Tobias Vöge

Krishna kennenlernen über Zoom

Besuch eines Bhagavad-Gita-Vortrags beim Jagannatha-Tempel der ISKCON in Berlin

Weltanschauungsarbeit befasst sich mit den Lehren und Lebensformen religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften. Eher selten wird beschrieben, wie die alltäglichen Kultvollzüge aussehen, die das religiöse Erleben einer Gemeinschaft ausmachen und die in der Mitgliederperspektive meist zentraler sind als die offiziellen Lehren. In einer losen Folge berichten wir daher von Besuchen im Kultus verschiedener Gemeinschaften. Es handelt sich dabei um Momentaufnahmen und persönliche Impressionen, die nicht den Anspruch erheben, die geistliche Praxis einer Gemeinschaft repräsentativ darzustellen.

Die Pandemie-Zeit eröffnet zahlreiche Möglichkeiten zum Besuch religiöser Veranstaltungen und auch kleinerer Gruppen, die man sonst – zumal außerhalb von Großstädten – nur selten und nur mit großem Aufwand erleben kann. Das funktioniert sogar spontan, wenn man nachmittags per Internetsuche eine Gemeinschaft ausfindig macht, die am Abend eine Veranstaltung online anbietet. Auf diese Weise gelangte ich an einem Mittwochabend im Herbst 2021 zum Jagannatha-Tempel. Die einladende Webseite (www.tempelberlin.de) hob ihn unter anderen Angeboten dieses Tages heraus. Ein Teil meines Interesses galt dabei der Frage, wie sich das kultische Leben unter Corona-Bedingungen gestaltet.

Wegen der Pandemie finden derzeit alle Veranstaltungen des Tempels bis auf das Fest Ratha Yatra online und ohne vorherige Anmeldung statt. Als Ersatz für die persönliche Anwesenheit bietet eine umfangreiche Galerie auf der Homepage Eindrücke aus der Zeit vor Corona. So werden etwa Bilder von einer gemeinsam musizierenden Gemeinde oder der jährlich stattfindenden eben genannten Feierlichkeit gezeigt. Ratha Yatra stellt als Jahrtausende altes hinduistisches Fest die Hauptveranstaltung dar, mit welcher der Tempel auch in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Während eines großen Umzugs (Ratha bedeutet „Wagen“, Yatra wörtlich „Pilgerreise“), beginnend am Brandenburger Tor, werden auf einem Wagen die drei Tempelfiguren, die sonst nur in den Räumlichkeiten der Gruppe verehrt werden, durch die Stadt gefahren. Sie sollen Jagannatha (eine Erscheinungsform Krishnas), seinen Bruder Balabhadra und seine Schwester Subhadra darstellen. Neben dem Wagen besteht der Umzug aus diversen Tänzerinnen und singenden und musizierenden Menschen. Im Anschluss an die Rückkehr zum Startpunkt gibt es ein Bühnenprogramm, und es werden typische indische Speisen, Getränke und Kunstwerke angeboten.1

Auf der Homepage werden unter „Events“ täglich von 5 Uhr bis 7 Uhr Mantra-Meditationen angeboten, und für den fraglichen Tag war ein Bhagavad-Gita-Abend aufgeführt. Veranstaltungen mit gemeinsamem Lesen und Auslegen von Texten scheinen keine Seltenheit zu sein, ein Bhagavad-Gita-Vortrag wird wöchentlich gehalten, und auch andere Schriften werden gelesen und besprochen.

Laut Website und anderen Quellen gehört der Jagannatha-Tempel zur Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (ISKCON), hierzulande vor allem als Hare-Krishna-Bewegung bekannt. Die Bewegung wurde 1966 von A. C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada in New York gegründet, in Deutschland gab es ab 1969 die ersten Gemeinschaften. Die „Hare Krishnas“ gehörten zu jenen Gruppen, die in den 1970er Jahren eine breite gesellschaftliche Angst vor „Jugendsekten“ auslösten. Heute gibt es in Deutschland etwa 400 bis 450 offizielle Mitglieder (sogenannte Devotees, „Hingegebene“) und ein Umfeld von ca. 3000 bis 6000 Personen.2 Der Tempel verdankt seinen Namen Jagannatha („Herr der Welt“), der bereits erwähnten Erscheinungsform Krishnas, welcher als persönlich vorgestellter Gott die zentrale Rolle in den Lehren spielt.

Der Vortrag

Pünktlich um 18.55 Uhr wurde ich in das Online-Meeting eingelassen und sah mich drei reichlich mit Blumen geschmückten Figuren auf einem Altar gegenüber. Es handelte sich um die bereits erwähnten Altarfiguren, sie befanden sich auf dem Profilbild des Veranstalters. Bei der Begrüßung um 19 Uhr war dieser dann mit Kamera zu sehen, er war um die 30 Jahre alt und hatte südasiatische Wurzeln. Als Zoom-Name stand bei ihm nur der Name des ISKCON-Tempels. Es nahmen ca. 15 Personen an der Veranstaltung teil. Alle waren stummgeschaltet, nur einer hatte seine Kamera an. Zum Teil sah man bei den anderen freundliche Profilbilder. Die Stummschaltung und das zumeist fehlende Bild bei den anderen Teilnehmenden deutete nicht gerade auf ein Format mit wechselseitiger Diskussion hin, vonseiten der Organisation kam auch keine Bitte um Sichtbarkeit, sodass ich meine Kamera ebenfalls ausgeschaltet ließ. Uns wurde die Möglichkeit offeriert, während des Vortrags Fragen im Chat zu stellen, allerdings machte davon niemand Gebrauch. Den angezeigten Profilbildern nach zu urteilen bestand die Hauptklientel aus Männern und Frauen zwischen 30 und 60 Jahren, viele Namen klangen indisch. Aber unter den älteren Teilnehmenden fanden sich auch ein paar mitteleuropäische Namen und Profilbilder. Verkehrssprache war Englisch.

Nach der Begrüßung erhielten wir einen Link, über den der Vers dieses Abends auf Sanskrit, dessen Übersetzung und eine kurze Erklärung aufgerufen werden konnten. Es handelte sich um Vers 13 aus dem fünften Kapitel der Bhagavad Gita. Diese ist in Gedichtform geschrieben (Bhagavad Gita bedeutet „der Gesang des Erhabenen“) und gehört mit ihren 18 Kapiteln mit 700 Versen zu den wichtigsten Schriften im Hinduismus. Entstanden zwischen dem 5. und dem 2. Jahrhundert v. Chr. stellt sie eine Kombination verschiedener religiös-philosophischer Schulen im damaligen Indien dar. Inhaltlich schildert sie einen Dialog zwischen Krishna und seinem Schüler Arjuna. Das Hauptthema dieses Dialogs bilden Verhaltensweisen, die zu einer Erkenntnis des Göttlichen führen sollen.

Unser Veranstalter trat in den Hintergrund und übergab Jai Nitai Prabhu das Wort, einem Mann Mitte 40 mit sehr kurzen Haaren, wie es häufig bei Devotees zu sehen ist. Eine ebenfalls oft vorhandene Shika (längere Haarlocke oder Zopf am Hinterkopf) war nicht erkennbar. Er sprach sehr gutes Englisch mit leichtem deutschen Akzent. Ein Stapel Umzugskartons im Zimmer wirkte ein bisschen unprofessionell, die Atmosphäre war aber durch seinen mit Klatschen begleiteten mantraartigen Gesang ohnehin eher aufgelockert-familiär. In einem Raum mit gemeinsamem Gesang wäre die Stimmung sicherlich noch besser übertragen worden, aber immerhin gab es keine Störgeräusche oder Unterbrechungen. Nach fünf Minuten kam der Sänger zum Ende und begann mit seinem Vortrag.3

„When the embodied living being controls his nature and mentally renounces all actions, he resides happily in the city of nine gates, neither working nor causing work to be done“4, so lautete der Vers, der zu Beginn je zweimal im Original (Sanskrit) und in der englischen Übersetzung vorgetragen wurde. Es folgte die Interpretation. Hauptthema des Verses ist das Verhältnis von Körper und dem geistigen bzw. spirituellen Bewusstsein. Außerdem wird über Arbeit als Interaktion mit der materiellen Welt gesprochen. Es ist die Rede von dem Körper als Stadt mit neun Toren, die – wie unser Lehrer erklärte – für die neun Körperöffnungen stehen. In der Vorstellung der Krishna-Anhänger ist alles materielle Leben von Leid geprägt, so auch der Körper. Allerdings kann durch die Entwicklung eines spirituellen Bewusstseins Krishna und auf diese Weise auch Glück im körperlichen Leben erfahren werden. Das Selbst ist normalerweise den Sinnen unterworfen und wird von diesen gelenkt. Erst wenn Krishna durch die Sinne einer Person Genüsse empfängt, kann diese Anteil an seiner Herrlichkeit haben. Mit zahlreichen Querverweisen und Rückbezügen auf andere hinduistische Texte und auf Textstellen in der Bhagavad Gita zeigte das Vorgehen eine wissenschaftliche Note. Durch die Schilderung von persönlichen Eindrücken von Reisen oder von Träumen wurde allerdings klargemacht, dass kein Anspruch auf Objektivität besteht und die Autorität des Textes als solche nicht infrage gestellt wurde.

Abschluss und Fazit

Im Anschluss an den Vortrag wären in den verbleibenden vier Minuten Fragen möglich gewesen. Die vorangeschrittene Zeit, aber auch das anonym anmutende Format könnten Gründe dafür gewesen sein, dass niemand eine Frage stellte. Ich für meinen Teil wusste nicht, mit welcher meiner „Anfängerfragen“ ich beginnen sollte und ob sich überhaupt eine davon in so kurzer Zeit würde beantworten lassen. Allgemeine Fragen zur Gemeinschaft, die nicht den Vortrag betrafen, schienen ebenso unangebracht. Nun wurde der Vers für die nächste Woche angekündigt. Als sich daraufhin die ersten Teilnehmenden für den Vortrag bedankten und mit „Hare Krishna“ verabschiedeten, taten es ihnen der Veranstalter und der Vortragende gleich und das Meeting wurde geschlossen.

Auch wenn die Kommunikation und das Gemeinschaftsgefühl unter dem Format meines Erachtens stark litten und gewisse Vorkenntnisse sinnvoll gewesen wären, erlaubte der Onlinebesuch insgesamt doch einen niederschwelligen Zugang zu der Gruppe und ihrer Lehre. Es zeigte sich zumindest ansatzweise, wie in der Hare-Krishna-Frömmigkeitspraxis mit dem heiligen Text der Bhagavad Gita umgegangen wird. Allerdings hinterließ das Fehlen kritischer Nachfragen eine Lücke. Sie hätten anzeigen können, wie liberal oder wie fundamentalistisch mit den religiösen Texten umgegangen wird. Was das Leben der Gemeinschaft angeht, so gab es nur die anfänglich erwähnten Bilder. Hier stößt digitale Kommunikation sehr an ihre Grenzen. Lust auf eine Begegnung in Präsenz machen die bunten und fröhlichen Fotos aber allemal, besonders das Fest Ratha Yatra scheint einen Besuch wert zu sein.


Tobias Vöge, 08.11.2021

Anmerkungen

  1. Vgl. die offizielle Seite des Jagannatha-Tempels: Herzlich willkommen, www.tempelberlin.de/ratha-yatra (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 30.9.2021).
  2. Vgl. www.remid.de/info_zahlen/verschiedene.
  3. Der Abend ist in voller Länge auf dem YouTube-Kanal des Tempels zu sehen: www.youtube.com/c/JagannathaTempelBerlin/videos.
  4. www.vedabase.io/en/library/bg/5/13.