Arno Schilberg

Kirche, Kopftuch, Körperschaft

Gerichtsentscheidungen in Weltanschauungsfragen

Im Materialdienst 4/2017, 123-130, hat Hans-Jürgen Papier unter dem Titel „Möglichkeiten und Grenzen der Religionsausübung in der Einwanderungsgesellschaft“ in großen Linien den religionsverfassungsrechtlichen Rahmen, der durch die Religionsfreiheit in Art. 4 GG und die Regelungen in Art. 140 GG i. V. m. den Art. 137ff WRV normiert ist, aufgezeichnet und das staatliche Neutralitätsgebot dargestellt. Im Einzelnen wurden Körperschaftsstatus, Religionsunterricht, Kopftuch- und Burkaverbot behandelt. Zum Schluss widmete er sich der Freiheit und den Grenzen der Religionsausübung im Zusammenhang mit der Integration von Flüchtlingen und dem Thema „Leitkultur“. Zu Recht weist Papier darauf hin, dass Menschen aus fremden Kulturkreisen in Deutschland „nicht mit religiöser Intoleranz und mit verfassungsrechtlich unbegründbaren und nicht zu rechtfertigenden sogenannten Loyalitätspflichten begegnet werden [darf]. Wir schulden ihnen ausnahmslos eine Behandlung nach den bewährten Regeln unserer Rechts- und Sozialstaatlichkeit …“ (130). Wie das im Einzelnen aussieht, erfährt man durch die Praxis der staatlichen Verwaltung und der staatlichen Gerichte. Die Gerichtsentscheidungen werden publiziert, jedoch oft an für den Nichtjuristen nicht leicht zugänglicher Stelle.

Im Materialdienst 4/2016, 131-140, wurde unter dem gleichen Titel die Entscheidungssammlung „Baldus/Muckel (Hg.): Entscheidungen in Kirchensachen seit 1946“ ausgewertet. Die Auswertung umfasste den Zeitraum von 2010 bis 2012. Für diesen Beitrag werden nun die vier Bände Nr. 60 bis 64 für den Zeitraum von der zweiten Jahreshälfte 2012 bis zur ersten Jahreshälfte 2014 ausgewertet. Die Bandbreite der Gerichtsentscheidungen ist groß. Es geht von Erstinstanzen wie Verwaltungsgericht und Arbeitsgericht über Mittelinstanzen wie Oberverwaltungsgericht bis hin zu Bundesgerichten. Dies ist bei der Bewertung der Ausführungen jeweils zu beachten.

Schule

Unterrichtsbefreiung: Im Sachverhaltskomplex Schule spielt seit Jahren die Frage der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht eine Rolle. Allgemein geht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon aus, dass es einer muslimischen Schülerin zuzumuten ist, in einer muslimischen Vorschriften entsprechenden Bekleidung daran teilzunehmen. Der einzelne Schüler bzw. die einzelne Schülerin kann gestützt auf von ihm oder ihr für maßgeblich erachtete religiöse Verhaltensgebote nur in Ausnahmefällen die Befreiung von einer Unterrichtsveranstaltung verlangen.2 Der Hessische Verwaltungsgerichtshof begründet das mit dem Integrationsauftrag des Grundgesetzes. Dieser gebiete es, „Schülerinnen und Schüler auf ein Dasein in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft in Deutschland vorzubereiten, in der sie einer Vielzahl von Wertvorstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen begegnen werden, die sie für sich selbst ablehnen“.3 Der mit der Pflicht zum Besuch des koedukativen Schwimmunterrichts verbundene Eingriff in religiöse, dem Koran entnommene Verhaltensgebote steht in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem Schwimmunterricht verfolgten staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag.4

Entsprechend ist zu verfahren bei der Befreiung von der Teilnahme an einer Schulfahrt aus religiösen Gründen. Auch hier besteht kein Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts bzw. der Glaubens- und Gewissensfreiheit.5 Im Hinblick auf eine einzelne Unterrichtsveranstaltung kann aus religiösen Gründen allerdings eine Befreiung erteilt werden. Für Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist es hingegen zumutbar, dass ihre Kinder in der Schule an der Vorführung eines Spielfilms teilnehmen, in dem das Praktizieren schwarzer Magie dargestellt wird.6 Die vollständige Verweigerung der allgemeinen Schulbesuchspflicht ist rechtswidrig.7 Mitglieder von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften dürfen an bestimmten Feiertagen, etwa zur Teilnahme an einem Bezirkskongress der Zeugen Jehovas,8 von der Schule fernbleiben. Dies stellt keine unzulässige Ungleichbehandlung dar, weil ein sachlicher Grund vorliegt.

Gesichtsschleier: Das Verbot, während des Unterrichts an einer Berufsoberschule einen gesichtsverhüllenden Schleier zu tragen, begrenzt das Recht einer Schülerin auf freie Religionsausübung in zulässiger Weise.9 Das Gericht stellt beim Verbot des Gesichtsschleiers auf den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und die damit verbundene offene Kommunikation ab. Ferner handelte es sich bei der Schule um eine Berufsoberschule, also keine Pflichtschule. Für die Schülerin gibt es alternative Wege, den Schulabschluss zu erreichen.

Ethikunterricht: Der VGH Baden-Württemberg hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, ob ein Bundesland zur Einrichtung des Fachs Ethik an der Grundschule verpflichtet ist. Ein solcher Anspruch der Eltern besteht nicht. Er ergebe sich weder aus dem Grundgesetz noch aus der Verfassung des Landes Baden-Württemberg oder aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihrem Zusatzprotokoll. Es falle in den Gestaltungsspielraum des Staates, inwieweit er es in Verwirklichung seines Erziehungsauftrags für erforderlich hält, Ethikunterricht anzubieten.10 Die gegen das Urteil eingelegte Revision beim Bundesverwaltungsgericht wurde als unbegründet zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG den Religionsgemeinschaften als außerstaatlichen Bildungs- und Erziehungsträgern die Möglichkeit einräumt, in der Schule im Interesse der Religionsfreiheit mitzuwirken. Für die Forderung nach Einführung eines nichtkonfessionellen Ethikunterrichts als Ersatzfach für den Religionsunterricht biete die Vorschrift keine Grundlage. Wenn der Normgeber im Schulrecht bei Gestaltung der Stundentafeln keine Gleichstellung zwischen den Fächern Ethik und Religion vornimmt, verstößt er nicht gegen Art. 3 Abs. 3 GG, da bereits auf der Ebene der Verfassung (Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG) eine Differenzierung zwischen beiden Fächern vorgenommen wird.11 Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG regelt nur den Religionsunterricht.

Gleichbehandlung

Diskriminierung aus religiösen Gründen: Im Zusammenhang mit Diskriminierung aus religiösen Gründen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gibt es diverse Urteile unterer Instanzen. Letztlich wird auf ein klärendes Urteil des Bundesarbeitsgerichts gewartet. Deshalb werden die vorhandenen Urteile nur kurz erwähnt.

Das Arbeitsgericht Aachen hat entschieden: Weist ein Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft die Bewerbung eines Krankenpflegers allein mit der Begründung zurück, er sei nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft, liegt eine entschädigungspflichtige Diskriminierung jedenfalls dann vor, wenn einschlägige kirchliche Vorschriften die Konfessionszugehörigkeit des Stelleninhabers nur für andere, etwa pastorale oder katechetische, Tätigkeiten ausdrücklich vorbehalten.12

Das Landgericht Bremen hat entschieden: Eine Diskriminierung nach AGG liegt dann nicht vor, wenn die Anforderungen (hier: Kopfbedeckungsverbot auch für muslimische Frauen in einem Fitnessstudio) nach dem verfolgten Ziel und den angewandten Mitteln sachlich gerechtfertigt erscheinen.13 Im konkreten Fall wurde der Vertrag aus sportlichen und sicherheitstechnischen Gründen gekündigt.

Finanzielle Förderung von Religionsgemeinschaften: In einem Rechtsstreit 2013 ging es um die Förderung eines Klägers, der bis zum 31.12.2011 dem Landesverband der jüdischen Gemeinde – Land Brandenburg KdöR angehörte, für die Haushaltsjahre 2012 und 2013. Er hatte einen positiven Bewilligungsbescheid bekommen und zweifelte die Höhe des Betrages an. Das Verwaltungsgericht Potsdam führte aus, dass der Staat insbesondere bei Maßnahmen (zulässiger) positiver Religionspflege nicht gehalten ist, alle Gemeinschaften ohne Unterschied zu fördern, wenn sachliche Gesichtspunkte für eine differenzierende Behandlung vorhanden sind. Zu den zulässigen Differenzierungskriterien bei der Gewährung staatlicher Begünstigungen zählten Größe, Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, soziale Bedeutung und Grad öffentlicher Wirksamkeit einer Religionsgemeinschaft oder ihre Geschichte, regionale Verbreitung, Organisiertheit, ihr karitatives Engagement, ihre soziale Aktivität, kulturelle Qualifikation oder soziologische Erscheinung im Einzelfall. Eine Förderentscheidung nach „Leitlinien zur Aufteilung der für den Wiederaufbau und die Aufrechterhaltung jüdischen Gemeindelebens bereitgestellten Haushaltsmittel des Landes Brandenburg“ könne auf Ermessensfehler hin überprüft werden.14

Das gleiche Gericht hatte sich in einem anderen Verfahren mit Forderungen für die Haushaltsjahre 2005 bis 2009 zu beschäftigen und wiederholte, dass für die Teilhabe an bereitgestellten staatlichen Fördermitteln u. a. der Grundsatz der Parität gelte, jedoch das Grundgesetz nicht gebiete, dass alle Religionsgemeinschaften schematisch gleich behandelt werden, vielmehr seien Differenzierungen zulässig, die durch die tatsächliche Verschiedenheit der einzelnen Religionsgesellschaften bedingt sind. Ein Anspruch auf Grundförderung etwa in Form eines Sockelbetrages bestehe nicht.15

Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich mit Ansprüchen der Synagogengemeinde Halle an den Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt zu beschäftigen. In den Amtlichen Leitsätzen stellt das Gericht klar, dass, wenn in einem Staatsvertrag die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts für dort geregelte Ansprüche einem Dritten als neutraler Instanz übertragen ist und dieser Dritte die Feststellung nicht trifft, das sodann angerufene Verwaltungsgericht die Sache durch eigene Aufklärung des Sachverhalts spruchreif zu machen hat. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV hindere das Verwaltungsgericht nicht grundsätzlich festzustellen, wer Mitglied einer jüdischen Gemeinde ist, insbesondere dem Judentum angehört, wenn in einer Norm des staatlichen Rechts die Gewährung von Leistungen an die Religionsgemeinschaft von der Zahl Ihrer Mitglieder abhängt.16

Kopftuch

Vor 15 Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass ein Kopftuchverbot in Schulen im Sinne der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates zulässig sei.17 Verschiedene Bundesländer schufen dafür entsprechende Rechtsgrundlagen. 2015 änderte sich die Rechtsprechung. Das Tragen beeinträchtige für sich nicht das Neutralitätsgebot, ein Verbot könne nur ausgesprochen werden, wenn eine konkrete Gefahr vorliege.18 Die Entscheidungen vor 2015 kannten nur die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat 2013 entschieden, dass die Einführung einer Dienstpflicht, die es Beamten verbietet, in ihrem äußeren Erscheinungsbild ihre Religionszugehörigkeit erkennbar zu machen, ungeachtet der Frage ihrer generellen materiell-verfassungsrechtlichen Zulässigkeit als eine für die Grundrechtsverwirklichung wesentliche Entscheidung einer ausdrücklichen formellgesetzlichen Regelung durch den Parlamentsgesetzgeber bedarf.19 Diese ist erst durch das Bundesgesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften vom 8.6.201720 erfolgt. Das Gesetz verbietet die Verhüllung des Gesichts für Beamte und Soldaten bei Ausübung ihres Dienstes oder bei Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug. Entsprechendes gilt für Wahlausschüsse und Wahlvorstände. Ferner wurde die Mitwirkungspflicht bei gesetzlich vorgesehener Identitätsfeststellung zur Ermöglichung des Abgleichs amtlicher Lichtbildausweise mit dem Gesicht des Ausweisinhabers erweitert. Im März 2018 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof über die Klage einer Rechtsreferendarin entschieden, die im Gerichtssaal Kopftuch tragen will.21

Die religiös begründete Entscheidung einer Studierenden muslimischen Glaubens, ein Kopftuch zu tragen, rechtfertigt es nicht, eine Ausbildungsförderung nach einem Studienfachwechsel von Rechtswissenschaften zu Erziehungswissenschaften fortzuführen.22 Eine Fortführung der Förderung ist nur möglich, wenn ein „unabweisbarer Grund“ vorliegt, die Fortführung objektiv und subjektiv unmöglich ist. Eine Tätigkeit als Juristin sei in Deutschland auch mit Kopftuch möglich.

Anerkennung als Religionsgemeinschaft und des Körperschaftsstatus23

Im Hinblick auf die Religionsgemeinschaften sind drei Rechte zu unterscheiden: Es gibt erstens den Schutz der Religion in ihrer kollektiven Ausübung nach der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Auf das Grundrecht können sich Religionsgemeinschaften berufen, aber auch juristische Personen bzw. Vereinigungen, die sich nur der partiellen Pflege des religiösen Lebens ihrer Mitglieder widmen.24 Religionsgemeinschaften können sich darüber hinaus (zweitens) u. a. auf das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV berufen. Einer irgendwie gearteten Anerkennung durch den Staat bedarf es nicht. Ferner können Religionsgemeinschaften drittens den sog. Körperschaftsstatus gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV beantragen.

Zur ersten Frage der kollektiven Religionsfreiheit nach Art. 4 GG führte das OVG Berlin-Brandenburg aus, dass einer Vereinigung Grundrechte aus Art. 4 GG zustehen, wenn sie sowohl nach ihrem geistigen Gehalt und äußeren Erscheinungsbild als auch in tatsächlicher Hinsicht die Merkmale einer Religionsgemeinschaft aufweist. Im konkreten Fall wurde die Grundrechtsträgereigenschaft für den türkischen Verein, der einen Antrag auf Erteilung eines Visums für einen türkischen Staatsbürger, den der Verein als Gebetsvorsteher und Islamgelehrten anstellen will, verneint.25

Die zweite Frage, unter welchen Voraussetzungen insbesondere islamische Verbände Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes sind, ist umstritten. Die Frage ist z. B. bei dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf institutionalisierte Krankenhausseelsorge relevant, der nur einer Religionsgemeinschaft zusteht,26 und z. B. bei der Frage des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 23.2.200527 erste Kriterien genannt, wann eine Religionsgemeinschaft vorliegt. Das Gericht hat die Sache selbst an das OVG Münster zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Dieses hat entschieden, dass die auf mehreren Ebenen organisierten Dachverbände keine Religionsgemeinschaften sind. Es fehlt daran, dass (1) der Dachverband in seiner Satzung mit Sachautorität und -kompetenz für identitätsstiftende religiöse Aufgaben ausgestattet ist und (2) die von ihm in Anspruch genommene religiöse Autorität in der gesamten Gemeinschaft bis hinunter zu den Moscheegemeinden reale Geltung hat.28

In drei weiteren Entscheidungen geht es um den Körperschaftsstatus: Die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, die Zahl der Mitglieder unterschreite die Zahl von einem Tausendstel der Bevölkerung des jeweiligen Landes.29 Wenn eine Religionsgemeinschaft (hier: Hindu-Tempelgemeinschaft) ihre Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts erstrebt, ist ihr gegenwärtiger Mitgliederbestand zwar Grundlage der Prognose für einen dauerhaften Bestand, jedoch kann regelmäßig allein aus der Zahl der Mitglieder nicht unmittelbar auf den künftigen Fortbestand der Religionsgemeinschaft geschlossen werden. Bei einer Organisation mit einem typischerweise weitreichenden Wirkungskreis ist für die Prognose der Beständigkeit auch der bundes- und europaweite Mitgliederbestand einzubeziehen. Das Merkmal der Gewähr der Dauer hat schließlich die Funktion, die Zuerkennung der Körperschaftsrechte an neu entstandene Bewegungen zu verhindern, deren weiterer Weg nicht einzuschätzen ist.30

Eine andere Frage widmet sich der Wirkung der Anerkennung als Körperschaft: Die Rechtsfähigkeit einer Religionsgesellschaft, die aufgrund der landesrechtlichen Gewährung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts entsteht, wirkt für das gesamte Bundesgebiet.31

Ein religiöser Verein kann nur dann als verfassungswidrig beurteilt werden, wenn er sich nicht darauf beschränkt, sich mit religiös begründeten, im Widerspruch zu grundlegenden Verfassungsprinzipien stehenden Lehren als Glaubensinhalt zu befassen und in diesem Sinne für sie zu werben, sondern die konkrete Umsetzung dieser Lehren oder aus ihnen hergeleiteter Verhaltenspflichten in Deutschland propagiert.32

Sorgerecht

Bei der Frage der elterlichen Sorge geht es jeweils um das Kindeswohl. In den konkreten Einzelfällen geht es um:

  • Die Berücksichtigung auch der politisch-religiösen Überzeugungen und Verhaltensweisen bei der Entscheidung über den Umgangsanspruch eines Elternteils, soweit diese sich gegenüber dem Kind manifestieren.33
  • Bei gemeinsamer elterlicher Sorge geschiedener Ehegatten kann es dem Kindeswohl entsprechen, die Entscheidungsbefugnis über die Teilnahme eines konfessionslosen Kindes am Religionsunterricht der Grundschule auf einen Elternteil zu übertragen. Weder bei einer Teilnahme am Religionsunterricht und am Schulgottesdienst noch bei einer Nichtteilnahme ist eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten. Die Teilnahme am Religionsunterricht und am Gottesdienst ist für die Bildung förderlich, ermöglicht später eine bessere Grundlage für eine eigene Entscheidung für oder gegen die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, vermittelt eine fundierte Kenntnis über die christlichen Grundlagen der abendländischen Kultur und verschafft so auch ein größeres Verständnis für hiesige Grundregeln des Zusammenlebens.34
  • Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung des Personensorgeberechtigten in die Beschneidung des Kindes.35
  • Wenn Eltern eines nichtehelichen Kindes im Hinblick auf die religiöse Kindererziehung grundsätzlich unterschiedlicher Ansicht sind, kann die Bestimmung der Religionszugehörigkeit von einer im Übrigen antragsgemäßen gemeinsamen Sorgerechtseinräumung auszunehmen sein.36
  • Sind die der gemeinsamen elterlichen Sorge anvertrauten Söhne aus einer geschiedenen Ehe bisher allein von der Mutter als Hauptbetreuungsperson im christlichen Glauben erzogen worden, dann entspricht es dem Wohl dieser Kinder, dass die Mutter über die Vornahme der vom Vater verlangten muslimischen Beschneidung allein entscheidet.37
  • Wenn geschiedene, aber gemeinsam sorgeberechtigte Eltern eines Kindes aus verschiedenen Kulturkreisen stammen und verschiedenen Religionsgemeinschaften angehören, erscheint es geboten, das Kind nicht zu früh endgültig in eine Religionsgemeinschaft zu integrieren, wie dies durch Taufe und Kommunion der Fall wäre.38

Verschiedenes

  • Religionsbeschimpfung nach § 166 StGB: Ein Beschimpfen i. S. v. § 166 StGB erfasst nicht schon jede herabsetzende Äußerung, sondern nur nach Form und Inhalt besonders verletzende Äußerungen der Missachtung (hier verneint für das Zeigen sogenannter Mohammed-Karikaturen im Rahmen einer öffentlichen Versammlung).39
  • Ausweisung eines muslimischen Predigers: Die bloße Überzeugung eines Ausländers, religiöse Gebote gingen dem staatlichen Gesetz vor, können keine Eingriffsmaßnahmen rechtfertigen; maßgeblich ist ausschließlich das äußere tatsächliche, nach weltlichen Kriterien zu beurteilende Verhalten der Akteure, nicht aber deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugung, die zu bewerten dem Staat aufgrund seiner Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität verwehrt ist.40
  • Eigenmächtige Urlaubsverlängerung wegen Pilgerfahrt: Die Teilnahme an der Haddsch kann als „entgegenstehendes Hindernis“ zur vorübergehenden Leistungsverweigerung nach § 275 Abs. 3 BGB berechtigen, sodass eine außerordentliche Kündigung wegen eigenmächtiger Urlaubsverlängerung durch den teilnehmenden Arbeitnehmer nicht gerechtfertigt sein kann.41
  • Errichtung einer Moschee mit Minarett: Die Errichtung einer Moschee mit Minarett in einem faktischen Mischgebiet verletzt (hier: nach den Umständen des Einzelfalls) nicht das nachbarrechtliche Gebot der Rücksichtnahme.42
  • Geschmacksmusterdarstellung mit Moschee: Eine Geschmacksmusterdarstellung (Design auf einem Produkt), die das Bild eines islamischen Gotteshauses als Symbol für den Islam zum Gegenstand eines vermeintlich von einer übergeordneten Stelle verfügten Verbotes macht und damit den Eindruck erweckt, als gehe von einer Moschee oder dem Islam als solchem eine Gefahr aus, vor der gewarnt werden müsse, verstößt als religiös anstößig gegen die guten Sitten.43
  • Religionswechsel als Nachfluchtgrund: Religionswechsel kommt als Nachfluchtgrund für Asylgewährung nur in Betracht, wenn verlässlich festgestellt werden kann, dass die Konversion auf einer glaubhaften Zuwendung (hier: zum christlichen Glauben) im Sinne einer ernsthaften Gewissensentscheidung, auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht.44

Schluss

Die Einzelfälle haben gezeigt, dass das Religions- und Weltanschauungsrecht mehr als andere Rechtsbereiche „kultur- und geschichtsgesättigt“ ist und eine „hohe Pfadabhängigkeit“ aufweist.45 Die Justiz hat immer wieder auf dem Gebiet Religionen und Weltanschauungen einen Ausgleich zu finden, um der Vielfalt in der Gesellschaft gerecht zu werden. Dieses Ringen im Einzelfall mag Nichtjuristen zuweilen befremdlich vorkommen, ist aber notwendig, weil es keine „Zauberformel“ gibt, die abstrakt die Grenzen der Toleranz bestimmen lässt.46 Die religiös-weltanschauliche Pluralität ist auf der Grundlage der staatlichen Neutralität immer neu auszuloten, ohne einer im Grundgesetz nicht vorgesehenen Laizität zu verfallen. Das deutsche System von Staat und Religion hat sich dabei als hinreichend flexibel, als „elastisch“ erwiesen, um den gesellschaftlichen Veränderungen offen gegenüberzustehen und auf die immer wieder neuen Fragen der praktischen Lebenswirklichkeit tragfähige Antworten zu geben. Es ist mit anderen Worten zukunftsfähig, weil es sich Neuem öffnen kann.47

Dabei kommt es zu Akzentverschiebungen. Heute steht mehr die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG im Vordergrund als die institutionellen Absicherungen in Art. 140 GG.48 In Teilen der Literatur wird darin eine „Überindividualisierung“ gesehen. Dem kann nur begegnet werden, indem in jedem Fall eine Plausibilisierungsprüfung stattfindet. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob mit der Gewichtsverlagerung der Rahmen, den die Religionsgemeinschaften im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV haben, kleiner wird. Wir warten also mit Spannung auf die nächsten Bände der Entscheidungen in Kirchensachen.


Arno Schilberg
 

Anmerkungen

  1. Der Beitrag wurde für die Veröffentlichung hier leicht gekürzt. 
  2. Urt. v. 11. 9.2013 -6 C 25/12, KirchE 62, 116.
  3. VG Köln, Beschluss v. 20.11.2012 -10 L 1400/12, KirchE 60, 331.
  4. Hessischer VGH, Urteil v. 28.9.2012-7 A1590/12, KirchE 60, 162.
  5. OVG Bremen, Urt. v. 19.11.2013 -1A 275/10, KirchE 62, 361.
  6. BVerwG, Urt. v. 11.9.2013 -6 C12/12-, KirchE 62, 101.
  7. OLG Köln, Beschluss v. 27.11.2012 -1 RBs 308/12,111-1 RBs 308/12, KirchE 60, 363.
  8. VG Bremen, Urteil v. 30.6.2014 -K 881/13, KirchE 63, 555.
  9. BayVGH, Beschluss v. 22.4.2014 -7 CS 13.2592, 7 C 13.2593, KirchE 63, 293.
  10. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.1.2013 -9 S 2180/12, KirchE 61, 90.
  11. BVerwG, Urt. v. 16.4.2014 -6 C11/13, KirchE 63, 286.
  12. ArbG Aachen, Urt. v. 13.12.2012 -2 Ca 4226/11, KirchE 60, 453.
  13. LG Bremen, Urt. v. 21.6.2013 -4 S 89/12, KirchE 61, 500.
  14. VG Potsdam, Urt. v. 6.12.2013 -12 K 401/12, KirchE 62, 431.
  15. VG Potsdam, Urt. v. 19.5.2014 -12 K1994/13, KirchE 63, 428.
  16. BVerwG, Urt. v. 27.11.2013 -6 C 21/12, KirchE 62, 396.
  17. 1. Kopftuchurteil, 24.9.2003, BVerfGE 108, 282.
  18. 2. Kopftuchurteil, 27.1.2015, BVerfGE 138, 296.
  19. VG Düsseldorf, Urt. v. 8.11.2013 -26 K 5907/12, KirchE 62, 59.
  20. BGBl., 1570.
  21. FAZ v. 6.3.2018.
  22. VG Augsburg, Urt. v. 16.4.2013 -Au 3 K 12.1328, KirchE 61, 289.
  23. Im Sinne von Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 bzw. nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV.
  24. Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 32015, 56.
  25. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 29.4.2014 -OVG11S 21.14-, KirchE 63, 315.
  26. VG Augsburg, Beschluss v. 18.9.2012 -Au 3 E 12.1151-, KirchE 60, 118. Darin hat das Gericht ausgeführt, dass auch ein Dachverband eine Religionsgemeinschaft sein kann, wenn dessen Tätigkeit in der Weise auf die Gläubigen in den örtlichen Vereinen bezogen ist, dass sie sich als Teil eines gemeinsam alle diese Gläubigen umfassenden Glaubensvollzugs darstellt. Das dürfte aus heutiger Sicht eine verkürzte Sichtweise sein.
  27. BVerwG 6 C 2.04-, BVerwGE 123, 49.
  28. OVG Münster, Urteil v. 9.11.2017, 19 A 997/02-, JurionRS 2017, 28658; Vgl. Friedmann Eißler, OVG-Urteil: Islamische Verbände sind keine Religionsgemeinschaften, in: MD 1/2018, 21-23.
  29. BVerwG, Urteil v. 28.11.2012 -6 C 8/12-, KirchE 60, 364.
  30. VG Arnsberg, Urt. v. 7.6.2013 – 12 K 2195/12, KirchE 61, 414.
  31. OLG Hamm, Beschluss v.12.6.2014 – I-15 W 403/13-, KirchE 63, 514.
  32. BVerwG, Urt. v. 14.5.2014 -6 A 3/13-, KirchE 63, 395.
  33. OLG Köln, Beschluss v. 15.3.2013 -11-26 UF 9/13, 26 UF 9/13, KirchE 61, 257.
  34. OLG Köln, Beschluss v. 18.4.2013 -U-12 UF108/12,12 UF108/12, KirchEE 61, 304.
  35. OLG Hamm , Beschluss v. 30.8.2013 -11-3 3 UF133/13, KirchE 62, 90.
  36. AG Bergen, Beschluss v. 10.2.2014 -4 F 2/14, KirchE 63, 118.
  37. AG Düsseldorf, Beschluss v. 7.4.2014 -269 F 58/14, KirchE 63, 199.
  38. OLG Hamm, Beschluss v. 24.6.2014 -11-12 UF 53/14, KirchE 63, 552.
  39. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.8.2012 -OVG 1 S 117.12-, KirchE 60, 73.
  40. VG Göttingen, Urt. v. 8.1.2013 -3 A168/11-, KirchE 61, 16.
  41. ArbG Herford, Urteil v. 18.6.2013 -1 Ca 1457/12-, KirchE 61, 479.
  42. VG Ansbach, Urteil v. 25.6.2013 -AN 9 K 12.01400-, KirchE 61, 512.
  43. BPatG, Beschluss v. 14.11.2013 -30 W (pat) 704/13-, KirchE 62, 273.
  44. VG Potsdam, Urt. v. 19.11.2013 -6 K 2704/12,A-, KirchE 62, 374.
  45. Hans Michael Heinig, Die Verfassung der Religion, Tübingen 2014, 161, 453.
  46. Vgl. zur Toleranz allgemein: Reinhard Hempelmann, Stichwort „Toleranz“, in: MD 3/2018, 110-114.
  47. Vgl. Stefan Muckel, Das deutsche Staatskirchenrecht als Rahmen für den Auftrag der Kirchen im freiheitlichen Verfassungsstaat, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 48, Münster 2015, 107 (116).
  48. Vgl. Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 32015, 51ff.