, des Verständnisses, des christlichen Miteinanders und der erklärten Versöhnungsbereitschaft ... In seiner Begrüßung führte Stammapostel Wilhelm Leber aus, dass die Ausarbeitungen der Arbeitsgruppe ‚Geschichte der Neuapostolischen Kirche’ und die Gespräche mit den Zeitzeugen aus den Reihen der Apostolischen Gemeinschaft gezeigt hätten, dass es unterschiedliche Sehensweisen über die Abläufe der damaligen Ereignisse und die Motivation der Beteiligten gebe. Die Ergebnisse der eintägigen Zusammenkunft werden nun zusammengetragen und sollen in Kürze veröffentlicht werden.“27

Was bei all diesen Aktivitäten auffällt: Der Einbezug von Zeitzeugen ist eine deutliche Abkehr von der Praxis der GNK, sich nur auf schriftliche Quellen zu berufen. So ist es wohl kein Zufall, dass die GNK im Zusammenhang mit den Zeitzeugenbefragungen als mitwirkendes Gremium gar nicht mehr erwähnt wird und seit dem Fiasko des Informationsabends vom 4. Dezember 2007 überhaupt nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten ist. Trotzdem – oder gerade deshalb – stellt sich die Frage nach der Zukunft der GNK. Den 1999 erteilten Auftrag, „die Geschichte der NAK historisch einwandfrei nachvollziehbar dar[zu]stellen“, hat sie angesichts der erwähnten Mängel bisher jedenfalls nicht erfüllt. Wenn die NAK im ökumenischen Dialog jedoch eine ernst zu nehmende Gesprächspartnerin sein möchte, wird sie um eine ebenso transparente wie wissenschaftlich saubere Aufarbeitung ihrer Geschichte nicht herumkommen. Denn an der Frage, wie die Ära Bischoff bewertet wird, wird sich entscheiden, ob es der NAK möglich ist, ihre Überhöhung der Institution „Stammapostel“ aufzugeben, um sich tatsächlich als „ökumenefähig“ zu erweisen.


Christian Ruch, Chur / Schweiz


Anmerkungen

1 Die Neuapostolische Kirche von 1938 bis 1955. Entwicklungen und Probleme. Zusammenschau; Stand 6. November 2007, 4 (im Folgenden „Zusammenschau“), www.nak.org/fileadmin/download/pdf/ Infoabend_041207_Geschichte_Internetversion.pdf. (Die in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten wurden zuletzt am 8.11.2009 abgerufen.)

www.glaubenskultur.de/artikel-389.html.

3 Siehe dazu: Informationsabend in Uster: Lehränderungen weltweit per Satellit übertragen, 24.1.2006, www.nak.org, Rubrik: NAK International, 2006.

4 Siehe z.B. Andreas Fincke, Lehrkorrekturen, in: MD 3/2006, 108f.

5 Zusammenschau, 2f.

6 Ebd., 4.

7 Ebd., 5.

8 Ebd., 4f.

9 Ebd., 5.

10 Ebd., 15.

11 Ebd., Fußnote 20.

12 Helmut Obst, Neuapostolische Kirche – die exklusive Endzeitkirche? Neukirchen-Vluyn 1996, 54.

13 Siehe ebd., 50ff.

14 Zusammenschau, 19.

15 Ebd., 19f.

16 Ebd., 19.

17 Ebd., 22.

18 Ebd., 55.

19 Helmut Obst, Stammapostolische Theokratie in der Neuapostolischen Kirche. Johann Gottfried Bischoff (1871-1960) – Retter und Garant, in: MD 3/2008, 99.

20 Brief des VAG-Sekretariats an Wilhelm Leber vom 18.12.2007, www.apostolisch.de, Rubrik: Fakten / Literatur, Brief an Dr. Leber.

21 Mündliche Auskunft von NAK-Apostel Volker Kühnle an den Verfasser.

22 Siehe den Brief von Wilhelm Leber an das VAG-Sekretariat vom 4.1.2008, zit. nach www.nak.org/file admin/download/pdf/Knauth_Matthias_20080104. pdf.

23 Unsere Familie 6/2008, 3.

24 www.nak.org/de/news/publikationen/article/15621/

25 Das Dokument ist abrufbar unter www.christ-im-dialog.de/documents/Kirche-und-Wahrheit-A5.pdf.

26 Dieses Papier ist abrufbar unter www.nak.org/file admin/download/pdf/ZurGeschichtederNeuapostolischenKirche1938-1955_GespraechmitZeitzeugen. pdf.

27 Stammapostel trifft NAK-Zeitzeugen, www.nak-nrw.de, Rubrik: Aktuelles / Berichte-Archiv / Juni 2009.